Rache — Gedanke und Tat  

  Ein Gespräch mit dem Psychoanalytiker Léon Wurmser  

Rachegefühle sind etwas Alltägliches, doch nichts Harmloses. Es hilft allerdings wenig, sie zu verteufeln. — Helga Hirsch unterhielt sich mit Léon Wurmser. Der in Zürich geborene, seit vier Jahrzehnten in den USA — in Baltimore — tätige Psychotherapeut und Psychoanalytiker ist Autor mehrerer Standardwerke zum Themenkreis Scham, Schuld, Rache, Ressentiment.

 

Über Rache wird aus Scham kaum in unserer Gesellschaft geredet, obwohl das Gefühl jedem bekannt ist. Wie entsteht das Bedürfnis nach Vergeltung?

Schon das sehr kleine Kind entwickelt — wahrscheinlich gegen Ende des zweiten Lebensjahres — ein Urbedürfnis nach Gerechtigkeit, ein Gefühl dafür, dass ein Miteinander der Menschen nur möglich ist, wenn eine Art primitiver ausgleichender Gerechtigkeit herrscht. Vergeltung entspringt also dem archaischen Wunsch, ein subjektiv gestörtes Gleichgewicht wiederherzustellen. Ebenso alt wie das Bedürfnis nach Rache ist aber auch das Bedürfnis, etwas wiedergutzumachen.

Rache schafft aber in der Regel keine Gerechtigkeit, sondern schafft neues Unrecht, weil sie masslos ist.

Das ist richtig. Alle archaischen Gefühle sind total, global. Wenn ein so archaisches Gefühl einen Erwachsenen ergreift, degradiert er seinen Mitmenschen zum verdinglichten Objekt, zum reinen Gegenstand der Wiederherstellung der emotionalen Balance. Diese Wirkung der Rache und des damit eng verbundenen Ressentiments — des Ressentiments als des Gefühls der gestörten Gerechtigkeit — entmenschlicht jeden, der davon betroffen wird. Auch den Täter.

Warum bringt das Rachegefühl den einen Menschen dazu, das Objekt seiner Rache körperlich zu verletzen, unter Umständen zu töten, während ein anderer Mensch sich mit Beschimpfungen oder nur einer Rache in Gedanken begnügt?

Ich glaube, das hat sehr viel mit der Fähigkeit von Menschen zur Symbolisierung zu tun. Menschen variieren enorm in ihrer Differenziertheit, das heisst in ihren Möglichkeiten, etwas konkret emotional zu erleben oder es quasi zu filtern, auf eine höhere, abstrakte Ebene zu heben und durch symbolische Vorgänge zu ersetzen. So rächt sich jemand eben mit Worten statt mit Taten, mit Gedanken statt mit Worten oder auch mit einem jüdischen Witz, das heisst mit einer feinen Selbstironie und gegen das eigene Selbst gerichteten, doch sublimierten Aggression.

  Rache und Ressentiment  

 

Rache trifft aber oft nicht nur den anderen, sondern schlägt nicht selten auf den Täter zurück. Medea beispielsweise will ihren Mann bestrafen, weil er sie verlassen hat. Aber indem sie die gemeinsamen Kinder tötet, um ihm das Liebste zu nehmen, das er besitzt, tötet sie auch einen Teil von sich selbst.

Medea schwankt ganz manifest hin und her zwischen dem Wunsch nach Rache an ihrem Mann und der Liebe und der Bindung an die Kinder. Sie entmenschlicht ihre Kinder total, um sich an Jason zu rächen, indem sie sie ermordet. Aber nach der Entmenschlichung, das heisst Ermordung, bricht die menschliche Seite der Beziehung zum Kind, das heisst die Liebe, wieder durch und fügt ihr Schmerz zu. Und Liebe ruft natürlich das Gewissen hervor. Man fühlt Verantwortung, man fühlt Gewissen aus innerer Bindung an andere. Deswegen wird jede Aggression, die gegen aussen geht, vom Gewissen unverzüglich kritisiert, in Frage gestellt und dann zum Teil auch gegen das eigene Selbst gewendet — als Strafe.

Bei Medea richtet sich die Rache tatsächlich gegen die Person, die ihr die Kränkung zugefügt hat. Aber warum zünden beispielsweise Kosovo- Albaner Häuser von Serben an, die sie gar nicht gekannt haben oder von denen sie nicht wissen, ob diese Serben persönliche Schuld haben?

Bei archaischen, allumfassenden Gefühlen neigen wir stark zu Verallgemeinerungen. Das betrifft nicht nur negative Gefühle wie Rache. In Schillers ´Ode an die Freudeª werden auch Freude und Liebe generalisiert: ´Seid umschlungen, Millionen!ª Dabei gibt es unter diesen Millionen sicher Leute, die nicht umschlungen werden wollen oder sollen. Aber die Wucht des Affektes löscht die Individualität des anderen aus.

Das gilt besonders beim Ressentiment, das Rache zwar umfasst, aber mehr ist als Rache: nämlich das Gefühl eines dauernden Grolls auf Grund eines Unrechts aus der Vergangenheit, das seinerzeit nicht wiedergutgemacht werden konnte und anschliessend wie ein Bazillus wirkt und wie ein Gift weiter und weiter im Menschen nagt. So- bald sich später eine Gelegenheit bietet, schlägt der Ressentiment-Geladene zurück, um die Hilflosigkeit, mit der das Unrecht ursprünglich erlebt worden ist, zu überwinden. Es ist ein weiteres Merkmal des Ressentiments, dass es nicht danach fragt, wer das Unrecht einst zugefügt hat, sondern sich entlädt nach dem Prinzip: ´Mir ist Unrecht geschehen, die ganze Welt, die ganze ethnische Gruppe soll dafür büssen: alle Serben, alle Albaner, alle Juden, alle Deutschen!ª Das Ressentiment wirkt wie eine Lawine. Es greift um sich, zerstört und schafft natürlich neues Unrecht, aus dem wieder Ressentiment erwächst. So geht es weiter und weiter. Die ganze Weltgeschichte ist davon bestimmt.

Das Ausagieren in Worten endet nicht selten in der Propagierung von Ideologien. Kann man sagen, besonders rachsüchtige Menschen seien besonders anfällig für Ideologie und Fanatismus?

Absolut. Ideologien sind eigentlich philosophisch verbrämte Ressentiments. Und Leute, die voll Ressentiments sind, greifen zu einer Ideologie, die ihren Gefühlen ein philosophisches Mäntelchen umhängt.

Wieso aber kommt es, dass ein Bazillus Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte schläft, dann aber plötzlich eine kollektive Raserei verursacht? Warum lässt sich ein Serbe plötzlich von seiner nichtserbischen Frau scheiden, wenn er mit ihr in gutem Einvernehmen gelebt hat, oder warum tötet er vielleicht sogar seinen muslimischen Nachbarn, mit dem er bisher gute Kontakte unterhielt?

Mythen wie die Niederlage der Serben 1389 auf dem Amselfeld werden von Generation zu Generation als eine zentrale Erzählung des Volkes weitergegeben. Aber erst wenn solche Mythen mit neuem Unrecht und neuen ökonomischen Schwierigkeiten verknüpft werden, entwickeln sie eine ungeheure Brisanz. So verweben Volksverführer und Demagogen wie Hitler und Milosevic aktuelle Gefühle von Ungerechtigkeit und Benachteiligung mit alten Mythen, kleiden sie so in überzeitliche Formen und geben sich den Mantel einer geschichtlichen Würde, um die eigenen Ziele der Macht zu erreichen. Ich glaube, erst aus dieser Kombination von alten Mythen mit neuen Unrechtsgefühlen und den Machtwünschen demagogischer Führer erwächst eine vernichtende Sprengkraft. Der Mythos allein genügt nicht.

  Rache und Erleichterung  

 

Warum ist es für ein Volk attraktiver, mit einer Niederlage seine Gruppenidentität zu begründen anstatt mit geschichtlichen Erfolgen?

Wenn man nicht viel anderes hat, greift man auf das Leiden zurück. Denn die mythische Bedeutung des Leidens gehört ganz zentral zum christlichen Selbstbewusstsein. Leiden ist Macht. Leiden ist Würde. Leiden ist Erlösung. Die Schlacht am Amselfeld begründete ja nicht eine nationale, sondern eine christliche Niederlage — und schuf die Begründung für das christliche Märtyrertum gegenüber den muslimischen Türken. Wer seinen Blick dafür geschärft hat, entdeckt überall das Kruzifix als blutiges Sinnbild für Opfertum. Es ist diese mystische Erhöhung des Leidens, die eine Niederlage zum volksbegründenden und zum wertegebenden Mythos werden lässt. Beispielhaft etwa bei Dostojewski — dort wird er ins Panslawische überhöht.

Was nützt Rache den Menschen? Verschafft sie Erleichterung? Und wie sollte eine Gesellschaft mit dem Gefühl umgehen?

Ich glaube, Rache ist der Ausdruck einer ganz grundlegenden menschlichen Notwendigkeit, passiv Erlittenes in aktiv Gehandeltes zu verwandeln. Ich kann es mit einem kleinen persönlichen Erlebnis schildern. Vor einigen Wochen erlebte ich selbst einen Raubüberfall in Madrid. Ich wurde von vier Männern umstellt und meines Portemonnaies beraubt. Und ganz urtümlich rannte ich dem, der mich frontal angegriffen hatte, nach — ich wusste, dass ganz bestimmt die Gefahr besteht, er könnte ein Messer oder eine Schusswaffe haben, es war mir egal. Während in den ersten Tagen nach dem Überfall das Gefühl der Hilflosigkeit, der Passivität, sogar der Scham in mir überwog, änderte sich das innere Gleichgewicht in der Erinnerung fast zu einer Art Stolz, dass ich den Überfall nicht auf mir sitzen liess, so irrational, so unvernünftig, so gefährlich die Verfolgung auch gewesen sein mochte. Das war eine ganz urtümliche Reaktion vom Passiven ins Aktive. Und Rache ist eine Form der Wendung vom Passiven ins Aktive.

So beschrieben erhält Rache sogar etwas Befreiendes. Diskreditiert die Gesellschaft Rache wegen ihres schädigenden Effekts also zu stark?

Wir müssen unterscheiden zwischen Gedanken und Gefühlen einerseits und Handlungen andererseits. Wie es jede Zivilisation in der einen oder anderen Weise erkannt hat, ist Rache etwas für die Gemeinschaft enorm Schädliches und zu Recht ausserordentlich verpönt. Wer in Rache zuschlägt, zerstört jedes Gefüge der Gesellschaft, weil sie entpersönlicht, dehumanisiert und gewöhnlich hundertfach zurückschlägt, wie jetzt wieder die Serben und Albaner. Darum verfolgt eigentlich jede Gesetzgebung das Ziel, die Rache zu ritualisieren und soweit wie möglich einzuschränken. — Wenn es sich aber um Gefühle und Gedanken handelt, so ist es enorm wichtig, dass wir unsere Rachegedanken nicht verurteilen, als ob sie Handlungen wären. Die grosse Grenze in der menschlichen Ethik besteht nicht zwischen Existenz und Nichtexistenz von Rache und Wut oder auch Neid und sexuellen Wünschen und Inzest, sondern zwischen Gedanken, Gefühlen und Phantasien einerseits und der Handlung andererseits. Es gibt im Talmud ein sehr schönes Wort: Gott rechne den bösen Gedanken nicht wie die böse Tat, während es — wenn ich mich nicht täusche — Stellen bei Paulus gibt, wo der böse Gedanke gleichgesetzt wird der bösen Tat. Diese Gleichsetzung ist die Garantie für die Neurose, denn wenn wir schon die Gedanken und die Phantasien total unterdrücken müssen, befinden wir uns in einem ständigen inneren Kampf, der uns lähmt. Die grosse Grenze im Ethischen verläuft zwischen Gedanken und Tat.