Zettelkasten

Vom Warten der Toten

Erstellt am Dienstag, 30. Dezember 2014 12:41

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Einige Überlegungen zur Auferstehung – wie kann das funktionieren?

Das Warten der Toten

Peter Pantuček-Eisenbacher, Dezember 2014

 „Das Warten der Toten außerhalb des Dorfes, im Schatten hoher Bäume hinter einem Metalltor, schien mir ganz natürlich. Der Friedhof schmiegte sich ans Leben wie die Haut sich an den Körper. Eines Tages würden sie auferstehen. Wir würden uns mit ihnen treffen. Wahrscheinlich hatte ich deshalb keine Angst.“

Andrzej Stasiuk

Die Auferstehung: Mit welchem Alter werden sie auferstehen? Meine Großmutter als Kind eines mährischen Dorfes, als junge hübsche Frau in Rumänien, als mehrfache Mutter im Marchfeld, als Neo-Wienerin im zweiten Weltkrieg – geprägt vom Leiden des Mannes zum Tode, oder als alte Frau, grantig und an den Rand gedrängt vom jungen Leben im Haus, der Schwiegertochter und 2 Kindern.

Wird sie alterslos sein? Wird sie ortlos sein? Nicht mehr mährisch, nicht mehr rumänisch, nicht mehr in Angern, nicht mehr in Wien? Und wie wird es mir gehen, auferstanden? Wie soll ich mich orientieren, wenn die Menschen (die Seelen) nicht mehr älter oder jünger sind als ich, nicht mehr verortbar. Sie werden auch keinen Beruf mehr haben, nehme ich an. Was sollte Ihnen ein Beruf in einer entmaterialisierten Welt? Was würde sie dann noch ausmachen?

Könnte meine Großmutter alles gleichzeitig sein? Die junge und die alte Frau, die Tochter und Mutter, wie könnte ich zu ihr diesfalls Kontakt aufnehmen? Könnte ich mit ihr über anderes sprechen, als über das Menschsein ganz allgemein? Wäre sie verbittert, weil sie in diesem bösen 20. Jahrhundert ihr irdisches Dasein hatte absolvieren müssen?

Und als welcher trete ich, Auferstandener, ihr gegenüber? In welchem Körper? Wie soll ich mich zu ihr positionieren, wenn es den Altersunterschied nicht mehr gibt, wenn sie eine Gleichzeitige ist, und nicht eine Vorgängerin? Bin ich dann wie ein Bruder zu ihr, und gleichzeitig zu meinem Vater, meiner Mutter? Finden sie eine Möglichkeit, sich zu mir in Beziehung zu setzen, wenn sie nicht mehr meine Eltern sind, oder wenn sie es noch sind, auch sind, und doch gleich alt oder gleich alterslos, Geschwister mir wie ihren eigenen Eltern und Großeltern und Urgroßeltern und Ururgroßeltern und ihren Enkeln und Großenkeln?

Worüber werden wir reden? Wieder und immer wieder über jene begrenzten Jahre, die uns auf Erden gegeben waren? Wie genau wird unsere Erinnerung sein? Präziser als im Erdenleben? Oder werden wir auf ewig streiten über unsere ungenauen, überformten und abgeschliffenen Narrative über unsere Erdenleben? Werden wir sie weiter abschleifen, bis sie jeden Bezug verloren haben zu dem, was einst unser (einziges) Leben war, was immer tiefer in eine immer fernere Vergangenheit sinkt?

Oder werden wir, alle Menschen aller Generationen, für alle Zeiten räsonnieren über diese sowohl gelungene als auch misslungene Art und Weise, wie wir als Menschheit unser Dasein in der kurzen Phase unserer irdischen Existenz gestaltet haben? Werden wir ungeduldig die neuen Auferstandenen erwarten, um sie zur Rede zu stellen über ihr Leben, ihre Taten? Werden wir besserwisserische Vorfahren sein, gestärkt durch die Diskurse mit den Menschen aller Generationen, die den Neuankömmlingen die Leviten lesen können?

Werden wir den weiteren Verlauf der irdischen Geschichte aufgeregt beobachten, ihn kommentieren, mitfiebern? Werden wir genau auf unsere Nachkommen achten, hoffend, dass sie sich bewähren? Wie werden wir reagieren, wenn unsere Kinder, unsere Enkel und Urenkel andere Wege gehen? Werden wir genug Wohlwollen haben, um auch ihre Verfehlungen, ihre Untaten zu ertragen?

Werden wir Auferstandenen schlafen können? Werden wir, wenn wir es können, ruhig schlafen können, oder werden wir Albträume haben, in denen unsere Nachfahren sich unwürdig erweisen, unsere Nachfahren zu sein?

Werden wir neue Gelegenheiten zur Bewährung haben? Werden wir wieder versagen dürfen, lernen dadurch, neues entdecken dürfen und neue gelingende und nicht-gelingende Beziehungen eingehen können? Oder nichts von alledem? In Ewigkeit?

Andrzej Stasiuks Vision ist ja vielleicht eine realistischere: Die Toten, die in unsere Welt zurückkehren. Sie tun das in unseren Träumen, in unseren Erinnerungen und Fantasien, wo wir uns mit ihnen treffen, wo sie ihre Kommentare abgeben, selbst wenn sie stumm bleiben; wo wir ihnen verzeihen können oder sie anklagen, ihnen ein wenig Zeit opfern können oder ein Huhn. Aufgehoben sind ihre Errungenschaften bei uns, manche ihrer Fehler baden wir aus, sie sind uns vorausgesetzt, nicht vorgesetzt. Wir haben gewonnen, wir leben noch, aber wir sind gezeichnet von unserem Sieg wie von anderen Siegen auch.

Quelle:

Stasiuk, Andrzej (2013): Die Wüste Gobi. In: Lettre International Nr. 103, S. 11-13.