Der 2020 Krisenblog

Zweiundzwanzigster Tag

Jetzt haben wir also eine Perspektive, und es wird zur Gewissheit, dass es noch lange dauern wird, bis alles wieder auf Vollbetrieb läuft und wir zurückschauen können auf diese Zeit des Shutdowns. Es ist auch klar, dass es nicht den einen Tag geben wird, an dem wir alle feiern können, sondern eine Reihe von Tagen, in größerem Respektabstand zueinander. Der erste Theaterbesuch? Wohl erst im Herbst. Das erste Fußballmatch mit Publikum? Frühestens im Juli, aber darauf würde ich auch keine Wetten abschließen. Die Rumänienrundreise im Sommer? Das wird nix. Und ein Uni-Seminar mit physischer Präsenz – auch erst im Herbst.
Nicht dass das verwundert, das war zu erwarten. Jetzt wissen es aber auch alle, die sich nicht mit Verlaufskurven und mit epidemiologischen Logiken beschäftigt haben, wenn es denn solche Menschen noch gibt. Und ich nehme an, dass es immer schwieriger wird, das vielen Menschen zu erklären, wenn gleichzeitig die Neuerkrankungen gegen null tendieren. Ich möge mich irren.
Die Menschen, die mit Verve ihre Alternativvorschläge in Anschlag bringen, werden auf den fatalen wirtschaftlichen Schaden hinweisen, den die rigiden Maßnahmen verursacht haben werden. Und Recht werden sie haben. Die Verteidiger*innen der getroffenen Maßnahmen werden hoffentlich nicht nur auf die geretteten Menschenleben hinweisen, sondern auch darauf, dass dieser wirtschaftliche Schaden andernfalls ebenso eingetreten wäre, dann allerdings als Folge einer ungezügelten Pandemie und mit dem Kollateralschaden von tausenden Toten in diesem Land. Daraufhin werden einige darauf hinweisen, dass statistisch gesehen die Zahl der insgesamt Verstorbenen in diesem Jahr in diesem Land kaum bis gar nicht höher wäre, als im Jahr zuvor und im darauffolgenden Jahr.
Und alle werden sie Recht haben, auf ihre Weise.
Ich meinerseits bin bis jetzt zufrieden damit, wie im Großen und Ganzen dieses Land durch diese Krise geführt wird, wie es auch schon unter einer anderen Regierung, das war damals eine SP-geführte große Koalition, ziemlich gut durch die Krise 2008ff geführt worden war. So verkommen und niederträchtig, wie es manchmal erscheinen mag, ist unser demokratisches System denn doch nicht, auch wenn über einiges noch zu reden sein wird.
Und jetzt verspreche ich schon, dass ich morgen wieder einige Schritte zurück machen werde, und mich eines leichteren und distanzierteren Blicks auf die Entwicklungen befleißigen werde.
Für den Herrn Sohn ist das nun eine Gelegenheit, sich mit der Fußballgeschichte zu beschäftigen. Frühere Highlights, denkwürdige Matches, umstrittene Fouls und Elfmeter, denkwürdige Aktionen von großartigen Spielerpersönlichkeiten werden nun auf den Sportplattformen angeboten.
Als Fotos gibt es heute ein Detail des Stamms einer Birke und einen Uferblick. Beides von meinem Freiluftarbeitsplatz aus aufgenommen.
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Einundzwanzigster Tag

Der Regierung gelingt es, uns zu verwirren, während sich die Verlaufskurven im Hintergrund abzuflachen beginnen und uns schwant, dass die nun kommende Wirtschaftskrise opferreich werden könnte. Die schönen Träume, dass die Welt danach eine bessere sein könnte, wirken zu bemüht. Die Meldungen aus Ecuador von Leichen auf den Straßen sind Vorboten erwartbarer weiterer Meldungen aus den weniger glücklichen Ecken des Planeten. Inzwischen werden auch jene lauter, die eine Herdenimmunität erreichen wollen. Sie machen mir tatsächlich etwas Angst, wie viele Menschen wollen sie völlig isolieren, wenn draußen sich das Virus frei verbreitet und alle ihrem Tagwerk öffentlich nachgehen?

 

George Orwell (ja, der!) hat 1945 ein Essay über Nationalismus geschrieben, vor kurzem ist es auf Deutsch erschienen. Unter Nationalismus versteht er ganz allgemein nicht die Verbundenheit mit dem „eigenen“ Land, sondern die gelebte Überzeugung, dieses sei allen überlegen und der Rest der Welt habe sich nach ihm zu richten. Interessant ist, dass er auch andere Formen dieser jeder Überlegung bereits vorgeordneten Entscheidung über Gut und Böse, verzeihlich und unverzeihlich, als Nationalismus bezeichnet – aus Mangel an einem besseren Wort, wie er schreibt. So gehören für ihn auch der politische Katholizismus, der Kommunismus, der Trotzkismus dazu – heute würde er wohl auch noch den politischen Islam und einige andere Varianten dazuzählen. Nationalismus braucht also kein Land, es reicht auch eine Sache. Wesentlich sei die Bereitschaft, sich alles so zurechtzulegen, dass es die Überlegenheit der eigenen Sache bestätige, und die faszinierende Fähigkeit, nicht dazupassende Fakten völlig auszublenden.

 

Ja, ich hab das gestern Abend gelesen. Ein schmaler Text, viele der Argumente nicht unbekannt, in der Kompaktheit doch wieder gut. Und ich habe wieder eine Erklärung für meine leicht allergischen Reaktionen auf manch hingerotzte Erklärungsversuche, das sei jetzt alles ein Ausdruck des spätkapitalistischen Wahnsinns, des Unsinns der Globalisierung, der Überlegenheit Chinas, des Endes der EU oder was auch immer.

 

Der Palmsonntag ist auch schon wieder fast vorbei. Zeit, ein wenig mit Frühlingsfotos zu spielen, während mich als Dauergeräusch das Summen der hunderten Bienen begleitet, die die blühenden Kirschbäume abernten.

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Zwanzigster Tag

Es ist die große Kunst unserer nördlichen Nachbarn, die Sprache durch die Konzentration auf einige wenige Allzweckwörter zu vereinfachen. Weltbekannt ist ihr gelungener Versuch, durch „lecker“ alle Wörter über Geschmacksqualitäten zu ersetzen und durch „laufen“ sämtliche anderen Verben, die verschiedene Arten und Geschwindigkeiten der Fortbewegung zu Fuß bezeichnen. Ein weiteres Powerwort ist die Präposition „an“. Noch nicht ganz so erfolgreich wie „lecker“, aber immerhin: Gewalt wird nicht mehr gegen Personen ausgeübt, sondern „an“ Frauen, Kindern etcetera. Damit werden jene sprachlich gleich noch einmal zu Objekten gemacht. Nun eine Überschrift in der FAZ: „Was ist an Ostern erlaubt?“. Nur mehr wenig. „Gegen“ und „zu“ jedenfalls nicht mehr.

In einer Erzählung des SF-Autors Ted Chiang haben Wissenschafter einen Weg gefunden, um die Fähigkeit des Hirns, zwischen schönen und weniger schönen, ja hässlichen Gesichtern zu unterscheiden, auszuschalten. Nennt sich dort „Callignosie“. Studentische Aktivistinnen und Aktivisten sehen darin die große Chance, eine der Quellen von Diskriminierung trockenzulegen. Sie wollen die „Calli“ an der Uni verpflichtend machen und so einen Sieg gegen den Lookism erringen, also die Ungleichbehandlung aufgrund des Aussehens. Die Wissenschafter in dieser Geschichte meinen, Rassismus könne man „technisch“ leider nicht ausschalten. Da müsse man schon weiterhin auf Erziehung zählen.

Wie man sieht, geht es einfacher, den Lookism zu bekämpfen. Ein Stück Stoff genügt. Burkazwang wäre in Zukunft auch ein Mittel.

Christina hat das Maskentragen bereits vor Monaten in Berlin geübt.

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Neunzehnter Tag

Weil´s grad so um die vermeintliche Wiedergeburt der Staaten geht und darum, dass die EU im Hintergrund bleibt. Es geht ja im Alltag meist vergessen, aber Staaten bestehen aus einem Territorium (dem Staatsgebiet), der Staatsgewalt (Militär, Polizei, Justiz, Regierung etc.) und dem Staatsvolk. Auch wenn die Grenzen des Staatsgebiets im Schengenraum lange nahezu unsichtbar gewesen sein mögen, ändert es nichts daran, dass die Macht, etwas durchzusetzen, nötigenfalls auch gegen Widerstand, ausschließlich bei den Staaten liegt. Die Europäische Union ist eben ein Staatenbund und kein Staat. Sie hat keine eigene Exekutivmacht, kein Heer, keine Polizei, keine Gefängnisse, und eine zwar wichtige Justiz mit dem Europäischen Gerichtshof, die aber weit oben schwebt und nur sehr mittelbar in die Rechtsverhältnisse des Alltags eingreifen kann.

Worüber man sich wundern kann: Dass man in den Zeiten, als alles so seinen gewohnten Lauf nahm, ernsthaft glauben konnte, die Bedeutung der Staaten sei im Verschwinden. Nun muss man zur Kenntnis nehmen, dass dem nicht so ist, und dass die Staaten das tun, wofür sie da sind, nämlich sich um sich selbst und ihre Bevölkerung zu kümmern.

By the way: Ja, die Union als europäischer Bundesstaat wäre mir lieber, aber das spielt es halt nicht. Nicht nur wegen der Egoismen der Mitgliedsstaaten, sondern auch, weil der wirtschaftliche Entwicklungsstand und damit auch die Löhne, das Sozialwesen etc. dermaßen unterschiedlich sind. Im Vergleich dazu sind die USA ein Staat mit nur sehr geringen Unterschieden zwischen ihren Gliedstaaten.

Bleibt zu hoffen, dass die Union nicht schwächer wird in diesem Jahr. In dieser neuen Weltordnung wäre das keine gute Nachricht.

Von der angekündigten Wertschätzung der pflegenden und sozialen Berufe ist wohl wenig zu erwarten. So vermessen die Forderungen der Gewerkschaft bei den Kollektivvertragsverhandlungen der Sozialwirtschaft waren, so bescheiden ist das Ergebnis. Die Fallhöhe ist riesig. So wird es nix mit der „neuen Wertschätzung“ und den sich angeblich verändernden Prioritäten.

Mein Haar wächst, langsam aber sicher. Ob die Beschränkungen so lange dauern werden, dass ich am Ende aussehe wie mit 17 Jahren? Ich bin der Vordere auf dem Bild.

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Der 2020 Krisenblog

Seit dem zweiten Tag des Lockdowns führe ich auf Facebook ein Tagebuch mit Überlegungen nicht nur zur Coronakrise. Für all jene, die nicht bei Facebook sind, gibt es die Beiträge nun auch auf der Website, allerdings ohne die Kommentare, die von den Facebook-Friends beigesteuert wurden. Viel Vergnügen, und Ohren steif halten!

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