Peter Pantucek
In: Hurnaus, Herta / Kerbel, Bernhard / Pantucek, Peter / Paterno, Wolfgang (Hg.)(2003): Haus Meldemannstra§e. Wien, Czernin Verlag.
gekŸrzte Version
Ach Gott, die Meldemannstra§e. Ein Stra§enname fŸr ein Haus: die Meldemannstra§e, das MŠnnerheim in der Brigittenau. Man sah sie, die Bewohner, in den umliegenden WirtshŠusern. Beim ãBluadigenÒ in der Stromstra§e, beim Eckwirt am HšchstŠdtplatz. †berhaupt der HšchstŠdtplatz, das war ein ganz Besonderer. Das Haus des Zentralkomitees der KP… mit seiner schrecklichen Deckenheizung, die einen hei§en Kopf und kalte FŸ§e produzierte Ð aber vielleicht war das ja beabsichtigt. GegenŸber die Niederšsterreichische Molkerei, an der Ecke lange Zeit eine Milchbar, spŠter ein kleiner Supermarkt. Bis in die ausgehenden 1950er-Jahre Ð oder gar lŠnger? Ð lieferten Pferdefuhrwerke die Milchkannen zu den GeschŠften. Eine verblasste Erinnerung. Einzelne Bewohner des Hauses Meldemannstra§e traf man mitunter vor einem Glas Rum beim Wirt. Oder mit einem Doppler auf einer Parkbank. In das Haus selbst ging ich nicht, damals. Fraglich auch, ob ich willkommen gewesen wŠre. Nur wer erkennbar war als heruntergekommener Alkoholiker, wurde dem ãAsylÒ zugeordnet. Vielleicht nahmen auch andere, ganz normal aussehend, dort Quartier. Aber die spielten keine Rolle fŸr das Bild, das ich mir machte, das sich andere machten.
Damals, in den 1970er-Jahren, vernahm ich das GerŸcht, auch Adolf Hitler hŠtte in diesem Haus gewohnt. Es verschaffte mir Befriedigung: der gro§e Bšse des 20. Jahrhunderts als heruntergekommenes Subjekt. Vielleicht auch er beim ãBluadigenÒ mit einem Viertel Rum. So passte alles zusammen.
Passt alles zusammen? Jahrzehnte vergingen, bevor mich das Haus Meldemannstra§e 27 wieder beschŠftigte. In einem Sonderzug von Bratislava nach Wien, nach einem internationalen Kongress fŸr Sozialarbeit. Auf den Sitzen neben mir SozialarbeiterInnen, die mir erzŠhlten, das Haus solle geschlossen werden. Die Meldemannstra§e geschlossen? Mein erster Gedanke: die letzte Gelegenheit, dem GebŠude seine Geheimnisse zu entlocken. Eine Gruppe von StudentInnen, so dachte ich, sollte ins Haus gehen und sichern, was zu sichern ist. Alles dokumentieren, alles besichtigen, mit allen sprechen. So wŸrde ein umfassendes Bild der Legende Meldemannstra§e entstehen.
Es kann vorweggenommen werden: Diese Mission musste scheitern, denn Legenden sind in den Kšpfen, nicht in GebŠuden. Und um in einem GebŠude die Legende zu finden, muss sie zuerst im Kopf sein. Im Kopf der Studentinnen und Studenten war sie nicht. Fast alle erst kurz dem Gymnasium entwachsen, verbanden sie mit ãMeldemannstra§eÒ schlicht nichts. Sie konnten meine hektische Begeisterung nicht teilen und verhandelten nŸchtern Ÿber FahrtkostenersŠtze. FŸr eine Generation, die am Beginn des 21. Jahrhunderts Sozialarbeit studiert, ist das Haus eines wie viele andere auch. Trotzdem durchstšberten sie die RŠume, interviewten Bewohner und Personal, fotografierten und recherchierten. Nach ihnen sollten noch andere kommen: JournalistInnen und Theaterleute wollten vor dem absehbaren Ende noch einmal das Geheimnis des Hauses erkunden, ein Geheimnis, das vielleicht gar nicht existiert.
Die Meldemannstra§e 27 ist ein Haus des 20. Jahrhunderts: an seinem Beginn entstanden, mit dessen Ende auch zu einem Ende gekommen. Verbunden mit der Geschichte dieses Jahrhunderts Ð und trotzdem seltsam unberŸhrt davon Ð prŠsentierte es sich 2000 kaum verŠndert.
Den hundertsten Geburtstag wird das Haus nicht mehr erleben, zumindest nicht in seiner bisherigen Funktion. Es wird abgerissen, umgebaut, anders genutzt É noch scheint das nicht klar. †ber das Umfeld, in das 1905 das MŠnnerheim gebaut wurde, kšnnen wir in den Sozialreportagen von Max Winter lesen.
EindrŸcklich die Schilderungen des Elends vieler Menschen in der Hauptstadt der Monarchie, der Kaiserstadt Wien: ungezŠhlte Obdachlose, die in Kellern, Schuppen, im Kanalsystem hausten, 80.000 Bettgeher, an die proletarische Familien die SchlafstŠtten in ihren ohnehin kleinen und kleinsten Wohnungen untervermieteten. Geschlafen wurde in Schichten. In der Literatur finden sich Andeutungen Ÿber das ãmoralische und hygienische ProblemÒ der Bettgeherei, der Klassiker der Wiener Pornoliteratur Ð ãJosefine MutzenbacherÒ Ð beschšnigt deren sittliche Seite: Der Bettgeher hatte ein VerhŠltnis mit der Mutter und vergriff sich auch an der kleinen Josefine.
FŸr die Bett-Mitbenutzung waren 2 1/2 Kronen pro Woche zu bezahlen, der ortsŸbliche Verdienst eines Hilfsarbeiters betrug etwas Ÿber 16 Kronen[1]. Mehr als 15 Prozent des Einkommens, so wurde gerechnet, kšnne man fŸr die Unterkunft nicht aufbringen. Die ma§geblich vom Wiener jŸdischen BŸrgertum getragene Kaiser Franz Josef I. JubilŠums-Stiftung fŸr Volkswohnungen und Wohlfahrts-Einrichtungen entschloss sich, eine neue Art von LogierhŠusern nach dem Vorbild der englischen Rowton-HŠuser zu bauen. Diese unterschieden sich von konventionellen LogierhŠusern dadurch, dass Tag- und SchlafrŠume getrennt waren, zwei Meter hohe WŠnde teilten die SchlafsŠle in Kojen Ð so wurde ein wenig IntimitŠt gesichert und gleichzeitig die Zirkulation der Luft im ganzen Saal als Ventilation genŸtzt. Mindestens 500 Schlafstellen musste ein Haus haben, um rentabel betrieben werden zu kšnnen. Die Rowton-HŠuser und das nach ihrem Vorbild errichtete Haus Meldemannstra§e sollten sich also selbst erhalten.
Die Initiatoren kalkulierten nŸchtern: Mehr als 2 1/2 Kronen durfte die Schlafstelle nicht kosten, damit die Zielgruppe Ð als ãWorking PoorÒ wŸrden wir sie heute bezeichnen Ð sie sich leisten konnte. Die Architekten Leopold Ramsauer und Otto Richter gewannen den Wettbewerb und wurden mit der Planung beauftragt. Die šffentliche Aufmerksamkeit fŸr das Projekt war gro§, die Situierung im ãaufstrebendenÒ 20. Bezirk gŸnstig: mitten in einem proletarischen Bezirk, trotzdem in der NŠhe des Stadtzentrums. Stra§enbahn, Dampftramway und Stellwagen[2] hielten in unmittelbarer NŠhe.
Am 15. Oktober 1905 wurde das MŠnnerheim in der Meldemannstra§e ohne Festlichkeiten eršffnet. Im November des gleichen Jahres stand hoher Besuch ins Haus: Der Kaiser erwies dem Heim fŸr obdachlose MŠnner ohne vorherige Anmeldung seine Ehre und lobte die Unterbringung der Insassen.
†berlegungen hinsichtlich einer eventuellen †berwachung scheinen beim Bau keine nennenswerte Rolle gespielt zu haben. Die Baubeschreibung konzentriert sich auf Fragen der Wirtschaftlichkeit und der BedŸrfnisse der Bewohner, nicht aber jener des Personals. Die Bauherren dŸrften davon ausgegangen sein, dass die kŸnftigen Bewohner sehr wohl fŸr sich selbst sorgen bzw. einander gegenseitig kontrollieren kšnnten. Die GemeinschaftsrŠume boten denn auch fŸr die damalige Zeit hohen Komfort, selbst eine Bibliothek war eingeplant und wurde auch rege genŸtzt.
All die Not ringsum, da war das neue MŠnnerheim ein kleines Wunder, ein wahrlich guter Platz zum Logieren. Ein Bett, das man nicht teilen musste, flie§endes Wasser, AufenthaltsrŠume, elektrisches Licht, eine Bibliothek Ð und das alles zum Preis eines Teilzeitbetts in einer ŸberfŸllten Wohnung. 544 SchlafplŠtze, fŸr jeden Bewohner mindestens vier Quadratmeter FlŠche[3] und zwšlf Kubikmeter Luftraum. Die Luftzirkulation wurde dadurch gefšrdert, dass die KojenwŠnde nur zwei Meter hoch waren und nicht bis zum Fu§boden reichten. Solide gebaut, dauerhafte Materialien: Bauherr und Architekten hatten sich etwas gedacht, und das Haus war alles andere denn ein Symbol fŸr die Missachtung der niederen Klassen durch die Gesellschaft. Dazu sollte es erst viel spŠter werden.
Welchen Eindruck das MŠnnerheim Brigittenau bei der armen Bevšlkerung machte, beschreibt der Journalist und Schriftsteller Emil KlŠger:
ãEs war im vorigen Winter, da wurde es Ÿberall in den Elendsquartieren erzŠhlt: Ein MŠrchen von einer himmlischen Unterkunft auf Erden. In den Suppen- und Teeanstalten, den Klubs der Unterstandslosen, raunte man sich Geschichten zu von dem neuen ,MŠnnerheimÔ in der Meldemannstra§e in der Brigittenau, berichtete aufgeregt von seinen Wundern an Eleganz und Billigkeit. Da beschlo§ ich, es auch eine Nacht dort zu versuchen. Ich legte mir also das KostŸm eines armen Teufels zurecht, markierte die Abgerissenheit mšglichst auffŠllig und wanderte dann abends durch die Brigittenau. [É] Einige Minuten spŠter stand ich vor dem MŠnnerheim.Ò[4]
Hier wohnten also Elende, aber sie wohnten vergleichsweise gut. Und ein Gro§teil von ihnen dŸrfte Arbeit gehabt haben. Laut Statistik[5] setzten sich die Bewohner des MŠnnerwohnheims im Jahr 1910 zu rund 40 Prozent aus gewerblichen Arbeitern (Gehilfen), zu 26 Prozent aus Hilfsarbeitern, weiters Handelsgehilfen, Kutschern, GeschŠftsdienern etc. zusammen. 85 Prozent der MŠnner waren ledig, ihrer konfessionellen Zugehšrigkeit nach mehr als 80 Prozent katholisch und 9 Prozent israelitisch.
In dieser Statistik ist auch schon Herr Adolf Hitler enthalten, der im Februar 1910 zugezogen war und bis Mai 1913 in der Meldemannstra§e bleiben sollte. Eine so lange Aufenthaltsdauer stellte die Ausnahme dar: Die durchschnittliche Verweildauer der SchlafgŠste 1910 betrug 37 Tage. 15.279 Fu§bŠder wurden in einem Jahr verabreicht, 5144 BrausebŠder. Diese Zahlen sind nicht besonders eindrucksvoll. Der zugegebenerma§en fiktive durchschnittliche Bewohner hat sich also kaum einmal im Monat geduscht und etwa alle zehn Tage ein Fu§bad genommen. Wahrscheinlich war auch damals der Geruch im Heim eher streng.
Nach den guten Erfahrungen mit dem MŠnnerheim Brigittenau baute die Stiftung ein noch grš§eres Haus in der Wurlitzergasse in Hernals, dem 17. Wiener Gemeindebezirk. Die Absicht, noch weitere Heime zu errichten, war allerdings nicht mehr umzusetzen.
Was geschah im Haus zwischen 1938 und 1945? Bei unseren Recherchen konnte uns erst niemand Auskunft geben. Allerlei Phantasien entsprangen der †berlegung, wie wohl Adolf Hitler mit seiner Vergangenheit umgegangen war. Hatten die Aktionen gegen so genannte Asoziale auch ãseinÒ MŠnnerheim zum Ziel? Die Antwort, die Herwig Czech vom Dokumentationsarchiv des …sterreichischen Widerstandes schlie§lich fand, war enttŠuschend Ð beinahe plakativ wŠre es gewesen, wŠre SpektakulŠres mit dem Heim und seinen Bewohnern passiert. Ist aber nicht. SpŠtestens 1937, jedenfalls bereits vor der MachtŸbernahme durch die Nationalsozialisten, war das inzwischen ins Eigentum der Stadt Wien Ÿbergegangene Haus in ein so genanntes Versorgungshaus umgewandelt worden. 1940/41 benannte man es in ãWiener stŠdtisches Altersheim ZwischenbrŸckenÒ um, Obdachlose waren also nicht lŠnger hier untergebracht. Eine langsame RŸckwidmung lŠsst ein Dokument vom 1. Juli 1945 erkennen: Von den damals 480 Betten waren 236 belegt und 244 frei. Na ja, ganz frei denn doch nicht: Das Obdachlosenheim ãAsyl GŠnsbachergasseÒ hatte bereits 136 von ihnen in Beschlag genommen.
Aus der Meldemannstra§e wurden die Wohnungslosen zwar nicht geholt. Mit anderen unter dem Begriff ãAsozialeÒ Subsummierten stellten sie aber das Ziel nationalsozialistischer Zwangs- und Vernichtungspolitik dar. Neben den Obdachlosen erfassten NSDAP, Polizei, Arbeits-, Wohlfahrts- und GesundheitsŠmter SozialhilfeempfŠngerInnen, BettlerInnen, so genannte Arbeitsscheue, AlkoholikerInnen sowie Prostituierte und bildeten eine ãAsozialenkommissionÒ, die Einweisungen in Arbeitslager verfŸgte. Die Wiener Gemeindeverwaltung betrieb die Errichtung eines ãArbeitserziehungslagersÒ fŸr MŠnner, das 1941 in Oberlanzendorf eršffnet und von der SS gefŸhrt wurde. Bis zu 2000 HŠftlinge fasste das Lager, der Alltag dort unterschied sich kaum von jenem in einem Konzentrationslager Ð nach wenigen Wochen EinschŸchterung wurden die HŠftlinge allerdings wieder freigelassen und sollten von der FŸrsorgerin in den Arbeitsprozess eingegliedert werden. SprengelfŸrsorgerin und Arbeitsamt beobachteten das Wohlverhalten, die Gestapo zeichnete fŸr die aktiveren Formen der ãNachkontrolleÒ verantwortlich: Jene, die ãrŸckfŠlligÒ wurden, verbrachte man in ein Konzentrationslager und kennzeichnete sie mit dem schwarzen Winkel als asozial.[6] Auch Roma und Sinti fielen lange Zeit in diese Kategorie. FŸr die Nazis verband sie mit den ãNichtsesshaftenÒ das unstete Leben. In der Hierarchie der Lager standen die MŠnner und Frauen mit dem schwarzen Winkel ganz unten, isoliert, oft auch verachtet von Aufsehern und den ãPolitischenÒ. Nach dem Krieg wurden die meisten von ihnen nicht als Opfer des NS-Regimes anerkannt. Asoziale waren auch in der neu entstandenen Demokratie nicht gern gesehen, mehr als die nštigste Versorgung lie§ man ihnen nicht zukommen.
In der Zweiten Republik wurde das Haus Meldemannstra§e 27 wieder seiner ursprŸnglichen Bestimmung Ÿbergeben Ð und eine lange Phase von Ruhe und Nichtbeachtung begann. Nicht das Sozialamt, sondern die WohnhŠuserverwaltung verfŸgte seit den 1970er-Jahren Ÿber das GebŠude, bauliche VerŠnderungen gab es kaum. WŠhrend der Wohnstandard in Wien sich stetig verbesserte, blieb hier alles auf dem Stand von 1905. Aus dem Musterheim wurde eine immer elendere Behausung. Ein Asyl im schlechten Sinne, gefŸhrt von ãAufsehernÒ.
…ffentliche Aufmerksamkeit fŸr das Haus? Aber nein. Das sozialdemokratische Wien schenkte den wohnungslosen MŠnnern lange Zeit wenig Beachtung. Die Meldemannstra§e war vergessen, baulich und organisatorisch nahezu unverŠndert durch Jahrzehnte schien sich niemand fŸr die Bewohner zu interessieren, sieht man einmal von einigen japanischen Touristen ab, die Hitlers Wiener Domizil sehen wollten. In den letzten Jahren hat sich das geŠndert. Die AnkŸndigung von Absiedlung und Sperre des Hauses fachte das Interesse an. Zeitungsberichte, ein Theaterprojekt und eine ãAlltagsgeschichteÒ von Elisabeth Spira im Fernsehen befassten sich mit dem MŠnnerheim: Nun doch ein Zeichen dafŸr, dass die Legende Meldemannstra§e noch lebendig ist.
Gro§zŸgig war das VestibŸl einst, spŠter ein wenig verkleinert durch den Einbau einer Portiersloge. Kommt man heute in das Haus Meldemannstra§e 27, durchschreitet man den Eingangsbereich und gelangt in den Speisesaal. Ein einsamer Fernseh-Apparat auf einem Bord findet wenig Beachtung. Dahinter der gerŠumige Aufenthaltsraum, der schšnste Platz im GebŠude: in den gro§en Garten gebaut, drei Seiten des Raumes mit ungehindertem Blick auf Wiesen und alte BŠume.
Die Obergescho§e beherbergen die SchlafrŠume Ð und im
Unterschied zur Gro§zŸgigkeit des Parterres wird es hier eng, sehr eng.
Vor Beginn der Absiedlung, im Jahr
2002, stehen 141 Bewohnern der Meldemannstra§e Kabinen mit einer FlŠche von
jeweils 3,5 Quadratmetern als Schlaf- respektive RŸckzugsmšglichkeit zur
VerfŸgung. Die ZwischenwŠnde gewŠhren zwar im Wesentlichen Sichtschutz zum
Nebenbewohner, aber da sie nicht bis zum Boden reichen und auch nicht bis zur
Decke, kann aus der Nachbarkabine schon einmal eine unappetitliche FlŸssigkeit
in die eigene Kabine rinnen. Zur Grundausstattung dieses bescheidenen
Lebensraumes gehšren ein Bett, ein NachtkŠstchen und ein Wandbord aus Metall.
Steckdosen gibt es keine, ein Lichtschalter befindet sich aber in jeder Kabine
Ð wenn auch der Strom um etwa 22 Uhr zentral abgedreht wird. Im Sommer zahlt
man fŸr eine Kabine dieser Art 6,18 Euro pro Woche, im Winter 11,78 Euro,
zuzŸglich einer einmaligen SchlŸsselkaution von 29,07 Euro fŸr den Kabinen- und
HaustorschlŸssel.
205 Einzelzimmer mit je 6,5 bis 7 Quadratmetern bieten den Bewohnern neben dem vorgegebenen Mobilar Ð Bett, Tisch, Sessel, Kasten aus Holz oder Metall, Steckdose und Lichtschalter Ð Raum, ihre eigenen Wohnvorstellungen umzusetzen. Der Preis fŸr IndividualitŠt, im Sommer 7,28 Euro pro Woche, im Winter 12,86 Euro, ist Ð abgesehen von den rund 1,09 Euro an Mehrkosten Ð an bestimmte Voraussetzungen geknŸpft, wie gruppenfŠhiges Benehmen, Sauberkeit und Ordnung in der kleinen Kabine sowie gute Zahlungsmoral. Dem Umzug muss das Personal zustimmen.
Zimmerbesuch ist unter den
geschilderten UmstŠnden natŸrlich nicht mšglich. Wenn sich denn eine
Sexualpartnerin finden sollte, mŸssen die Bewohner andere PlŠtze fŸr ein
Zusammensein suchen. Manche Kabinen sind liebevoll gestaltet: Poster, Puppen,
Diskokugeln, Deckerln und Nippesfiguren, auf kleinstem Raum untergebracht.
Persšnliche GegenstŠnde, ErinnerungsstŸcke, leere Flaschen. Dichte Arrangements
des Willens zur IndividualitŠt, Bonsai-Versionen von Gemeindewohnungen.
Neben den Kabinen und
Einzelzimmern verfŸgt das MŠnnerheim auch Ÿber fŸnf unterschiedlich gro§e
MehrbettrŠume mit insgesamt 25 Betten, die nun als Notquartiere genutzt werden.
Sofern Platz in solch einem Quartier vorhanden ist, stehen einem
Unterkunftsuchenden ein Bett und ein nicht versperrbares NachtkŠstchen zur
VerfŸgung, gegen Kaution kommt man zu einem Spind mit Schloss. Namensschilder
ordnen die Betten den Personen zu. Ein Teil der Notbetten war und ist fŸr
Konsumenten illegaler Drogen reserviert.
Die Mieter der Einzelzimmer
benŸtzen die gemeinschaftlichen TeekŸchen (zwei Herde fŸr 43 Personen) und zwei
grš§ere KŸchen im 3. wie 4. Stock (je ein Herd fŸr 11 bzw. 13 Personen), die Bewohner
der Kabinen sowie die ãNŠchtigerÒ die gro§e KŸche im Erdgeschoss. FŸr die
Aufbewahrung von Lebensmitteln findet man versperrbare KŸhlschrankfŠcher im
Erdgescho§, im 4. und im 5. Stock.
Der Keller des Hauses dient unter anderem der Aufbewahrung so genannter Effekten, Habseligkeiten der Bewohner, die sie nicht in ihre Kabine mitnehmen kšnnen oder wollen. Hier finden sich auch die WaschkŸche und das Kleidermagazin fŸr eine Bekleidungsausgabe im Notfall.
†ber die Bilder im Kopf zu sprechen, ist nicht leicht. Am ehesten gelingt es noch, wenn man sich mit den Wšrtern beschŠftigt, die Bilder evozieren.
Da sind einmal die Bezeichnungen fŸr das Haus selbst: Asyl, MŠnnerheim, Herberge, zuletzt ganz einfach Haus. In den frŸhesten Texten hie§ das Haus MŠnnerheim[7], manchmal auch Ledigenheim. Heim, das ist ein schillernder Begriff. Positiv besetzt, wenn man an sein eigenes Heim denkt: Heim als Synonym fŸr Geborgenheit, Zu-Hause-Sein. Andererseits: das Heim als Schreckgespenst fŸr schlimme Kinder, das Altersheim eine grausige Vision, das MŠnnerheim eine Endstation der anderen Art. In der Alltagssprache hat auch Asyl keinen guten Klang. Die Angst vor UnterkŸnften, die die Gesellschaft jenen bereitstellt, denen es in der freien Wildbahn nicht zu Ÿberleben gelingt. Gedanken Ÿber entwŸrdigende Situationen. Man geht nicht freiwillig dorthin, das Leben zwingt einen dazu, oder auch andere Menschen. Erving Goffmans berŸhmte Studie Ÿber Asyle beschreibt die RealitŠt totaler Institutionen, die ihre Insassen vom normalen Leben eines selbstbestimmten BŸrgers abschneiden, ihm klar machen, dass er nicht mehr zur ãAu§enweltÒ gehšrt, sondern nun in eine separate Welt mit eigenen Regeln eingetreten ist. Eine Institution, die bestrebt ist, das gesamte Alltagsleben zu bestimmen. Goffman schreibt vom MilitŠr, von psychiatrischen Anstalten, von entwŸrdigenden und radikalen Aufnahmeritualen. Diese Bilder tauchen auf, wenn, euphemistisch, von ãHeimenÒ die Rede ist.
Ledige, auch das ein irrlichterner Begriff, der blo§ auf den ersten Blick den Familienstand bezeichnet, auf den zweiten Blick aber ein zumindest vorlŠufiges Scheitern markiert: keine Partnerin, keine Kinder, auf sich alleine gestellt. Heiraten zu kšnnen war fŸr die unteren Klassen nicht immer so selbstverstŠndlich, wie es das im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert ist, aber auch heute schaffen es so manche nicht, sich stabile Beziehungen aufzubauen. Ledig und kein Geld Ð das lŠsst die Hoffnung sinken, dieser Zustand kšnnte sich jemals Šndern.
Die Wohnungslosen selbst, vor allem die mŠnnlichen, sind in Europas StŠdten markante Figuren. Einigen von ihnen gelingt es eine Zeitlang die Standards stŠdtischer UnauffŠlligkeit einzuhalten. Da die Toleranz hier relativ hoch ist, nimmt man ein sonderbares €u§eres weniger wahr. FrŸher oder spŠter sind allerdings die Grenzen der Duldsamkeit Ÿberschritten, das Erscheinungsbild nŠhert sich dem, was NormalbŸrgerInnen mit Sandlern assoziieren: abgerissene Kleidung, vollgefŸllte PlastiksŠcke, verfilztes Haar, strenger Geruch, vielleicht auch noch vermischt mit Alkoholdunst É das Bild jener, die tatsŠchlich ãauf der Stra§eÒ wohnen. Und das Bild entspricht ihrer Lebensweise, den harten Lebensbedingungen auf der stŠndigen Suche nach einer Schlafmšglichkeit. Alles, was man hat, muss man stŠndig mit sich tragen. Waschgelegenheiten sind nicht leicht zu finden. Vielleicht fehlt auch bereits der Antrieb, sich noch zu pflegen.
MŠnnliche Wohnungslosigkeit steht oft am Ende einer TŠterkarriere: Hilflose GewalttŠtigkeit in der Familie angesichts der eigenen UnfŠhigkeit, Beziehungen zu leben und akzeptabel zu gestalten, fŸhrt zur Wegweisung aus der familiŠren Wohnung, zu Scheidung und damit zum Verlust der Unterkunft. Die scheinbar mŠchtigen Herren verlieren den Schein der Angepasstheit, den eine Familie immer noch gewŠhrt. Und so finden sich in den HŠusern der Wohnungslosenhilfe Personen, die nun als Opfer, davor allerdings als TŠter wahrgenommen wurden Ð sich vielleicht sogar selbst bis zum entscheidenden letzten Bruch in ihrer Biografie als solche wahrgenommen haben É Eine Herausforderung ist das fŸr unsere Neigung, fein sŠuberlich zwischen TŠtern und Opfern zu unterscheiden Ð eine Unterscheidung, die Ÿbrigens auch die Betroffenen selbst zu treffen versuchen und die ihr Leben nicht leichter macht.
Auch von der anderen, der gesellschaftskritischen Seite wird ein Symbol, wie es dieses Haus darstellt, gern Ÿberladen: ãUnser Gesellschaftssystem jedenfalls versteckt in solchen Asylen mit Erfolg seine Kehrseite, die es nicht wahrhaben willÒ, formulierte es Gerhard Roth in einer Preisrede, und er meinte es wohl nicht so, wie es gelesen werden kann: als Bild fŸr die Verwerflichkeit eines Gesellschaftssystems.
Individualisierung, so Matthias Horx, sei der ãMegatrendÒ, sei das, was den so genannten Westen eigentlich ausmache Ð und wer wollte dem widersprechen? Dieses Diktum evoziert Gegenbilder des Fundamentalismus: uniforme Kleidungsvorschriften, rigid exekutierte Moralvorstellungen; ein Leben fŸr alle, mit Betonung auf ein. SolidaritŠt findet sich auch in diesen Gesellschaften nicht Ð oder sie ist bedingungslos an Konformismus und Selbstunterwerfung des Einzelnen gebunden.
Die wohnungslosen MŠnner haben die Individualisierung vorweggenommen. Sie sind daran gescheitert, und sie scheitern noch immer. Sie waren und sind nicht fŠhig, sich in die Gesellschaft einzuordnen, deren Minimalforderungen fŸr ein ãgelungenes LebenÒ zu erfŸllen.
Wohnungslosigkeit ist nicht der einzige Grund, ausgeschlossen zu werden. In der Gesellschaft funktionieren Teilhabe und Lebenssicherung heute auf abstraktem Niveau. Nicht mehr die GemŸsebeete vor der HaustŸr sichern die Existenz, sondern Symbole anderer, weniger konkreter Art: Papiere und so genannte ãCardsÒ Ð Personalausweise, Meldezettel, Bankomat-, Kredit-, Sozialversicherungskarte etc. Ð markieren die Mšglichkeit, an den Austauschprozessen der Gesellschaft der zweiten, der reflexiven Moderne[8] teilzunehmen. Jedes Papier, das fehlt, jede Karte, die nicht mehr funktioniert, zeigt den Ausschluss, die Exklusion. Die Lebenswelt wird kleiner, die Mšglichkeiten werden geringer.
Immer noch ist diese Gesellschaft eine mŠnnliche. Bilder von erfolgreicher MŠnnlichkeit sind unverŠndert attraktiv. MŠnnlichkeit erweist sich im Erfolgsstreben, im selbstbewussten Auftreten, in EigenstŠndigkeit. Die MŠnner im MŠnnerheim stehen als groteskes Gegenbild zur MŠnnlichkeit. Sie sind die andere Seite, die notwendige ErgŠnzung zum erfolgreichen Manager im BMW. Auch sie versuchten und versuchen, mŠnnlich zu sein. Gescheitert, weil die Sieger auch Verlierer brauchen. Was wŠre es denn fŸr ein Sieg, wenn niemand besiegt wŸrde? Was bleibt, sind machistische SprŸche und ein derber Umgangston, in einer nahezu ausschlie§lich mŠnnlichen Welt wie dem MŠnnerheim gedeihend wie in einem Treibhaus. Karikaturen von MŠnnlichkeit: starke SprŸche Ÿber Frauen, auch wenn keine Frau mehr da ist; hinter der rauen Schale všllig unrealistische BedŸrfnisse nach Geborgenheit. Auf sich alleine gestellt, erweist sich mŠnnliche Sozialisation als Nachteil: Viele haben nicht einmal die einfachsten Techniken der Selbstversorgung gelernt, kšnnen nicht kochen, auf ihr €u§eres achten, sich um ihre Sachen kŸmmern.[9]
In Europa ist die Mehrzahl der wohnungslosen MŠnner sozial isoliert. Sieben von zehn sind alleine, waren nie verheiratet. Die UnfŠhigkeit (oder mangelnde Gelegenheit), stabile Beziehungen aufzubauen, markiert den Weg in die soziale Exklusion.[10] Heime fŸr wohnungslose MŠnner sind also tatsŠchlich Ledigenheime Ð und Heime fŸr geschiedene MŠnner.
Die meisten haben frŸher nicht in einer eigenen Wohnung, sondern bei Verwandten, FreundInnen oder PartnerInnen gewohnt.[11] Und dann hat die Geduld der ãImportant OthersÒ ein Ende, zerbrechen Beziehungen, ist eigenes Geld nicht ausreichend vorhanden, das soziale Kapital aufgebraucht.
Isolation fŸhrt in die Wohnungslosigkeit, und Wohnungslosigkeit fŸhrt in die Isolation. Verwandten und Bekannten, von denen man sich meist ohnehin im Konflikt getrennt hat, will man so nicht wieder unter die Augen treten. ãWenn ich wieder eine eigene Wohnung habe, dann melde ich mich auch wieder bei meinen ElternÒ[12], so ein Obdachloser.
Was bleibt, ist die Erinnerung an eine bewegte Lebensgeschichte. Oft die Geschichte gro§er GefŸhle Ð oder ins Gro§e aufgeblŠhter kleiner GefŸhle. Geschichten von Missbrauch, von ZurŸckweisung durch die Eltern, von Heimen, Pflegeeltern, GefŠngnissen, zahlreichen AbbrŸchen. Geschichten der Verzweiflung. Manchmal aber auch Geschichten, die auf den ersten Blick keine ErklŠrung fŸr das spŠtere Scheitern zu bieten scheinen, und doch: BrŸche auch hier.
Ergebnis all der manchmal spektakulŠren Taten und Ereignisse: eine Lebensweise, fŸr deren Charakterisierung uns Au§enstehenden im gŸnstigsten Fall ein Wort wie ãtristÒ einfŠllt. FŸr viele ist es ein Alltag, den sie in einer Abfolge von BetŠubung und Suche nach BetŠubung verbringen. Die anderen, die Fitteren, versuchen WŸrde zu bewahren.
Das Haus Meldemannstra§e ist ein MŠnnerheim. Ein Heim von MŠnnlichkeit, es zeigt MŠnner, radikal auf sich selbst zurŸckgeworfen. Dass sie keine Role-Models sind, wissen sie, natŸrlich. Dass sie allerdings selbst bescheidenere ãIndividualitŠtsformenÒ nicht mehr erreichen konnten, nicht ãHacklerÒ, nicht ãFamilienvaterÒ, ist eine KrŠnkung.
Im Heim finden sich viele Formen menschlichen Verhaltens: SolidaritŠt, Konkurrenz, Streit, Intrige. Der radikale Ausschluss von Frauen Ð wie in MŠnnerbŸnden. Eine ganz normale MŠnnergesellschaft. Nein, da gibt es doch wesentliche Unterschiede. Was fehlt, sind anspruchsvollere Formen der Organisation und Selbstorganisation, was fehlt, ist auch ein ãSinnÒ. Das Zusammenleben verfolgt keinen hšheren Zweck, dient nicht Gott, Volk oder Vaterland. Die mehreren hundert Bewohner des Hauses schlie§en sich nicht zusammen, es gibt keine ãGewerkschaftÒ, keine Mitbestimmungsformen. Sie sind als Individuen atomisiert, durch nichts verbunden. FŸr sie kann legitimiert niemand sprechen. Jeder spricht nur fŸr sich, wenn er nicht auch das schon verlernt, aufgegeben hat.
Jetzt, am Ende der Geschichte dieses Hauses, wurden einige der Bewohner šffentlich wahrnehmbar.
Da war zum Beispiel ãder HirschÒ, Peter Aigner. In der Theaterproduktion ãMein KampfÒ beeindruckte er als einer der Laien-Hauptdarsteller Publikum und Kritik. Einige der abenteuerlich-derben ErzŠhlungen aus seinem Leben bildeten die Grundlage ergŠnzender Szenen. Er habe seine WŸrde Ð so der Schlosser, Vater von fŸnf Kindern Ð nie anders zu verteidigen gelernt als durch wildes Um-sich-Schlagen. Seine Alkoholkrankheit hatte es auch nicht leichter gemacht, das Leben zu bewŠltigen Ð das MŠnnerheim war die letzte Station seines Daseins. Am Abend der letzten Vorstellung starb er.
Einige MŠnner erzŠhlten Elisabeth Spira fŸr die Sendung ãAlltagsgeschichtenÒ ihre Leben. Viele andere allerdings blieben von šffentlicher Aufmerksamkeit verschont und hŠtten auf eine solche wohl auch keinen Wert gelegt.
LebenserzŠhlungen vereinzelter Menschen, die in ihren eigenen Augen gescheitert sind, mŸssen dieses Scheitern reflektieren und kommentieren. Am Beginn ihrer Karriere waren die spŠter Wohnungslosen schlie§lich meist Menschen, die mit der gro§en Mehrheit der Bevšlkerung Ziele, TrŠume, Normen teilten Ð und viele tun das noch immer. Vorerst waren sie keine Rebellen, sondern versuchten sich unter widrigen UmstŠnden zu behaupten Ð unter sehr widrigen UmstŠnden, die besonderer Kraft und au§erordentlicher FŠhigkeiten bedurft hŠtten, um sich ihnen zum Trotz durchzusetzen. Kraft, die nicht da war oder unglŸcklich eingesetzt wurde.
Die Schuld an einer solchen Karriere alleine sich selbst zu geben, wŸrde zu Verzweiflung fŸhren. Das soziale Milieu eines Hauses wie der Meldemannstra§e ist keines, mit dem man sich im positiven Sinne identifizieren kann, es produziert keine stolze subkulturelle IdentitŠt, die anzunehmen und trotzig zu verteidigen ist. Der subjektive Ausweg erschlie§t sich in den erzŠhlten Lebensgeschichten der Bewohner, die vor allem OpfererzŠhlungen mit einer ãBillard-Ball-KonzeptionÒ sind[13]: Sie beschreiben sich als im Laufe ihres Lebens hilflos Getriebene, sie spielen die eigene Verantwortung herunter, verniedlichen sie. Schwach seien sie, wie alle Menschen, die nicht zu den Bšsen gehšren. In der Selbstbeschreibung als Opfer liegen unbestreitbare Vorteile: Als Ÿberpersšnlicher Typus evoziert die OpfererzŠhlung Mitleid, entschuldet den ErzŠhler und beschuldigt andere: Eltern, ErzieherInnen, die Ex-Partnerin, Behšrden. Ihre StŠrke besteht auch darin, dass sie in der Regel nicht všllig aus der Luft gegriffen ist, dass sie Ÿber hinreichende, auch nachprŸfbare BezŸge zur vergangenen Lebenswirklichkeit verfŸgt. Gleichzeitig prolongiert sie den Opferstatus: Durch die systematische Ausblendung der eigenen Verantwortung verneint die OpfererzŠhlung positive Mšglichkeiten der Lebensgestaltung. Sie ist nicht motivierend, bleibt defensiv.
Eingeschlossen in die ãBillard-Ball-KonzeptionÒ der Lebensgeschichte sind manchmal rituelle Bekenntnisse eigener Schuld, auch sie mit resignativem Unterton. Alles lŠuft auf die derzeitige Situation als Hšhepunkt (oder Tiefpunkt, ganz wie man will), als logisches Resultat einer Lebensgeschichte hinaus. Die Gegenwart kann sich nicht aus sich selbst heraus erklŠren, sie hat fŸr sich kaum einen Sinn. Noch schwieriger ist es, eine Zukunft, einen Lebensplan zu konstruieren. Dazu bedarf es meist fremder Hilfe und Umwelten, die so konstruiert sind, dass mehrere Wege offen bleiben. In einer institutionellen Welt wie dem Heim mŸssen auch die individuellen Zukunftsmšglichkeiten von der Institution vorgedacht und bereitgestellt werden.
Vielleicht ist das die problematischste Seite von Heimen: Ohne Anpassung, ohne Unterwerfung unter die Regeln gibt es keine Zukunftsperspektive. Das Davonlaufen Ð eine mšgliche Flucht vor dem Zwang zur Anpassung Ð verschlimmert absehbar die eigene Lage.
Einige Wohnungslose, die tatsŠchlich noch auf der Stra§e, in AbbruchhŠusern, in der ãWaggonieÒ am SŸdbahnhof oder an Šhnlichen PlŠtzen nŠchtigen, kšnnen dieser ihrer schwierigen und tristen LebensfŸhrung noch etwas Positives abgewinnen: Sie sehen sich trotz allem noch als unabhŠngig, als stark genug, ihr Leben selbst zu organisieren. Der Gang in ein Asyl erschiene ihnen als Verlust ihrer FŠhigkeit zur Autonomie. Wenn es denn einmal soweit sein wŸrde, sich einem Heimregime unterwerfen zu mŸssen, bedeutete das vorerst eine Niederlage. Von diesem Punkt aus einen Weg zu Selbstachtung und selbststŠndigem Leben in einer eigenen Unterkunft zu beginnen, bedarf so mancher Anstrengung.
In Wien gibt es rund 5000 Wohnungslose, sagen jene, die es wissen mŸssten[14]. FŸr 3534 von ihnen gibt es WohnplŠtze in stationŠren Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, die zu drei Viertel von MŠnnern, zu nur 13 Prozent von Frauen und zum Rest von Kindern belegt werden. In der Folge interessieren uns hier Ð dem Thema entsprechend Ð vor allem die MŠnner.
53 Prozent der wohnungslosen MŠnner sind ledig, 35 Prozent geschieden, nur jeder Zehnte ist (noch) verheiratet, meist aber trotzdem allein. Bei der Aufnahme in eine Einrichtung haben 94 Prozent, also nahezu alle, keine aufrechte Partnerschaft, auch sonst niemanden, weder Kind noch andere Verwandte, mit dem sie den Alltag teilen.
Mehr als die HŠlfte der Wohnungslosen Ð Ÿbrigens zu 86 Prozent šsterreichische StaatsbŸrger Ð hat zumindest eine Berufsausbildung absolviert, immerhin 6 Prozent die Matura, vier von zehn kšnnen nur einen Pflichtschulabschluss oder nicht einmal den vorweisen.
Bei einer Befragung sollten die Bewohner des MŠnnerheims die GrŸnde fŸr ihre Wohnungslosigkeit angeben. Markant ist die geringe AntworthŠufigkeit: Hatten immerhin 9 Prozent noch nie eine eigene Wohnung und verlor je ein Sechstel wegen MietzinsrŸckstŠnden oder im Zuge einer Scheidung die Unterkunft, fŸhrten die meisten ãsonstige GrŸndeÒ an É Die Frage war offenbar schwer zu beantworten, vielleicht schien auch ein blo§es Ankreuzen vorgegebener BegrŸndungen unangemessen.
Wohl niemanden wird Ÿberraschen, dass sich Wohnungslosigkeit und Armut als eng miteinander verknŸpft erweisen. Nahezu die HŠlfte der Wohnungslosen ist schon ein Jahr oder lŠnger ohne Unterbrechung arbeitslos. Bei ihrer Aufnahme haben 75 Prozent keine und nur 16 Prozent eine sozialversicherungspflichtige BeschŠftigung. Bis zur Entlassung sollte sich das nicht wesentlich Šndern: 69 Prozent sind immer noch ohne Arbeit, nur 21 Prozent sozialversicherungspflichtig tŠtig.
Sind Wohnungslose SozialhilfeempfŠnger? Ja, aber zu einem geringeren Anteil als anzunehmen: 27 Prozent der Bewohner des Hauses Meldemannstra§e leben von der Sozialhilfe, fast die HŠlfte bezieht Notstandshilfe Ð immerhin eine Versicherungsleistung Ð, 11 Prozent haben ein Arbeitseinkommen und 8 Prozent eine Pension. Das Durchschnittseinkommen der MeldemŠnner betrug im Jahr 2003 565,90 Euro monatlich.
Zur Wohnungslosigkeit gesellen sich in der Regel noch andere Probleme: Die meisten haben Bankschulden, MietzinsrŸckstŠnde, ausstŠndige Gerichts- oder Verwaltungsstrafen (zum Beispiel fŸrs Schwarzfahren), offene Versandhausrechnungen, sind Alimentationsverpflichtungen nicht regelmŠ§ig nachgekommen oder Strom- und Heizkosten schuldig. Strategien zum Schuldenabbau haben sie keine.
Kommt jemand erstmals in die Meldemannstra§e, so doch selten direkt ãvon der Stra§eÒ. Die meisten hatten private UnterkŸnfte, ein Viertel war schon vorher in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe.
Eine klare Verbindung scheint das: Sandler und Alkohol. TatsŠchlich haben nach SchŠtzung der SozialarbeiterInnen rund 40 von 100 Bewohnern ein Alkoholproblem, 17 eines mit illegalen Drogen, 10 dŸrften medikamentenabhŠngig sein. Bei nahezu einem Drittel werden ãpsychiatrische ProblemeÒ vermutet, scheinen psychische Erkrankungen vorhanden. Angesichts solcher Zahlen lŠsst sich eine Romantisierung des Lebens ohne Bindungen wohl nicht aufrecht erhalten.
In einer Reportage fŸr das Zeit-Magazin beschrieb Gerhard Roth das Haus Meldemannstra§e 27 vor seiner †bernahme durch das Sozialamt. 15 Aufseher und Hunderte Bewohner, eine schwierige Mischung, wie es schien. Wenig Gutes wusste er zu berichten: Von Aufsehern wurde ihm erzŠhlt, die ein Schreckensregime fŸhrten, aber auch von Gutherzigen, die ein wenig Menschlichkeit in ein hoffnungsloses Ambiente brachten. Die wenigsten Bewohner hatten eine Perspektive, und wenn sie eine hatten, als sie hierher kamen, so gaben sie sie bald auf. An einem trostlosen Ort, trostlos geworden durch die Trostlosigkeit seiner Bewohner. Die hier geltenden Regeln machten einmal mehr bewusst, dass man an einer Endstation angekommen war. Die Bewohner Ð erwachsene Menschen immerhin Ð hatten rechtzeitig zu Hause zu sein, sonst waren sie ausgesperrt (manchmal half etwas Bakschisch fŸr die diensthabenden Aufseher). Das Licht wurde um 22 Uhr abgedreht, mangels einer Steckdose in der Kabine war es kaum mšglich, sich mit anderem denn Schlafen zu beschŠftigen. Die EntmŸndigung war nicht total, aber doch weitgehend Ð mit all ihren Folgen: Man gab sich auf, einer Nivellierung nach unten hin. Ein wenig Stolz konnte noch daraus resultieren, nicht ganz so heruntergekommen zu sein wie mancher Mitbewohner.
Erst im Jahr 2000 kommen fŸnf Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter ins Haus. Eine von ihnen, Monika Wintersberger, Ÿbernimmt die Hausleitung. Die Aufseher werden zu Betreuern und zwei von ihnen mit jeweils einer Sozialarbeiterin zu einem Betreuungsteam zusammengespannt. Allseitige Skepsis steht am Beginn dieses Prozesses.
Eine Sozialarbeiterin[15] beschreibt, wie sie beides verwundert: die UnzugŠnglichkeit jener Bewohner, die schon lange im Haus sind und sich bereits aufgegeben haben. Sie kšnnen und wollen keine UnterstŸtzung annehmen. Auf der anderen Seite aber jene, die offensichtlich blo§ eines kleinen Ansto§es bedŸrfen, ein wenig Achtung und Vertrauen benštigen, um sich eine Zukunft au§erhalb des Asyls wieder zuzutrauen.
Wie komme ich an Menschen heran, die sich seit langem aus der Gesellschaft zurŸckgezogen haben? Wie kann ich ihnen wieder Lust auf diese Gesellschaft machen? Rhetorische Fragen einer Sozialarbeiterin am Beginn ihres Berichts Ÿber die Arbeit im Haus Meldemannstra§e. Sie kommt mit ihren Kolleginnen und Kollegen in ein sehr mŠnnliches System, erkennbar auch an der Sprache. Die Anwesenheit, die Verantwortung von Frauen in jener Separatwelt verŠndert langsam, aber doch diese Sprache, gerŠt zum Zeichen von Hoffnung. Gesprochen wird frŸher oder spŠter mit allen im Haus, Ÿber BedŸrfnisse, Ÿber Zukunft. Und Ÿber Zukunft muss gesprochen werden, denn das Haus soll geschlossen werden. So sehr das auch jene schmerzt, die sich abgefunden und schon arrangiert haben mit ihrem langjŠhrigen Dasein hier, die Heimat sehen in dem, was anderen nur ein Heim, eine Anstalt ist. Auch das ein Hospitalisierungseffekt. Gesprochen werden muss nun Ÿber Schuldenabbau, Ÿber notwendige Arztbesuche, Ÿber die Chance, alleine zu leben oder in einer freundlicheren, menschenwŸrdigeren Wohnform. TatsŠchlich geht Bewohner fŸr Bewohner nun aus dem Haus, manche sogar in Gemeindewohnungen. Was die Sozialarbeiter besonders freut: Sie scheinen dort auch zu bleiben.
Die neue Hausleitung, die TŠtigkeit des Sozialarbeitsteams, die angekŸndigte Absiedlung bringen jedenfalls Bewegung Ð und fŸr gar nicht wenige Bewohner auch Hoffnung auf ein selbststŠndigeres Leben. Trotzdem ist es den spŠt eingesetzten Sozialarbeiterinnen ein Anliegen, die ãAufseherÒ zu rehabilitieren: Jene, oder zumindest einige von ihnen, hŠtten es lange Jahre geschafft (ohne UnterstŸtzung der Politik, Gesellschaft, Verwaltung und ohne Fortbildung und Supervision), ãdass in diesem Haus viele MŠnner, die sonst Ÿberall, aus der Psychiatrie, aus anderen Einrichtungen fŸr Wohnungslose hinausgeworfen wurden, ein StŸck weit Heimat und Sicherheit gefunden haben. Die Aufseher waren es auch, die immer bereit waren, notfalls noch Betten aufzustellen und ein zumindest notdŸrftiges Quartier anzubieten, bevor jemand auf der Stra§e bleiben mussteÒ, so Barbara Rader vom Sozialarbeiterteam.
Bleibt unserer Gesellschaft das Problem der Wohnungslosigkeit erhalten? Auf der Suche nach einer Zukunft stš§t man auf kleine Hoffnungen, selten auf die gro§e Vision, dass sich irgendwann einmal alles regeln wŸrde. Dass sich auf Basis einer vermeintlichen Gesundung der Gesellschaft die Wohnungslosigkeit als soziales Problem auflšste, ist kaum zu erwarten: Desastršse Biografien, Armut, das wird es auch weiterhin geben. Das Ausma§ des Problems erweist sich aber von der politischen und škonomischen Entwicklung abhŠngig Ð und die lŠsst derzeit kein Sinken der Armut und keine StŠrkung der gesellschaftlichen KohŠsion erwarten. Der Wohnungsmarkt hat Auswirkungen auf das Ausma§ der Wohnungslosigkeit: Zur VerfŸgung stehen mŸssen relativ billige Wohnungen, die keine gro§en Anfangsinvestitionen erfordern. Ein effektives System der DelogierungsprŠvention rechnet sich: Die Versorgung von einmal wohnungslos gewordenen Menschen ist in der Regel ungleich teurer als die †bernahme einiger nicht bezahlter Mieten durch das Sozialamt.
Schon bisher waren es nicht in erster Linie der Staat, die LŠnder oder Kommunen, die sich der Wohnungslosen annahmen, sondern karitative Organisationen: Heilsarmee, Caritas und andere sprangen dort ein, wo der Staat blo§ polizeiliche Ma§nahmen zur ãLšsungÒ des Problems anzubieten hatte.
WŠhrend sich das traditionelle Angebot fŸr Wohnungslose auf gro§e, relativ geschlossene Anstalten beschrŠnkte, setzen sich nun zunehmend personalisierte Herangehensweisen durch. Man spricht mit den Betroffenen, sucht eine individuell passende Lšsung, die aber eine Vielzahl unterschiedlicher Angebote voraussetzt. Kšnnen die einen rasch wieder in relative SelbststŠndigkeit begleitet werden, sind fŸr andere dichtere Formen der UnterstŸtzung nštig. Nicht Gro§einrichtungen, sondern unterstŸtztes, in die Stadt integriertes Wohnen Ð das bietet die Wiener Wohnungslosenhilfe zumindest jenen KlientInnen an, die in besserer Verfassung sind.
Eine europaweite Studie[16] beschreibt die zukŸnftigen Dienste als partizipatorisch mit zwei Tendenzen:
Die eine, individualisierende Tendenz verlangt von den Betroffenen als Gegenleistung fŸr die ihnen gewŠhrten Dienste die †bernahme von Verantwortung. Ein Vertrag soll sie zur Mitarbeit an der eigenen ãNormalisierungÒ, der Einordnung in den gesellschaftlichen Mainstream verpflichten. Sie haben materielle Sparsamkeit, die Prinzipien akzeptablen Verhaltens und einen kontrollierten Umgang mit Zeit zu erlernen. VertrŠge dieser Art sind selten Ergebnis einer Verhandlung, sondern Diktate, auch wenn sie den EntwicklungswŸnschen mancher Wohnungsloser zumindest teilweise entsprechen mšgen.
Die zweite Tendenz basiert darauf, die Gesellschaft als aus Machtstrukturen und Prozessen der ãKolonialisierungÒ[17] bestehend zu sehen. Die Wohnungslosendienste nŸtzen die Notlage der Betroffenen, um KonformitŠtszwŠnge zu etablieren. Die BenŸtzer am Design und der operativen Leitung von Angeboten fŸr Wohnungslose zu beteiligen, kšnnte sie ohne Repression und Anpassungszwang befŠhigen, in gelebtem Widerstand Eigenverantwortung zu entwickeln. AnsŠtze des zweiten Typus finden sich in …sterreich noch kaum. Der Augustin[18] lŠsst manchmal erahnen, was mšglich wŠre.
Alkohol in der Meldemannstra§e: sichtbar, spŸrbar. Das Einkaufswagerl, gefŸllt mit leeren Bierflaschen. Die vom Langzeitkonsum gezeichneten Gesichter, ihre gesundheitlichen Probleme, Folgen eines zehrenden Lebens, oft auch jahrzehntelangen Alkoholmissbrauchs. Dennoch: Nicht in erster Linie und nicht allein der Alkohol war es, der sie herbrachte. Aber hier scheint er das Leben aller Bewohner, nicht nur der Alkoholiker, stark zu beeinflussen. Die Abstinenten beschweren sich Ÿber die zahlreichen BelŠstigungen durch die AbhŠngigen. Im Vollrausch ist ein Meldemann kein angenehmer Zeitgenosse. Wenn die Notstandshilfe angewiesen wird, dann herrscht im Haus eine gespannte AtmosphŠre aus AggressivitŠt und Depression. Keine gute Zeit, um GesprŠche zu fŸhren.
†bermŠ§iger Alkoholkonsum schon vor der Wohnungslosigkeit lŠsst sich kaum reduzieren, wenn dann auch noch die Bedingungen des stressreichen Lebens ohne feste und eigene Unterkunft hinzukommen. Alkohol hilft beim VerdrŠngen, erleichtert die Kontaktaufnahme, ist ein Nahrungsmittel und betŠubt den seelischen und kšrperlichen Schmerz. Mit illegalen Drogen ist es nicht viel anders.
Der Kampf gegen den Alkohol ist ein altes Thema der Wohnungslosenhilfe, aber er scheint aussichtslos Ð sieht man einmal von vereinzelten Erfolgen ab. Die ãbesserenÒ, also hšherschwelligen Einrichtungen haben inzwischen ein verhŠltnismŠ§ig rigides Regime etabliert. Sie kontrollieren die Bewohner mit einem Alkomaten. Akut alkoholkranke Personen bekommen hier keine Chance. Das Haus Meldemannstra§e hat auf eine solche Kontrolle stets verzichtet.
Die ExpertInnen legen Wert darauf, dass Wohnungslosigkeit ein komplexes PhŠnomen ist. Beim Versuch, mich einem der HŠuser fŸr Wohnungslose neugierig und verstehend zu nŠhern, stie§ ich bald auf diese Erkenntnis. Je mehr Informationen ich sammelte, umso unsicherer wurde ich in meinem Urteil. Eine zusammenhŠngende Geschichte des Hauses und seiner Bewohner zu erzŠhlen, erwies sich als unmšglich, wollte ich ehrlich bleiben und nicht wesentliche Informationen unterschlagen. Letztlich fiel doch so manches unter den Tisch, was (sicher auch wieder unvollstŠndig) hier aufgezŠhlt sei: wohnungslose Frauen; die Ex-Partnerinnen, Eltern und Kinder der MeldemŠnner; SexualitŠt; die wohnungslosen Konsumenten illegaler Drogen; KleinkriminalitŠt; gesundheitliche Probleme; andere Einrichtungen wie zum Beispiel die ãGruftÒ[19]; zahlreiche ErzŠhlungen von Bewohnern und Betreuern; Probleme mit den €mtern; die Wege nach Verlassen des Hauses; die Funktion des Wohnungsmarkts; die Strategien, sich Unterkunft bei Bekannten zu beschaffen É so vieles, das das Bild erst komplettieren wŸrde. BegnŸgen Sie sich hier mit der Andeutung. Lesen Sie den Augustin, sprechen Sie mit Wohnungslosen oder mit SozialarbeiterInnen, mit Betreuerinnen und Hausarbeitern aus der Wohnungslosenhilfe. Vielleicht verstehen Sie Wohnungslosigkeit dann besser. Ich beanspruche, sie nicht ganz verstehen zu kšnnen und verstehen zu wollen. So erzŠhlt auch in Zukunft jede individuelle Geschichte etwas Neues, lŠsst staunen Ÿber die Wege des UnglŸcks und die Mšglichkeiten vergeblicher, manchmal sogar erfolgreicher individueller Auflehnung gegen das UnglŸck.
Selbst eine genaue Betrachtung des Hauses und seiner Bewohner scheint nicht zu klŠren, weshalb die Meldemannstra§e 27 so gro§es Interesse hervorruft. Es sind blo§ einige tausend Personen, die in den Zeiten seines Bestehens als MŠnnerheim in diesem Haus gewohnt haben. Die Zahl kann es wohl nicht sein Ð oder wŸrde sich jemand fŸr ein Buch Ÿber die BewohnerInnen der Strebersdorfer Stra§e interessieren? †ber die Meldemannstra§e 27 zu schreiben hei§t Ÿber uns zu schreiben, die wir Wohnung haben und Familien. Wir verhandeln uns im Diskurs Ÿber das Haus selbst. Weil das Haus und seine Bewohner ungewšhnlich sind, ihre blo§e Existenz unser SelbstverstŠndnis und das VerstŠndnis der Gesellschaft, die wir bewohnen, herausfordert. Und weil mit Adolf Hitler das Grausig-DŠmonische des 20. Jahrhunderts seine ganze BanalitŠt und JŠmmerlichkeit hier frŸh offenbart hatte, als das noch niemand erkennen konnte, nicht einmal Schlomo Herzl aus George Taboris ãMein KampfÒ.
Das sind die Bilder, die im Bild des Hauses Meldemannstra§e 27 aktiviert werden:
Naturhaftigkeit: Wo ist die Welt heute noch naturhaft, dem Dschungel Šhnlich, der am Anfang der Entwicklung der Menschheit als Lebensraum stand? In der Stra§e als Lebensraum. Menschliche Gesellschaft, ihre Institutionen, gegenstŠndlichen Hervorbringungen und Regeln erscheinen dort als fremde Umwelt. Wir in der Gesellschaft und ihren Regeln Lebenden neigen zu einem wohligen Erschauern, denken wir an die Mšglichkeit, Au§enseiter zu sein. Ein archaisches GefŸhl. Das Heim mag in der Vorstellung einem Biwak gleich sein. NotdŸrftige Versorgung, bevor der †berlebenskampf wieder beginnt.
Regression: Da ist die Vorstellung der Regression, der Mšglichkeit, sich fallen zu lassen, wenn ohnehin alles verloren ist. Wenn die Mšglichkeit des Erfolgs sich verflŸchtigt hat, bleibt dies als Letztes Ÿbrig.
ZŸgellosigkeit: Wir leben im Alltag kontrolliert, erlauben uns nur hin und wieder, Ÿber die StrŠnge zu schlagen. Die Vorstellung vom ungehemmten Alkoholkonsum bietet ein schaurig-schšnes Gegenbild, ein Bild der Schamlosigkeit auf tiefstem Niveau. Es ist mit den Sandlern verbunden.
Rache: Und wenn es jenen schlecht geht, so ist ihnen Recht geschehen: Wer die geheimen WŸnsche des ãNormalbŸrgersÒ auslebt, soll erfahren, dass es so nicht gehen kann. Dass dieses Leben eben kein Leben ist.
Warnung: Nachbarin der Rache. Der schwarze Mann, Symbol dafŸr, was aus einem wird, der nicht fŠhig ist, sich an die Regeln zu halten. StŸtze der eigenen tŠglichen SelbstŸberwindung.
Exotik: Ein neugierig-kicherndes Interesse auch. Das Fremde so nah, zum Angreifen fast. Und besonders skurril dort, wo es der eigenen Welt Šhnelt: Puppen auf dem Sofa, SŸdseestrand an der Wand, Bierdose in der Hand. So vertraut. So fremd.
Mitleid: Besonders dankbar hat man Sandlern fŸr das Mitleid zu sein, das sie wecken. Zuerst vielleicht ein bisschen Ekel, dann Ð spŠtestens nach Andeutungen einer tragischen Lebensgeschichte Ð Mitleid. Wir sind stolz darauf, dass wir noch Vorurteile Ÿberwinden und mitleiden kšnnen. Einige Euro fŸr den Augustin-VerkŠufer und schon sind wir wieder Ÿberzeugt, ja bewegt von unserer FŠhigkeit zur Mitmenschlichkeit.
Angst: Eine Mitspielerin. Auch wenn wir es gerne verleugneten: Allzuweit ist diese Existenz von unserer nicht entfernt, tief drinnen wissen wir, wie nahe wir selbst dem Scheitern sind. Kšnnten nicht auch wir nach einigen SchicksalsschlŠgen, einer psychischen Erkrankung Šhnlich entgleisen?
Abscheu: Der Gestank, der Schmutz. Selbst Wohlmeinende berichten davon. Ein NaserŸmpfen, ein Schauder.
Selbsterhšhung: In der fiktiven Hierarchie der Gesellschaft, einer Hierarchie des ãgelingenden LebensÒ, reihen wir uns hšher ein als jene (und am liebsten tun das Menschen, deren Sicherheit eine brŸchige ist, bei denen morgen alles schon anders sein kann). UngefŠhrliche, machtlose Existenzen: ein gutes Gegenbild zum eigenen prachtvollen Selbst.
All diese Bilder haben mit der Wirklichkeit zu tun, aber sie sind nicht die Wirklichkeit. Die ist anders. Langweiliger. Dramatischer. Aber kšnnten wir der Wirklichkeit motiviert begegnen ohne all diese Fiktionen?
Die Bewohner des Hauses Meldemannstra§e 27[20] sind keine besonderen Menschen, und ihre Situation ist eine fŸr uns nicht-alltŠgliche. Das macht sie interessant, das macht sie brauchbar als Metapher und als Referenz fŸr vieles. Der Orte des Elends gibt es viele, selbst im beginnenden 21. Jahrhundert, selbst in einem der reichsten LŠnder der Welt. Alters- und Pflegeheime, feuchte Wohnungen und HŠuser, Aufbewahrungsorte fŸr Behinderte, GefŠngnisse, Familienwohnungen als Hšlle und doch einzig bekannte Welt fŸr misshandelte und missbrauchte Kinder. Orte der Armut und EntwŸrdigung bilden ein anderes, weitgehend unbekanntes …sterreich. Einen Archipel der Tristesse, der Apathie, der hilflosen Aggression, der †berlebenskŠmpfe. Es ist nicht das ãwirklicheÒ Bild dieses Landes, aber es ist unlšsbarer Bestandteil jedes kompletten Bilderbogens von diesem Land. Die Sozialpolitik Ð unter dem Einfluss der Sozialpartner Ÿber Jahrzehnte auf die Sicherung jener konzentriert, die eine Normalbiografie vorweisen konnten Ð hat die Armut nicht beseitigt.
Die Inseln des Elends in unser Gesellschafts- und Weltbild zu integrieren, stellt eine anspruchsvolle Herausforderung dar. Vielleicht ist es am ehrlichsten zuzugeben, dass uns die MŠnner der Meldemannstra§e nichts zu sagen haben. Wir kšnnen von ihnen nicht lernen, wie man weise lebt, nicht, woran es in unserer Gesellschaft krankt. Ihre ErzŠhlungen relativieren hšchstens unseren eigenen Drang zum Selbstmitleid. Sich als RetterInnen der MeldemŠnner aufzuspielen, kam zu Recht selbst den SozialarbeiterInnen des Teams nicht in den Sinn.
Wenn ich heute auf den HšchstŠdtplatz komme, ist fast alles
verschwunden, was diesen Platz frŸher zu einem Platz gemacht hat. WeitlŠufig
ist er geworden. Der neue Bau der Fachhochschule Technikum erstreckt sich auf
dem Areal der Niederšsterreichischen Molkerei, wo einst die Pferde die
Milchkannen holten. Auch im Haus des Zentralkomitees der KP… haben honorigere
Organisationen Einzug gehalten. Der proletarische Touch scheint sich zu
verlieren, obwohl er zwei Gassen weiter noch unverŠndert zu besichtigen ist.
Die Brigittenau wird bald sauberer sein, das Areal rund um den HšchstŠdtplatz
verwechselbarer. Die Bewohner des Hauses Meldemannstra§e 27 werden sich
verstreut haben, oder doch nicht ganz: Eine gro§e Gruppe von ihnen wird in der
Floridsdorfer Siemensstra§e eine neue, schšnere Unterkunft beziehen. Ein
Schlussstrich unter das 20. Jahrhundert?
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[1] Alle diese Angaben aus der Zeitschrift fŸr den šffentlichen Baudienst 1906.
[2] Der Stellwagen war ein von Pferden gezogenes šffentliches Verkehrsmittel.
[3] Eigentlich waren es nur 3,5 Quadratmeter, aber in den Schriften der Betreiber durfte man wohl ein wenig aufbessern.
[4] Anfang dieses Jahrhunderts hielt Emil KlŠger an der Wiener Urania LichtbildervortrŠge zum Thema ãDurch die Wiener Quartiere des Elends und VerbrechensÒ, die gro§en Zuspruch in der Wiener …ffentlichkeit fand. KlŠger war zusammen mit dem Fotografen Hermann Drawe monatelang durch die Wiener SammelkanŠle, MŠnnerheime, WŠrmestuben und Wasserquartiere gezogen. Der Vortrag lieferte dem gleichnamigen Buch Grundlage, das 1908 in einer fŸr damalige VerhŠltnisse riesigen Erstauflage von 10.000 StŸck erschien.
[5] Angaben aus dem Jahresbericht 1910 der Kaiser Franz Josef I. JubilŠums-Stiftung.
[6] Dokumentationsarchiv des …sterreichischen Widerstandes, GedenkstŠtte Steinhof, www.gedenkstaettesteinhof.at
[7] …sterreichische Zeitschrift fŸr den šffentlichen Baudienst 1906.
[8] Zu deren Charakterisierung siehe die Publikationen von Ulrich Beck.
[9] Genaueres zu mŠnnlicher und weiblicher Obdachlosigkeit findet man in der Dokumentation der Fachtagung 2001 der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe.
[10] Avramov 1997, S. 31.
[11] Caritas o. J., S. 13.
[12] Schmidinger 2002, S. 25.
[13] Diese bildhafte Bezeichnung stammt von Sykes und Matza (erwŠhnt bei Ehn, S. 36).
[14] Diese und die folgenden Zahlen beziehen sich, wo nicht anders angegeben, auf das Jahr 2002 und finden sich im Bericht der BAWO Ÿber die Situation der Wohnungslosen in Wien 2002 bzw. in den Jahresberichten des Sozialarbeitsteams im Haus Meldemannstra§e.
[15] Rader: Der Beginn des Abenteuers.
[16] Edgar Bill et alii 1999, Seiten 22ff.
[17] diese Sichtweise schlie§t an Foucault an.
[18] Der Augustin wurde im Jahr 1995 als erste šsterreichische Obdachlosenzeitung nach Londoner Vorbild gegrŸndet und erscheint 14-tŠglich. Vertrieben wird der im FrŸhjahr 2003 mit dem renommierten Concordia-Preis ausgezeichnete Augustin im Rahmen eines Sozialprojekts von rund 400 Obdachlosen um derzeit ¤ 2,-.
[19] Die Gruft ist eine Betreuungseinrichtung
fŸr obdachlose Frauen und MŠnner direkt unter der Wiener Mariahilfer Kirche.
1986 ins Leben gerufen, deckt das Team der 24 Stunden gešffneten Gruft Ð
diplomierte SozialarbeiterInnen, SozialbetreuerInnen, Zivildiener und
ehrenamtlichce MitarbeiterInnen Ð heute von den GrundbedŸrfnissen bis hin zur
Beratung ein breites Spektrum an Hilfestellungen fŸr Wohnungslose ab.
[20] Schon in dieser Adressierung zeigt sich eine Vereinfachung, eine Ungenauigkeit. Genauer mŸsste es 25Ð29 hei§en. Wir lieben Vereinfachungen, selbst so unschuldige, weil sie plakativer, leichter zu handhaben sind als die Differenzierung und die Genauigkeit. Und weil Vereinfachungen die Produktion von Sinn erleichtern.