Der 2020 Krisenblog

Zehnter Tag

Erstellt am Freitag, 03. April 2020 12:44
Schreiben aus einer privilegierten Position heraus: Ich bin ja eh nicht der erste, der darauf hinweist: Es lässt sich gut räsonieren (schönes altes Wort übrigens, vom Aussterben bedroht), wenn man wie ich (und viele meiner Facebook-Friends) ein gesichertes Einkommen hat und eine Unterkunft, groß genug um allen Familienmitgliedern auch die Möglichkeit zu geben, die Tür hinter sich zu schließen. Dazu noch ein wirklicher hübscher Auslauf rundum. Zu allem Überfluss auch noch liebe und freundliche Nachbarn.
Ich habe keinen Bodenkontakt, jetzt, wo ich durch die Schließung der Gastronomiebetriebe die bisher so sorgsam gepflegten „schwachen“ Beziehungen verloren habe zu Badewascheln, Taglöhnern, Billa-Kassiererinnen, frühpensionierten Alkoholiker*innen, Serviererinnen, ehemaligen Knastbrüdern, geselligen Paaren und ungeselligen Alleinsitzern, zu den hoffnungsfroh ihr Geschäft betreibenden jungen Männern jedweder Herkunft, den lauten Mädels und den gehässigen Motschgeranten. Sie gehen mir ab, das Schmähführen dort und die Beziehungsdramen, sogar die Schimpferei.
Hier in meinem Heim-Büro sitzend komme ich mir sehr blöd vor, gscheitzuwascheln (kennt ihr das Wort? Ich hab´s erst durch meine wunderbare aus der Steiermark gebürtige Partnerin kennengelernt). Also gscheitzuwascheln über das moralisch Richtige bei der Rettung der Welt, und wer jetzt durch welche Vorgehensweise geopfert wird. In Deutschland (und auch hierzulande) meinen einige, der Shutdown setzt der Wirtschaft zu sehr zu, besser wäre, alle Angehörige von Risikogruppen komplett wegzusperren und die anderen könnten normal leben, arbeiten und sich vergnügen. Dahin könnte es kommen, und Julian Nida-Rümelin, Philosoph mit den Spezialgebieten Entscheidungs- und Rationalitätstheorie, theoretische und angewandte Ethik, politische Philosophie und Erkenntnistheorie, argumentiert das ruhig und schlüssig, betont sogar, dass die mit dem Risiko sich zur Isolation freiwillig entschließen können/sollen. Ich werd´s mir durch den Kopf gehen lassen.
Ich würde jetzt sehr gerne meine selten verwendete Spiegelreflex auspacken, durch den fast stillgelegten Flughafen wandern und soooo viele romantische Fotos machen. Gerne auch mit Sonnenuntergang, um ein paar likes zu fischen.
Jetzt zeigt sich die Weitsicht der Berlinerinnen und Berliner: Ihr neuer Flughafen ist absolut perfekt für diese Zeiten.
Zu allem Überfluss ist auch noch Manu Dibango gestorben, am Corona-Virus. Großer des Afro-Jazz. Ich höre ihn heute sicher noch eine halbe oder ganze Stunde mit seinem Saxophon und seiner Fröhlichkeit.
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