Netzwerke, soziales Kapital und Zivilgesellschaft
Eine allgemeine Einführung zur Netzwerkarbeit |
Beitrag für den Band "Handbuch Methoden der Kinder- und Jugendarbeit", hsg. von Karl-Heinz Braun, Bernd Dobesberger, Konstanze Wetzel u.a., erscheint 2005 im LIT-Verlag (Münster/Wien).
--> Rezension des Bandes |
Dezember 2004
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9.1.1. Selbstorganisation und Staat Kein Mensch ist allein, keine Organisation ist die einzige in ihrem Feld. Es sind immer schon andere da, es waren immer schon andere da, und zwar mehr als man kennt. Es sind auch wesentlich mehr, als man mit eigenen Bemühungen um Kontakt und Kommunikation erreichen kann. Unter dem Stichwort Netzwerkarbeit wird die Frage abgehandelt, wie diese Kontakte auszuwählen und zu gestalten sind. Zumindest geht es um folgende Ebenen: a) Hilfe für die Kinder und Jugendlichen, ihr eigenes, höchst persönliches, Netzwerk zu erhalten, auszubauen und krisensicher zu machen b) Arbeit mit den relevanten Personen und Organisationen im Lebensfeld der Kinder und Jugendlichen c) Aufbau von Kooperationsbeziehungen zu anderen Organisationen, deren Wissen und Tätigkeit Bezug zur eigenen Arbeit hat Als theoretischer Hintergrund steht für diese Aufgaben eine Fülle von Literatur zur Verfügung (1), die sich mit der Organisation des gesellschaftlichen Lebens bottom up beschäftigt, d.h. nicht unter dem Aspekt der hierarchischen Organisation von oben nach unten, sondern unter dem Aspekt der Selbstorganisation. Diese Selbstorganisation funktioniert neben und alternativ zu den formalen Strukturen des Staates. Inzwischen wurde erkannt, dass diese Strukturen für das Funktionieren sowohl der Gesellschaft im Allgmeinen als auch individuellen Lebens im Besonderen essenziell sind. Wenn vereinfachend etwa von einem Gegensatz oder Spannunsgfeld zwischen Individuum und Gesellschaft gesprochen wurde, so verdeckte das, dass das Feld der Gesellschaft selbst heterogen ist, sich hier verschiedene Systemebenen aufschichten, die miteinander in Konkurrenz und/oder in einem wechselseitigen Ergänzungsverhältnis stehen. Von einem einigermaßen homogenen Körper der Gesellschaft kann also kaum gesprochen werden und der Staat oder die Nation als Bilder eines vermeintlich geschlossenen Systems wurden abgelöst von einer differenzierteren Sicht. Heute würde es abgesehen von einigen stark rechtslastigen Politikern kaum mehr jemandem einfallen, von Volksgemeinschaft zu sprechen, wie dies etwa noch Alice Salomon als Urmutter deutscher Sozialer Arbeit in den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts getan hat. Allenfalls wurde noch die Familie als Keimzelle des Staates in Betracht gezogen, wobei auch diese durch eine angeblich naturhaft gegebene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Hierarchisierung in mikroskopischer Form die Organisation des Staates und der Gesellschaft widerspiegle. Eine besondere Rolle bei der heutigen Sicht vom Funktionieren der Gesellschaft, die keineswegs mehr nur national gedacht wird, spielen Metaphern, die die hierarchische und letztlich homogene Aufschichtung der Gesellschaft durch andere Bilder in Frage stellen. Eine dieser Metaphern ist die der Zivilgesellschaft, eine die des Netzwerks. In diesem Beitrag sollen einige der zentralen Begriffe und Sichtweisen vorgestellt werden, die für eine bewusste Gestaltung und Nutzung der Potenziale von Selbstorganisation des (letztlich immer) gemeinschaftlichen (also: auf andere Menschen bezogenen, mit deren Leben und Handeln verwobenen) Lebens essenziell und hilfreich sein können. Das Auswahlkriterium ist, wie sollte es hier anders sein, die Praxis der Sozialen Arbeit. Was in dieser relevant werden kann, das versuche ich in der Folge als theoretisches und begriffliches Werkzeug zur Verfügung zu stellen. 9.1.2 Personenzentrierte Netzwerke Als Infrastruktur der Lebensführung können wir jene gesellschaftlichen Funktions- und Regelsysteme voraussetzen, mithilfe derer wir unser Überleben im engen und Leben im weiteren Sinne organisieren (müssen): Die Organisation der Wirtschaft, des Finanzwesens, der Sozialversicherung, des Rechtssystems, die Normensysteme (z.B. jene, die die moralischen Verpflichtungen gegenüber Verwandten regeln). Die Möglichkeit, unser Leben auf heutigem menschlichem Niveau durch Jagen und Sammeln im Verband der Sippe zu sichern, besteht praktisch nicht mehr (2). In allem, was wir tun, um unser Leben und unsere Lebensmittel zu sichern, sind wir auf diese Systeme verwiesen. Sie sind uns vorausgesetzt, und günstigenfalls haben wir gelernt, mit ihnen zurande zu kommen. Trotzdem und notwendigerweise treten in der alltäglichen Lebensführung immer wieder Probleme auf. Einen Großteil der Probleme des Alltags und der Lebensführung können Personen mithilfe ihres lebensweltlichen Netzwerks also der Menschen, die sie kennen und zu denen sie Zugang haben ganz ohne Zutun von professionellen Helferinnen und Helfern lösen. Soweit ihnen das möglich ist, werden sie das auch tun und der Eingriff von unterstützenden Funktionssystemen der Gesellschaft wäre eher störend als nützlich. Erst dort, wo natürliche Netze der Verwandtschaft, von FreundInnen und KollegInnen nicht hinreichen, ist gesellschaftlich organisierte Hilfe gefragt und sinnvoll. Und es gibt eine Reihe von guten Gründen, dass natürliche Netze nicht mehr alle nötigen Aufgaben erfüllen können: a) die sogenannte zweite Moderne hat eine Pluralisierung von Lebenslagen und möglichen Lebensentwürfen mit sich gebracht. Neben den scheinbar naheliegenden Formen der Lebensgestaltung werden auch andere Formen denkbar. Für jene anderen Entwürfe finden sich im lebensweltlichen Umfeld oft nicht die geeigneten BeraterInnen. b) Wir befinden uns in einer heißen Phase der gesellschaftlichen Entwicklung: Das Leben der Großeltern kann nicht mehr umstandslos Vorbild für das eigene Leben sein, und deren Bewältigungsstrategien wären für die Enkel oft kontraproduktiv. Die Lebensverhältnisse und die Anforderungen ändern sich rasch. c) Die Anforderungsstrukturen des Arbeitsmarktes und anderer Funktionssysteme fördern die Individualisierung, selbstständige Entscheidungen der Individuen und die Fähigkeit, sich ohne systematische Verständigung oder gewohnheitsmäßigem Abgleich der eigenen Aktionen mit den Wünschen und Traditionen der eigenen Herkunftsgruppe bewegen zu können. Das selbstständig entscheidende Individuum wird vorausgesetzt. Die größere Selbstständigkeit, die Freiheit der individuellen Entscheidung, storniert die Bedeutung lebensweltlicher Netze wie jene der Verwandtschaft, der Peer-Groups, von Freundes- und KollegInnenkreisen jedoch keineswegs. Im Gegenteil wird auf neue Art die Unterstützung durch das lebensweltliche Umfeld zu einer Ressource, deren Qualität die Chancen auf individuellen Erfolg entscheidend mitbestimmt. Auf niedrigem Niveau der Inklusion bleiben die basalen Netze der Verwandtschaft jene, die auch im Krisenfall Unterstützung bereitstellen und ein völliges Herausfallen aus allen gesellschaftlichen Bezügen verhindern können. In akuten Lebenskrisen entscheidet die Qualität der basalen Netze wesentlich über die Chancen zur Bewältigung. Trotz des unbestreitbaren Gewinns an individueller Freiheit, der mit den entscheidenden Lockerungen der Abhängigkeit von verwandtschaftlichen Beziehungen durch Individualisierung, Rechts- und Sozialstaatlichkeit verbunden ist, bleiben also die lockereren und gestaltbarer gewordenen Beziehungen im lebensweltlichen Umfeld eine wichtige und manchmal entscheidende Komponente der Lebenssicherung. Wird in der Sozialen Arbeit von personenzentrierten Netzwerken gesprochen (3), so ist damit vorerst einmal ein bestimmter Aspekt gemeint, unter dem man sich der Komplexität von Beziehungen zwischen Menschen nähert. Eine Person, in aller Regel der Klient bzw. die Klientin, wird als Zentrum eines Koordinatensystems gedacht, in dem sich dann die Beziehungen dieser Person zu den Menschen des lebensweltlichen Umfelds entfalten. Beachtet man die Nähe/Distanz dieser Personen zur Ankerperson, beachtet man auch die Kontakte der Menschen des Umfelds untereinander (in denen sie Informationen auch über die Ankerperson austauschen und sich ggf. absprechen), so ergibt sich um die Ankerperson ein Netz von Beziehungen. In erster Linie interessieren diese Beziehungen unter dem Aspekt möglicher Unterstützung bei der Bewältigung von Problemen der Lebensführung, deshalb wird auch oft von einem Unterstützungsnetzwerk gesprochen. Aber mögliche Unterstützung ist nur ein Aspekt personenzentrierter Netzwerkbeziehungen. Wie wir alle wissen, können die Beziehungen zu unseren Mitmenschen nicht nur unterstützend, sondern mitunter auch anstrengend, belastend, ja geradezu schädlich sein. Sie sind ambivalent. Sie beinhalten sowohl unterstützende wie auch belastende Momente. 9.1.3. Natürliche und professionelle Netzwerke Als gleichsam natürlich erscheinen jene Netzwerksektoren, die nicht über Funktionssysteme der Gesellschaft bereitgestellt werden. Jene Netzwerke werden oft auch als lebensweltliche Netze bezeichnet. In erster Linie ist dabei an das Verwandtschaftsnetzwerk gedacht, aber auch an jene Personen, die die Menschen bereits in ihrem Umfeld vorfinden und mit denen sie kommunizieren. Das Spektrum reicht also von den eigenen Eltern über Freunde/Bekannte bis zur Friseurin oder zum Würstlverkäufer. Davon werden die professionellen Hilfssysteme unterschieden. Unterstützung geben die Angehörigen dieser Systeme in ihrer beruflichen Rolle. Das Engagement der professionellen Hilfssysteme wird subsidiär gedacht: Sie nehmen jene Aufgaben wahr, die innerhalb des natürlichen lebensweltlichen Netzes nicht gelöst werden können. So notwendig professionelle Hilfe in der Gesellschaft der Moderne zur Sicherung der Lebensführung für viele Individuen ist, birgt sie doch auch eine Gefahr in sich: Zumal professionellen HelferInnen als Lösung für Probleme aller Art immer wieder zuerst andere professionelle Hilfen einfallen (institution led assessment), haben professionelle Netze die Tendenz zu wachsen und dabei die Kontakte der PatientInnen/KlientInnen zu ihrem natürlichen Netz zu ersetzen. In einer ersten, frühen Phase der Unterstützung ist das Vorhandensein professioneller Netze geeignet, die Autonomie der Unterstützung suchenden Personen zu erhöhen, indem sie sie unabhängiger machen von den spezifischen Stärken und Schwächen, aber auch Normen ihres unmittelbaren persönlichen Umfelds. In der Folge allerdings kann es sein, dass die Abhängigkeit vom lebensweltlichen Netz durch die Abhängigkeit vom professionellen Netz ersetzt wird. Netzwerkorientierte Soziale Arbeit versucht, dieser Tendenz entgegen zu wirken und richtet ihr Augenmerk auf die Stärkung der Funktionalität der lebensweltlichen Netze. 9.1.4 Lebens- und Zugangschancen: Das soziale Kapital Pierre Bourdieu hat in die Diskussion die Benennung von Formen des Kapitals eingeführt (4), die von Individuen eingesetzt und vermehrt werden können. Er sprach neben dem ökonomischen auch von symbolischem, kulturellem und sozialem Kapital. In unserem Zusammenhang interessiert vor allem letzteres. Unter sozialem Kapital wird die Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Ressourcen verstanden, die mit der Teilhabe an dem Netz der sozialen Beziehungen, des gegenseitigen Kennens und Anerkennens, verbunden sind. Soziales Kapital bietet für das Individuum einen Zugang zu den Ressourcen des sozialen und gesellschaftlichen Lebens wie Unterstützung, Hilfeleistung, Anerkennung, Wissen und Verbindungen bis hin zum Finden von Arbeits- und Ausbildungsplätzen. Aus dem Kennen von Personen kann ein Informationsvorsprung entstehen (beispielsweise das Wissen um einen neuen Job, der noch nicht offiziell ausgeschrieben ist), der dann auch in einen Vertrauensvorschuss "umgemünzt" werden kann (wenn der Bewerber sich gegenüber dem Personalchef auf gemeinsame Bekannte als Informationsquelle beruft). Es ist also einsichtig, dass das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von sozialem Kapital die Lebenschancen wesentlich beeinflusst. Netzwerkorientierte Soziale Arbeit interessiert sich daher für das soziale Kapital der Kinder und Jugendlichen und deren Eltern, versucht es wenn erforderlich zu ersetzen oder beim Erwerb von neuen Kontakten behilflich zu sein (5). In der amerikanischen Diskussion (z.B. Fukuyama, Putnam) wird Sozialkapital eher als eine gesellschaftliche Ressource verstanden, nämlich als die Fähigkeit einer Gesellschaft zur Zusammenarbeit und zur Vernetzung. In wesentlichem Ausmaß ist die Existenz von nichtstaatlichen Organisationen zur Erbringung öffentlicher Leistungen Ausdruck dieses Sozialkapitals. Das führt uns zum nächsten Begriff, dem wir uns in Zusammenhang mit sozialen Netzen widmen sollten, nämlich dem der Zivilgesellschaft. 9.1.5 Gesellschaftliche Selbstorganisation: die Zivilgesellschaft Der Terminus Zivilgesellschaft verweist auf jene Sphäre bürgerschaftlicher Selbstorganisation, die neben den staatlichen Organisationen existiert, gesellschaftliche Aufgaben übernimmt, die Gestaltung des Zusammenlebens wesentlich garantiert, und in der BürgerInnen ihre Interessen artikulieren. Sowohl Sportvereine als auch soziale Dienstleister wie die Caritas und Foren öffentlicher Meinungsbildung und Diskussion sind also Organisationen der Zivilgesellschaft. Eine entwickelte Zivilgesellschaft ist für funktionierende Demokratie unerlässlich. Nur durch sie besteht die Möglichkeit freier Interessenartikulation, und nur durch die Zivilgesellschaft wird eine totale Abhängigkeit der Individuen von staatlichen Entscheidungen verhindert. Ist also die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Zusammenschlüsse und Aktivitäten schon aus demokratiepolitischen Gründen wünschenswert, so stellen zivilgesellschaftliche Organisationsformen auch die wichtigsten Arenen für Partizipation und organisierte Solidarität dar. Soziale Arbeit, selbst oft in der Sphäre der Zivilgesellschaft angesiedelt, ist immer wieder auf lokale und regionale Netze verwiesen, um ihren KlientInnen Möglichkeiten sowohl der Hilfe als auch der Teilhabe zu eröffnen. Auf lokaler Ebene sind es oft traditionelle Vereine, die den Korpus der Zivilgesellschaft ausmachen: Sportvereine, Pfarrgemeinden, die freiwillige Feuerwehr. Aber auch Kulturinitiativen, die Gewerkschaftsjugend etc. spielen hier eine Rolle. Das Bestreben integrativer und inkludierender Sozialer Arbeit besteht darin, einerseits selbst solche Gemeinschaften auch abseits der traditionellen anzuregen und zu fördern, andererseits für das eigene Klientel Zugänge zu Gemeinschaften zu eröffnen, die ihnen sonst verwehrt wären. Dafür ist die Pflege von Kontakten zu den zivilgesellschaftlichen Organisationen unseres Arbeitsgebietes unerlässlich. Damit wären wir bei jener Frage, die im Rahmen dieses Handbuches am meisten interessiert, nämlich bei den Möglichkeiten methodischer Arbeit mit den Netzwerken. 9.1.6. Netzwerkarbeit als Kernaufgabe Sozialer Arbeit Wenn Netzwerke, von den Verwandtschaftlichen über die lokalen (zivil-)gesellschaftlichen bis zu den professionellen eine überragende Bedeutung für die Inklusionschancen haben, so muss eine systematische Arbeit an und mit diesen Netzen selbstverständlicher Bestandteil des Arbeitsspektrums Sozialer Arbeit sein. Tatsächlich zeigt sich eine Fülle von möglichen netzwerkbezogenen Interventionen der Sozialen Arbeit. Ich werde in der Folge beispielhaft solche Methoden anführen und kurz beschreiben (6). a) Personenzentrierte Netzwerke Die Arbeit an ihnen ist integraler Bestandteil von Individualhilfe. In der Kinder- und Jugendarbeit steht die Arbeit an personenzentrierten Netzen dann im Vordergrund, wenn wir einzelne Kinder und/oder Jugendliche in Problemsituationen unterstützen oder wenn wir auf ihre Lebenssituation konkret eingehend sie beraten. b) Netzwerk-Coaching Dies ist die Beratung und fallweise auch Begleitung von Kindern und Jugendlichen bei deren grundsätzlich eigenständigem Versuch, ihr lebensweltliches Netzwerk zu verbessern. Dazu gehören:
Beim Netzwerk-Coaching sollen die Kinder und Jugendlichen befähigt werden, sich Hilfe zu organisieren, und sie sollen lernen, durch eigenes unterstützendes Verhalten die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, im Bedarfsfall die benötigte Unterstützung auch zu bekommen. Netzwerk-Coaching ist in erster Linie eine unterstützende beratende Tätigkeit. Sie kann durch Trainings ergänzt werden.
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