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Ethische Konflikte in der Sozialarbeit

Erstellt am Sonntag, 14. März 2010 06:52

Referat auf der Danube Conference, European Seminar of the International Federation of Social Work, Bratislava, 30.8.2001

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen.

Die Medien interessierten sich in den letzten Jahren zunehmend für sogenannte Ethik-Diskussionen. Im Mittelpunkt standen Fragen, die von neuen technologischen Entwicklungen in der Medizin und ihren Nachbarwissenschaften aufgeworfen wurden und werden: Die Gentechnologie und die Reproduktionstechnologie werfen frühere Selbstverständlichkeiten über den Haufen – und die Auswirkungen auf menschlichen Alltag werden auch wir in der Sozialarbeit spüren.

Ich will mich heute aber mit weniger spektakulären ethischen Problemen auseinandersetzen, nämlich mit denen, die der Sozialarbeit von Geburt an eingeschrieben sind.

Unsere Profession begnügt sich nicht mit der Beobachtung der Gesellschaft und des Sozialen. Sozialarbeit greift ein, versucht soziale Inklusion herzustellen, wo sie verlorenging oder nie da war. Sozialarbeit versucht, für den sozialen Zusammenhalt fragmentierter Gesellschaften zu werben und Verbindungen zu schaffen zwischen dem Drinnen und dem Draußen.

Den Auftrag dazu gab und gibt uns die Gesellschaft, die Politik, der Staat mit seinen verschiedenen Institutionen, die Sozialversicherungsträger, die Kommunen. Wir sind in der Regel nicht die direkt beauftragten AnwältInnen unserer Klientinnen und Klienten. Wir müssen uns ihnen immer erst annähern, müssen um ihren Auftrag werben. Daraus ergibt sich eine Reihe von ethischen Problemen und Konflikten. Diese Konflikte sind die ersten, über die ich sprechen will. Als zweites wird es um einige ethische Fragen der Fürsorglichkeit gehen, die in unserer Profession gleichzeitig zentrale Fragen der Methodik sind. Im dritten Teil werde ich die Perspektiven der Profession diskutieren, um schließlich am Schluss – allen vorher angesprochenen Konflikten und Schwierigkeiten zum Trotz – unseren Beruf zu loben und ihm eine große Zukunft zu wünschen und zu prophezeien.

Ich hoffe, Sie können nach diesen spannenden, aber auch anstrengenden Tagen der Referate und Diskussionen noch das Quäntchen Aufmerksamkeit aufbringen, um meinen Überlegungen zu folgen. Ich werde nicht von großen, dramatischen ethischen Konflikten sprechen, sondern von ethischen und moralischen Fragen, die so selbstverständlich zur täglichen Sozialarbeit gehören, dass sie leicht übersehen werden können. Ich werde vom täglichen Brot der Sozialarbeit sprechen.

Beginnen wir also mit dem gesellschaftlichen Auftrag als allgemeiner Ausgangsbedingung professioneller Sozialarbeit.

1.

In den letzten Monaten habe ich einige Berichte über die Arbeit mit Roma gelesen, gehört und diskutiert. Dabei wurde deutlich, dass die Angehörigen dieser in vielen europäischen Ländern marginalisierten Volksgruppe Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter oft als Agentinnen und Agenten einer fremden Macht erlebten. Es soll ihnen eine Lebensweise aufgezwungen bzw. eingeredet werden, die nicht die ihre ist.

Zuerst kommen Sozialarbeiterinnen, dann mischen sich Gerichte ein, dann die Polizei. Die Soziale Arbeit erscheint ihnen als eine der Unannehmlichkeiten, mit denen ihnen der Staat ihr Leben erschwert.

Tatsächlich können wir nicht davon ausgehen, dass unsere Zielgruppen uns jubelnd begrüßen. Auf diesem vorgeschobenen Posten, auf dem Sozialarbeit betrieben wird, sind wir doch in aller Regel der Gesellschaft verpflichtet. Wir teilen ihre Normen und wir sollen die Normalität durchsetzen, wo keine andere Institution es mehr kann oder wo noch nicht mit den härtesten Mitteln eingegriffen werden soll. Vorstellungen über das „gute Leben“, über tolerable und nicht mehr tolerierbare Entwicklungsbedingungen für Kinder, Vorstellungen über Menschenwürde und über ein notwendiges Maß an Anpassung. Diese Vorstellungen leiten uns und unser Handeln als VertreterInnen unserer Institutionen.

Ich möchte ausdrücklich darauf bestehen, dass wir als Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter Teil des Machtapparats der Gesellschaften sind – auch wenn wir uns gerne auf der Seite der Entrechteten und Unterdrückten verorten wollen. Natürlich sind diese Gesellschaften heute pluralistische und die Machtausübung ist demokratisch legitimiert. Das bringt aber Macht und Herrschaft nicht zum Verschwinden. Michel Foucault hat in „Überwachen und Strafen“ und in „Sexualität und Wahrheit“ die naive Identifikation von Zuwendung und Gespräch zu Hilfe problematisiert und das therapeutische Gespräch als Variante des Verhörs beschrieben. Wir müssen jetzt mit diesem Wissen leben und arbeiten, und das ist gut so. Meines Erachtens ist es unerlässlich, das Faktum unserer Mitwirkung an Herrschaft, unserer Beteiligung an der Macht, vorerst einmal anzuerkennen. Erst es klar zu sehen, eröffnet uns die Chance, ethisch verantwortlich zu handeln, unser eigenes Tun kritisch zu reflektieren und uns den ethischen Dilemmata des Alltags unserer Arbeit zu stellen.

Zurück zu den Roma: Wieso sind viele von ihnen der Überzeugung, dass das Auftreten von Sozialarbeiterinnen Teil einer aggressiven Strategie des Staates ist? Zuerst sind unsere Kolleginnen Spione. Sie wollen alles mögliche und unmögliche wissen. Und dann wollen sie soagr etwas ändern: Sie bemängeln Unordnung, verlorene Papiere, die schlechte Kleidung der Kinder. Sie konfrontieren mit den Schulschwierigkeiten der Knaben und sie versuchen, die frühe Verheiratung der Mädchen und Burschen zu verhindern.

Romamädchen: Zwischen den Kulturen.

Sehen wir uns diesen letztgenannten Punkt genauer an. Er ist ein sehr schönes Beispiel für ethische Dilemmata, mit denen Sozialarbeit konfrontiert sein kann. Wenn wir uns mit der Lebenswelt von Romafamilien genauer auseinandersetzen, beginnen wir zu verstehen, wieso Mädchen schon mit 12, 13 Jahren einem Mann versprochen oder mit ihm verheiratet werden sollen. Oft ist dieser Mann selbst noch sehr jung, auch erst 16 oder 17 Jahre alt. Mehr als dem Burschen wird das Mädchen der Familie des jungen Mannes versprochen.

Wir lernen das als präventive Maßnahme zu begreifen. Eine nicht ungewöhnliche frühe Schwangerschaft mit 14 oder 15 Jahren würde die Lebenschancen des Mädchens massiv beeinträchtigen und ihre Herkunftsfamilie belasten – außer, es ist die sozial akzeptierte Versorgung der jungen Frau gesichert. Die Heirat sichert, dass die junge Frau ehrenwert ist und bleibt. Sie sichert, dass das Mädchen nicht sozial marginalisiert wird. Die Bemühungen der Eltern sind logisch, und sie sind das, was die Eltern zum Wohle ihres Kindes tun müssen. Sie wären sonst schlechte Eltern.

Wir erkennen hier die Eigenlogik einer traditionell geprägten Lebenswelt. Diese Eigenlogik hat so lange ihre absolute Gültigkeit, als wir die traditionale Lebenswelt als in sich geschlossenes System betrachten. Bis zu einem gewissen Grad sind solche Welten auch in sich geschlossen. Aber sie sind es in einer anders funktionierenden gesellschaftlichen Welt, mit der sie in Austausch stehen und deren – differierende – Gesetze ebenso gültig sind.

Gehen wir als Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter nur mit unseren Maßstäben – und das sind immer wieder die Maßstäbe der Mehrheit oder gar die Maßstäbe einer gut gebildeten Mittelschicht – an die Lebensfragen von Angehörigen von Subkulturen oder marginalisierten Gruppen heran, so erscheint uns wie in diesem Fall das Sorgen der Eltern für ihre Töchter als Menschenrechtsverletzung. Wir mögen den Impetus haben, das Mädchen zu schützen, ihm einen nicht selbst gewählten Partner zu ersparen, seine Autonomie zu bewahren und zu fördern, dem Mädchen die Chance zu geben, eigene Lebenspläne zu entwickeln, die von denen der Eltern abweichen können.

Wir haben dabei das Bild einer Jugendlichen vor Augen, die – wie andere Jugendliche auch – langsam ihre ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht macht, die eine relativ unbekümmerte Jugendzeit erst vor sich hat und für die es in zehn Jahren früh genug sein wird, sich einen Lebens- oder Lebensabschnittspartner zu suchen. Dieses Bild mag noch besonders plausibel sein, weil das Mädchen aussieht, wie andere Jugendliche, weil sie sich so kleidet, die gleiche Musik hört und in die gleichen Diskos geht. Weil sie uns von ihren Träumen erzählt, die nicht in die traditionellen Denkmuster ihrer Eltern zu passen scheinen.

Die Zukunft dieser Jugendlichen ist noch nicht entschieden. Vielleicht wird sie sich tatsächlich aus den traditionalen Strukturen lösen und wird einen modernen Beruf erlernen. Vielleicht wird sie ihr Leben so gestalten können, wie Jugendliche aus anderen sozialen Bezügen. Vielleicht wird sie in einigen Jahren selbst einen guten Mann wählen, und wenn der sich dann wie so oft als weniger gut herausstellt, sich von ihm in Schmerzen trennen. Vielleicht wird sie diese alltäglichen und biografischen Erfahrungen von Frauen in unserer Welt der Individualisierung, der Postmoderne, der reflexiven Moderne machen und vielleicht wird sie sich autonom fühlen. Wir würden das wahrscheinlich als „Erfolg“ verbuchen.

Aber es gibt auch eine andere Option. Ihre Schulbildung ist lückenhaft. Sie hat zu Hause wenig Unterstützung. Ihre Eltern sind Analphabeten; die Ruhe, die sie zum Lernen bräuchte, ist in der kleinen und überfüllten Wohnung nicht zu finden; ihre Brüder mischen sich in ihre Beziehungen zu männlichen Jugendlichen ein. Ihre Selbstbefreiungsversuche enden in Missbrauchserfahrungen und in kriminellem Milieu.

Gegenüber dieser zweiten möglichen Perspektive scheint der von den Eltern vorgesehene Weg als der bessere.

Formulieren wir es etwas allgemeiner: Die Perspektiven, die wir als „Best Case Szenario“ anzubieten haben, sind risikobehaftet. Der Weg zur Verwirklichung der ev. mit den KlientInnen vereinbarten Ziele ist voller Fallstricke und führt an Abgründe. Es ist nicht selbstverständlich, dass dieser Weg gegangen wird, und noch viel weniger selbstverständlich, dass er erfolgreich gegangen wird. Und im konkreten Fall verlangt er von den Beteiligten sehr viel, nämlich eine Verabschiedung des lebensweltlich Selbstverständlichen, er verlangt das Eingehen von unbekannten Risken, verlangt das Inkaufnehmen von familiären Konflikten noch unbekannter Form und Stärke.

Das Nebeneinanderbestehen verschiedener Wert- und Normensysteme und die Inkompatibilität von Alltagswissen mit Mehrheitsnormen, wird auf theoretischer Ebene vom Relativismus in Form der Postmoderne und/oder in Form des radikalen Konstruktivismus reflektiert. Als konkrete Richtschnur ist dieser Relativismus des „sowohl als auch“ aber nicht immer hilfreich. Die Sozialarbeit behilft sich dabei in der Regel mit dem Bezug auf die Normierungen der Gesetze. Nicht umsonst spielt das Recht eine herausragende Rolle für die Sozialarbeit. Die Gesetzesnormen sind sowohl den KlientInnen als auch den SozialarbeiterInnen äußerlich, sie sind etwas objektives Drittes, worauf man sich beziehen kann. Dieseer Bezug bietet Chancen und Gefahren. Die methodische Chance ist die, sich als Person gegenüber den gesetzlichen Normen kritisch verhalten zu können, aber aus pragmatischen Gründen für ein Arrangement mit dieser Realität zu plädieren. Wir schaffen ein Dreieck zwischen KlientInnen, SozialarbeiterInnen und den Normen und können so nötigenfalls auch mit den KlientInnen die Geltung der objektiven Norm bedauern und Kompromisse suchen.

leid als bestandteil menschlichen lebens, gelingender alltag als nicht absolute, sondern relative größe. verschleiert durch die raren erfolgsgeschichten jener, die sich aus ihren beschränkungen befreit haben.

Versuchen wir aber nun zuerst ein Resümee aus der Diskussion dieses Dilemmas gesellschaftlicher Beauftragung in einer, wie Krzysztof Michalski sagt, unheilbar heterogenen Welt.

Wohlfahrtsverwaltungen knüpfen ihre Unterstützung an Bedingungen. Sie unterstützen einen Lebensplan freier und autonomer Individuen in einer offenen Gesellschaft mit Dominanz des Marktes. Paradoxerweise wird als erster Schritt zu dieser vagen Chance auf Autonomie Anpassung und Einordnung verlangt. Wer glaubwürdig so tut, als wäre er bereit, in einer sauberen Wohnung zu wohnen, einer regelmäßigen Erwerbsarbeit nachzugehen und über die Aktionen der Kinder besorgt zu sein, der kann Unterstützung bekommen.

Nun entspricht es – in unserem Beispiel – keineswegs der Erfahrung vieler Roma-Familien, dass ein solcher Lebensplan Chance auf Verwirklichung hat. Auf Anpassungsbemühungen folgt die Vertreibung. Erwerbsarbeit erfordert eine Umstellung des Lebensrhythmus und kann doch rasch wieder verlorengehen. Die Forderungen des Jugendamtes sind immer wieder unverständlich und widersprechen den Traditionen. Wozu also die Anstrengung, wenn am Ende doch zu erwarten ist, dass man auf die alten Überlebensstrategien zurückgeworfen sein wird.

Ich habe hier das Volk der Roma als Beispiel genannt, weil es eine noch nicht abgeschlossene Geschichte des Leidens und der Nicht-Anerkennung hinter sich hat. Weil viele Angehörige dieser Volksgruppe immer noch auf der Flucht sind oder dort, wo sie leben, schlechte Chancen vorfinden. Und weil sie sich sowohl immer wieder angepasst, als auch ihre Kultur bewahrt haben. Und Sozialarbeit spielte nicht immer eine makellose Rolle in dieser Geschichte.

In ähnlicher Form gilt das beschriebene Dilemma allerdings auch für andere Gruppen und Subkulturen.

Woher beziehen die SozialarbeiterInnen die Legitimation für ihren pädagogischen Impetus? Und vor allem: Haben sie eine andere Wahl? Können sie so auftreten, dass sie ungebrochen Hilfe anbieten, dass sie nicht in dieses Dilemma kommen, ihre KlientInnen zu Anpassungsanstrengungen mit fragwürdigen Erfolgsaussichten zu überreden?

Die Antwort ist ja, sie haben eine andere Wahl. Ja, weil es schon nützlich ist, den anmaßenden Charakter dieser Forderungen zu erkennen. Ja, weil der Widerstand der Klientinnen, ihre partielle Kooperationsverweigerung, dann als durchaus nicht unvernünftige Form der Selbstbehauptung wahrgenommen werden kann. Ja, weil mit diesem Wissen im Hintergrund der Dialog mit den Klientinnen ganz anders und differenzierter laufen kann. Unser Sendungsbewusstsein wird sich in Grenzen halten können und es wird leichter sein, Kompromisse zu finden.

Die Antwort ist aber auch nein. Die Position als Agentin der Gesellschaft und ihrer Normen kann nicht abgestreift werden. Wir werden versuchen müssen, Kindern die Chance für eine Entwicklung zu geben, die sie als Individuen grundsätzlich befähigt, andere Wege als die ihrer Eltern einzuschlagen. Dazu ist immer wieder auch Konfrontation nötig. Wir können einzelne Gesetzesübertretungen hinnehmen und ein Auge zudrücken, aber wir können das nicht unbeschränkt. Und wir bleiben fremd.

2.

Wir sind nun schon bei den methodischen Fragen angelangt, bei den Problemen von Nähe und Distanz, der Fremdheit und des Verstehens, der pragmatischen Bezugnahme auf Werte und Normen. Und bei der grundsätzlichen Problematik von Hilfe.

Ich habe von der Fremdheit der Sozialarbeit gegenüber ihren DialogpartnerInnen, ihren KlientInnen gesprochen. Diese Fremdheit ist unheilbar, und nur so lange sie besteht, können wir von professioneller Sozialarbeit sprechen. Sie ermöglicht die Form des Dialogs, die notwendige Asymmetrie der helfenden Beziehung.

Wie die Ethnologie ist die Sozialarbeit von dieser Fremdheit fasziniert und an ihr interessiert. Anders als die Ethnologie sucht sie allerdings bewusst die Möglichkeit der Intervention, des praktischen Verbindens von Fremdem mit Bekanntem. Sie versucht zum Beispiel relativ isolierte Personen und Gruppen mit gesellschaftlichen Ressourcen zu verbinden.

Das Interesse, also das Bemühen um Verstehen, schafft uns zuerst Anschlussmöglichkeiten in der Kommunikation, dann den KlientInnen Anschlussmöglichkeiten an gesellschaftliche Ressourcen. Interesse an den Menschen, ihrer Lebenswelt und und Lebenssituation, ihrem Verständnis für die Welt, ist für SozialarbeiterInnen kein moralisches, sondern ein methodisches Gebot. Gleichzeitig wissen wir, dass es ein vollständiges Verstehen nicht geben kann und nicht geben wird. Das völlige Verstehen der Situation, des Denkens und des Handelns der KlientInnen, wäre das Ende unserer Möglichkeiten, als SozialarbeiterInnen zu intervenieren. Wir brauchen nämlich die Distanz, die Spannung für unsere Interventionen. Es sind nur Momente, in denen wir verstehen, in denen sich die Fremdheit kurz aufzulösen scheint. Professionalität besteht auch darin, sich von diesen Momenten nicht täuschen zu lassen, sich der Distanz bewusst zu sein. Unsere Fremdheit ermöglicht erst den Dialog, unterscheidet uns von lebensweltlichen HelferInnen.

Es gibt noch einen weiteren guten Grund, Distanzperspektiven zu pflegen. Der Verdacht gegen die Anmaßung, die darin steckt, jemandem helfen zu wollen, spricht nicht nur aus dem Widerstand unserer KlientInnen. Schon Friedrich Nietzsche hat Hilfe als Anmaßung verdächtigt, die den Helfenden überhöht und immer auch einen autoritären Gestus enthält. In der Postmoderne hat Zygmunt Baumann diese Kritik erneuert. Und in der innerfeministischen Kritik an den die weibliche Fürsorge verklärenden naturalistischen Positionen einer Carol Gilligan wird die Ergänzung und Ausbalancierung der fürsorglichen Zuwendung durch einen Ethos der Distanz gefordert. Ich möchte diese Distanzperspektive Respekt nennen. Respekt vor den KlientInnen, ihrem lebensweltlichen Wissen, ihren sozialen Bezügen. Respekt, der die Skepsis in Bezug auf die eigene Position mit einschließt. Wenn wir für ethisch verantwortliches professionelles Handeln eine Distanzperspektive brauchen – und wir brauchen sie – dann ist Respekt ihr bester Name.

Zygmunt Baumann spricht von einer postmodernen Ethik der sanften Berührung. In dieser Beschreibung klingen Körperlichkeit und Zärtlichkeit an. Aber wäre diese Zärtlichkeit, diese sanfte Berührung, nicht genau die Erhebung der Naivität, die der Sozialarbeit und den SozialarbeiterInnen ohnehin so oft vorgeworfen wird, zum Prinzip? Will Sozialarbeit das Böse nicht sehen, das es zweifelsohne auf diesem Planeten gibt? Sind unsere KlientInnen – weil sie meist sozial benachteiligt sind – sicher nicht „böse“?

Der antisozialstaatliche Diskurs verortet das Böse gerne bei den KlientInnen sozialer Einrichtungen. Sie stehen im Verdacht, SozialschmarotzerInnen zu sein, wie die Sozialarbeit im Verdacht steht, mit den SchmarotzerInnen unter einer Decke zu stecken.

So sehr wir diesen Pauschalverdacht, dieses Ressentiment, zurückweisen müssen, wissen wir doch auch, dass Armut nicht adelt und dass Leid Menschen nicht zu guten oder besseren Menschen macht. SozialarbeiterInnen kennen ihre KlientInnen auch als TäterInnen. Und manche der Taten sind nicht oder kaum entschuldbar, auch nicht durch eine eigene Leidensgeschichte.

Ich empfehle auch hier den Respekt als Haltung, die vor Naivität schützt, als Haltung, die zu fallbezogen ethisch vertretbaren Entscheidungen und zu professionellem Umgang befähigt. Respekt schließt nämlich ein, mein Visavis als handlungsfähige und damit auch schuldfähige Person zu betrachten. Als Person, der die Konfrontation mit ihren Taten zumutbar ist.

Doch zurück zu unserer methodischen Frage von Annäherung und Distanz. Zwei Versuche einer Zerschlagung des Knotens, einer Auflösung des ethischen Konflikts, der in unserer Rolle angelegt ist, seien hier kurz dargestellt und diskutiert. Der eine Versuch ist die Strategie der Parteilichkeit, der andere ist ein technokratisch/bürokratisch verstandenes Case Management.

„Parteilichkeit“ – als das bewusste Einnehmen der „anderen“ Position, sich auf den Standpunkt der Subkultur zu stellen, ist nur eine vermeintliche Lösung. In dieser europäischen Welt des 20. Jahrhunderts sind Individuen nicht mehr auf nur eine Perspektive, auf eine Identitätskonstruktion festgelegt. Sie haben die Wahl, ihre Identitäten sind nicht unverrückbar. Ja es ist sogar ihr Schicksal, wählen zu müssen. Wie die Roma-Jugendliche sind alle innerlich zerrissen zwischen den verschiedenen Lebensentwürfen, klammern sich derzeit vielleicht an einen, aber schon morgen können sie gezwungen sein, sich an einem anderen zu orientieren, zum Beispiel wenn ihr Arbeitsplatz verlustig geht, wenn ihre Partnerschaft scheitert. Oder – wie es tausenden Roma passiert ist – sie nach eigentlich erfolgreichem Heimischwerden in Deutschland nach Mazedonien deportiert werden, wo nur mehr das Satellitenfernsehen den Kontakt zu ihren früheren Lebensträumen und ihrer früheren Lebensrealität ermöglicht.

Was sind die Gefahren der Parteilichkeit, die eine moralisch so saubere Position zu sein scheint?

 

 

Zu den wichtigsten Erkenntnissen der Sozialarbeitswissenschaft gehört eine Binsenweisheit. Es ist das Wissen um die Ambivalenz, die innere Widersprüchlichkeit von Personen und ihren Gefühlen … oder um es mit einem Wort von La Rochefoucault zu sagen: „Manchmal ist man von sich ebenso verschieden, wie von anderen.“ Hinter dieses Wissen darf es kein Zurück geben, so wie es in der Naturwissenschaft kein Zurück hinter die Relativitätstheorie mehr geben kann.

Ich habe über Parteilichkeit als untauglichen Versuch des Auflösens von Widersprüchen gesprochen. Der andere Versuch, den beschriebenen Konflikt aufzulösen, ist die Entscheidung für klare Distanz. Sie kennen die Tendenzen zu einer Technologisierung der Sozialarbeit. Die Illusion, mit einer standardisierten Abfolge von Diagnose, Planung und Intervention Soziale Arbeit berechenbar und verrechenbar zu machen und gleichzeitig ihre Professionalität zu heben. Eine Reihe von Trägern Sozialer Arbeit versuchen unter Anwendung von Konzepten wie „New Public Management“ oder „Neue Steuerung“ neue Anläufe zu einer technokratischen oder eigentlich bürokratischen rigideren Strukturierung der Sozialarbeit. Eigentlich ablauflogisch gedachte Konzepte wie das des Case Management werden in Formularform gegossen. Es wird so getan, als erschöpfe sich Sozialarbeit in der passgenauen und sparsamen Vermittlung von Ressourcen. Die Fiktion einer präzisen Diagnose und schematische Zielvereinbarungen sollen die Unsicherheit und den dialogischen Charakter des Hilfsprozesses eliminieren zugunsten von Berechenbarkeit und Planbarkeit. Die Angebotspalette der Einrichtung wird zum Diagnoseraster, ein Verstehen und Bearbeiten in der Sprache und im Rhythmus des Falles wird ersetzt durch die Sprache und den Rhythmus der Organisation. Die Standardisierung von Angeboten und Arbeitsabläufen hat Vorrang vor fallbezogener Flexibilität.

Das Verführerische daran ist, dass die einfache und relativ gedankenlose Handhabung von Macht ermöglicht wird. Der Duktus des Assessmentformulars legitimiert schnelle Kategorisierungen. Vorgefertigte Vereinbarungen erzeugen die Illusion einer freien Zustimmung, eines „informed consent“ der KlientInnen. Sind sie nicht sehr erfahren, haben sie nur eine geringe Chance, den Gang der Dinge nennenswert zu beeinflussen.

Auch dieser Ansatz fällt hinter die Möglichkeiten der Sozialarbeit weit zurück.

Der Versuch, die Widersprüche und Unsicherheiten, die der Profession eingeschrieben sind, zu vermeiden, führt unweigerlich zu ethisch bedenklichen Strategien. Wir können die grundsätzliche ethische Fragwürdigkeit unserer Interventionen zwar versuchen, aus unserem Bewusstsein zu verbannen, wir können das aber nur um den Preis eines Verlustes von Professionalität und Qualität unserer Arbeit.

3.

Kommen wir zu einem Resümee.

Die Stärke der Sozialarbeit liegt in ihrer Alltagsorientierung, also in ihrer Orientierung auf die Frage der Lebensbewältigung in Würde unter welchen Bedingungen auch immer (unter Einschluss der Option, diese Bedingungen wenn möglich zum Besseren zu ändern). Sie ist wirksam, weil sie pragmatisch ist. Ihre Methode ist das Spiel mit Nähe und Fremdheit. Ihre Werkzeuge sind (durchaus in dieser Reihenfolge): Interessiert sein,Verhandeln, Vermitteln, Verstehen.

Sie ist stets angebunden an den gesellschaftlichen Mainstream und bewegt sich doch konsequent im fremden Land. Es ist ihr Wesen, sich auf knifflige praktisch-ethische und moralische Fragen einzulassen und einlassen zu müssen. Sie muss diese Fragen aber nicht grundsätzlich klären,sondern nur fallbezogen und alltagsbezogen. Sie hat die rechtlichen Normen dafür im Hintergrund als referenz, und kommt immer wieder zu erstaunlichen Interpretationen dieser Normen. Sozialarbeit ist eine Profession praktischer Ethik. Oder, wie wir in einem Buchtitel ironisch formuliert haben, sie ist eine moralische Profession.

Es mag der Eindruck entstanden sein, als hielte ich Sozialarbeit für eine Arbeit nur mit Randgruppen und Minderheiten. Das ist sie natürlich nicht, in zunehmenden Maße gewinnt sie Bedeutung für Menschen aus allen Schichten, die ihren beruflichen und/oder häuslichen Alltag in dieser immer unübersichtlicher werdenden Welt nicht mehr verstehen, die ihren Alltag oder Segmente ihres Alltags kurz- oder mittelfristig nicht mehr verstehen und nicht mehr bewältigen können. Beratung, Supervision und Coaching sind solche Sozialarbeits-Varianten, die sich ganz dezidiert nicht an die Armen und an die Außenseiter wenden. Der Verlust an Verbindlichkeiten und allgemein anerkannten Ritualen und Formeln zur Bewältigung von Lebenskrisen ist aber universell, er trifft alle Schichten. Die Weltbilder und Bezugssysteme von Personen der gleichen Schicht können voneinander gehörig abweichen. Ich habe mit Michalski gesagt, die Welt sei unheilbar heterogen. Auch die „herrschende Kultur“ selbst ist unheilbar heterogen geworden. Und was früher sicher war, worauf man sein Alltagsverständnis bauen konnte, wird unklar.

In einer solchen Welt werden einige Fähigkeiten und Fertigkeiten immer wertvoller, die zum selbstverständlichen Repertoire der Sozialarbeit gehören:
zu sehen, wie fremd wir einander sind;
bei aller Fremdheit sich doch auf die Suche nach Anschlussstellen zu machen;
den Dialog aufzunehmen und zu Verhandeln;
die Kunst zu beherrschen, Unvereinbares unvereinbar bleiben zu lassen, und dennoch Verbindungen zu schaffen;
die Anstrengung des Verstehens mit dem Bewusstsein seiner Bruchstückhaftigkeit auf sich zu nehmen;
und schließlich, Wege der sozialen und persönlichen Veränderung zu entdecken, freizulegen und offenzuhalten.

Was Sozialarbeit über den Einzelfall hinaus leisten kann, ist, neue Rituale zur Bewältigung von Alltagskonflikten und Krisen des Alltagslebens zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen. Das traditionelle Repertoire der Kulturen von Taufe, Hochzeit, Gerichtsverhandlungen etc. reicht für den komplizierter und komplexer gewordenen Alltag in der Gesellschaft der zweiten Moderne längst nicht mehr aus. Gefordert ist die Entwicklung einer differenzierteren und allgemein zugänglichen sozialen Technologie der Alltagsmeisterung und Alltagsgestaltung. Dazu kann Sozialarbeit entscheidende Beiträge leisten.

Gleichzeitig müssen wir die Freude am Schwierigen, an dem, was derzeit noch unmöglich scheint, kultivieren, um uns die Tugenden einer entwickelten Profession anzueignen. Am besten schult man diese Freude in einem ständigen Diskurs über schwierige Fälle. Dieser Diskurs darf nicht nur in der Intimität des Supervisionssettings geführt werden. Die Fachöffentlichkeit ist der richtige Ort dafür: Fachzeitschriften, Mailinglists, Seminare. Die nahezu vergessene Kunst der Kasuistik ist unverzichtbar für die Schärfung unseres Fachverstandes. Durch sie kann uns klar werden, dass schwierige Fälle keine Belastung, sondern eine faszinierende Herausforderung sind. Sie sind die Quelle von Innovationen. Durch die Falldiskussionen finden wir neue Wege und machen sie in der Profession bekannt.

Damit ist auch klar, dass alle Kolleginnen und Kollegen permanent am Diskurs der Profession teilhaben müssen. Der Abschluss des Sozialarbeitsstudiums ist die erste Etappe des Lernprozesses und keine hinreichende Qualifikation für den Rest der Berufslaufbahn. Es müssen viele weitere Etappen des Lernens und der Aneignung des Neuen folgen. Auch die Sozialarbeitswissenschaft lernt dazu und vergrößert ihr Repertoire. Werden wir eine wissbegierige Profession.

Im Bewusstsein dessen, dass wir wichtige Lebensfragen der Gesellschaft bearbeiten, benötigen wir die aktive Einmischung in Debatten über das Gesundheits- und Sozialwesen, über Migration, Minderheitenrechte, Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit, über die Zukunft Europas. Eine Einmischung, die sich nicht auf Anklagen beschränkt, sondern mit dem Blick auf die Lebensbedingungen des Alltags die Expertise der Profession als Leitprofession des Sozialwesens formuliert. Die Berücksichtigung dieser Expertise muss mit der gleichen Selbstverständlichkeit eingefordert werden, wie dies die Medizin im Gesundheitswesen tut. Werden wir eine Profession von Expertinnen des Alltagslebens und der Alltagsbewältigung.

Und schließlich werden wir eine selbstkritische Debatte über gute und schlechte Sozialarbeit führen müssen: Nicht alles, was unter dem Signum Sozialarbeit getan wird, ist zum Nutzen unseres Klientels. Werden wir eine selbstreflexive Profession, die an sich selbst hohe Maßstäbe anlegt.

Sozialarbeit ist mit ihrem Know-how für die europäische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts unverzichtbar. Sie hat ein noch lange nicht voll ausgeschöpftes Potenzial professioneller Entwicklung.

Ich möchte mit einem abgewandelten Wort des großen Philosophen Ludwig Wittgenstein schließen: Die Sozialarbeit löst die Knoten im Alltag von Menschen in dieser europäischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts auf; daher muss ihr Resultat einfach sein, ihre Tätigkeit aber so kompliziert, wie die Knoten, die sie auflöst.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen in Ihrer Arbeit: komplizierte Knoten, verzwickte Fälle, spannende Diskussionen und viele anregende Konflikte.