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Das Dorf, der soziale Raum und das Lebensfeld.

Überlegungen zur Raumbezogenheit der Sozialen Arbeit
Peter Pantucek

Herbst 2007


Dieser vorliegende Text ist ein Auszug aus einem Work in Progress, einer grundlegenden Arbeit zur Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit. Er muss daher bruchstückhaft bleiben, und er wird Fragen offen lassen. Er bewegt sich nur am Rande des Themas dieses Bandes, weil er mehr an grundlegenden Fragen des theoretischen Verständnisses der Sozialen Arbeit als am ländlichen Raum interessiert zu sein scheint. Allerdings: Für die romantischen Vorstellungen von Gesellschaft und von deren Zusammenhalt sind die Bilder, die das Landleben liefert, nach wie vor von überragender Bedeutung. So ist das Schreiben über „rural areas“ immer auch ein Schreiben über die Gesellschaft als Ganzes. Und das Schreiben über die Soziale Arbeit als Profession, die diese Gesellschaft auch zu formen versucht, verbindet sich mit dem Bezug auf das Gedächtnis der Menschheit, für das der ländliche Raum der ursprüngliche Lebensraum ist. Die Sehnsucht nach dem Ländlichen ist die Sehnsucht nach den anthropologischen Wurzeln.

1. Ländlichkeit, Peripherie

Wenn in diesem Band vom ländlichen Raum, von der Peripherie, die Rede ist, dann handelt es sich zumeist um eine relative Peripherie. Es handelt sich um ländliche Regionen in einem der reichsten Staaten der Erde, in einem Europa, das sich selbst stets als Zentrum der Welt verstanden hat. Genauer betrachtet differenziert sich dieses Europa in Regionen sehr unterschiedlichen Zuschnitts – und diese Regionen wiederum in kleinere Räume mit unterschiedlichen Lebensbedingungen und Chancen für ihre BewohnerInnen. Global gesehen befinden wir uns (noch) im Zentrum, auch wenn sich die Schwerpunkte der Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung bereits nach Asien verlagert haben mögen.

Was denn nun die Charakteristika des ländlichen Raums sind, ist längst nicht so klar, wie es die Bilder suggerieren, die wir bei der Rede vom „Land“ im Gegensatz zur „Stadt“ in uns aufsteigen lassen. In Österreich fallen uns da Kühe auf der Weide ein, Wald, Dörfer, Dorfwirtshäuser. Der eine oder die andere KandidatIn für einen Studienplatz an der Fachhochschule erzählt – auf die dörfliche Herkunft angesprochen – von der Nähe zur „Natur“. Für die österreichischen ländlichen Regionen gilt allerdings längst, was mir in einem Gespräch beim zweiten Achterl Grünen Veltliner Grant Duncan über seine Heimat Neuseeland gesagt hat: „This nature is fucked by man“, sie hat nichts Unberührtes mehr, sie ist selbst ein Kunstprodukt, ein Ergebnis der manchmal systematischen, manchmal chaotischen Bewirtschaftung und Formung durch die Menschen.

Interessant ist hier der Gegensatz zwischen den sich aufdrängenden Vorstellungen und der vorfindlichen, der empirischen Welt. Nirgends ist er so groß wie beim ländlichen Raum, beim Dorf. Das liegt an der überragenden Bedeutung, die der ländliche Raum für das Gedächtnis der Menschheit hat, für das „kollektive Unbewusste“ – um einen Jung’schen Terminus zu bemühen.

Im empirisch vorfindlichen ländlichen Raum in Zentraleuropa (über die Schwierigkeiten, diesen überhaupt zu definieren, vgl. Schwarz 2007:21-29) bilden die Dörfer keine Gemeinschaften mehr, in denen Arbeit, Bewirtschaftung der Naturressourcen und Organisation des Lebens zusammenfallen. Die Mehrzahl der BewohnerInnen geht ihrer Arbeit an anderen Orten nach, was bleibt, sind Restbestände der traditionellen Form der Vergemeinschaftung, aber eben nur noch Restbestände. Was ebenfalls bleibt (oder sich wegen der Erodierung der Dorfgemeinschaft verstärkt), sind die weiten Wege zu Versorgungseinrichtungen, die relative Abgeschiedenheit von der vollen Vielfalt des modernen gesellschaftlichen Lebens. Noch sind Dörfer unterkomplex im Vergleich zur Gesellschaft als Ganzes und unterkomplex im Vergleich zum städtischen Raum. Die politischen Entscheidungsstrukturen sind kleinräumiger, der Einfluss der BürgerInnen auf die kommunalpolitischen Entscheidungen größer. Darin liegt ihr romantischer Charme, darin liegt allerdings auch die Besonderheit ihrer Position auf der Landkarte der Sozialen Arbeit.

2. Der Raum

Zuerst zum Raumverständnis, das diesen Überlegungen zugrunde liegt: Als „Raum“ werden nicht nur (aber auch) die realen Topografien des Lebens verstanden: euklidische Räume, in einem ganz unmetaphorischen Sinne jener mit Körpern (in einem weiten Sinne: belebten und unbelebten Körpern) ausgestattete und durch sie strukturierte Raum, in dem es Orte und Distanzen gibt, Wege und Sichtbar- bzw. Unsichtbarkeiten im wörtlichen Sinne. Es handelt sich um Raum, in dem man sich bewegen, den man (im Wortsinne) erobern und (im übertragenen Sinne) „sich erobern“ kann. Menschen sind in diesem Raum mit Hilfe ihres Körpers situiert, sind mit seiner Hilfe sichtbar und nehmen Raum ein. Über diesen Raum zu sprechen, heißt auch über Körperliches und über Dingliches – also über Materielles – zu sprechen. In diesem Raum kann man sich einrichten, kann ihn abschreiten, durchmessen – das alles im wörtlichen Sinne. In ihm ist man mit seinem Körper präsent oder durch Artefakte, die auf „je mich“ verweisen, die ich als Person in diesem Raum positioniert bzw. hinterlassen habe. Dazu gehören Dinge, die auch für andere sichtbar sind: für den „Wanderer“, für die „Flaneurin“, also für jene Menschen, die den Raum mithilfe der Beweglichkeit ihres Körpers durchmessen. Menschen bewohnen, bevölkern, gestalten solche Räume, und diese Räume sind gegliedert und ausgestaltet mit den Hinterlassenschaften der Menschheit. Neben diesen Hinterlassenschaften menschlicher Aktivitäten und menschlicher Lebensführung finden sich hier allerdings auch Gegenstände und Lebewesen, deren Präsenz keiner menschlichen Intention zugeordnet werden kann. Für sie wird gemeinhin der Begriff „Natur“ verwendet, ihr wird eine Eigengesetzlichkeit zugestanden.

Das „Dorf“ ist im Gedächtnis der Menschheit mit der Natur verbunden. Es hängt von ihr ab, es ist der Ort, an dem Menschen den produktiven produzierenden Dialog mit der Natur als Teil ihrer Lebensführung (oder: ihres „Lebenskampfes“, wie man früher oft sagte) organisierten, sich Refugien in Form von Häusern schufen und einen Raum der Kooperation, der gegenseitigen Hilfe grundiert durch gegenseitige Verpflichtungen.

Die Stadt ist ein um ein Vielfaches vergrößertes Dorf. Sie lässt der menschlichen Gesellschaft mehr Raum, sie ist stärker abgeschottet gegen dieses gleichermaßen bedrohliche wie produktive Wesen „Natur“. In ihr tritt das Naturhafte der menschlichen Gesellschaft selbst in den Vordergrund. Sie ist zu groß, um noch „Gemeinschaft“ produzieren zu können – eine Schicksalsgemeinschaft angesichts existenzieller Gefährdung. Ausnahmen waren und sind Bedrohungsszenarien größerer Ordnung, die jedoch nicht mehr Bestandteil der alltäglichen Lebenserfahrung sind, sondern Ausnahmesituationen (früher z.B. Seuchen, Belagerung; aktueller z.B. New York nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center). In der Stadt verändert sich nicht nur das Verhältnis der Menschen zur Natur, sondern auch das Verhältnis zur Gesellschaft, die in ihrer Komplexität naturhafte Züge annimmt. Während im archaischen Dorf die Gemeinschaft durch die Präsenz, die Nähe der Natur erzwungen scheint, sind die Regeln des Zusammenlebens in der Stadt auf dem Humus der Menschheit selbst gewachsen.

Im topografisch gegliederten Raum der Gegenständlichkeit bewegen sich Menschen in ihrem alltäglichen Lebensprozess, und schon allein deshalb ist er interessant für die Soziale Arbeit, die diesen Lebensprozess zum Gegenstand hat. Als Spezialfall des Raumes (im Sinne der Kosmologie, der Physik und der Philosophie) ist dieser Raum fraglos vorhanden, dem menschlichen (Alltags-)Leben vorausgesetzt und folgt den Newton´schen Naturgesetzen. An ihm die Denkmodelle der Relativitätstheorie oder der Quantentheorie zu erproben, wäre vergebliche Liebesmüh’, brächte keine relevante Erkenntnis, sondern nur Verwirrung. Menschliches Alltagsleben vollzieht sich in einem Newton´schen Universum, in dem der Apfel zu Boden fällt, wenn man ihn loslässt.

Vollzieht es sich tatsächlich in einem Newton´schen Universum? Das trifft nicht ganz und immer weniger zu. Die menschliche Kommunikation wurde in den letzten Jahrhunderten zunehmend unabhängig von körperlicher Nähe. Wenn die Post für die Kommunikation über größere Distanzen noch den Preis der zeitlichen Verzögerung verlangte, machen die Telefonie und das E-Mail auch diesen Preis hinfällig. Was die Schnelligkeit betrifft, unterscheidet sich die Kommunikation über topografisch hochrelevante Distanzen hinweg nicht mehr oder kaum mehr von der Face-to-face-Kommunkation mit dem in meiner körperlichen Nähe anwesenden Anderen. So entstehen reale metaphorische Räume des sozialen Kontakts. Wenn soziale Systeme Systeme sind, die aus Kommunikation bestehen, dann sind sie nun grundsätzlich nicht mehr an die Voraussetzung der gleichzeitigen Anwesenheit in räumlicher Nähe gebunden. Wir haben Räume, die nicht mehr einen euklidischen und gegenständlichen Raum und eine gewisse Nähe innerhalb dieses gleichen Raumes zur Voraussetzung haben. Und trotzdem entfalten sich hier Räume: Die Kommunikation schafft, wo sie stattfindet, Zusammenhänge, Erwartbarkeiten und Austausch. Sie eröffnet einen Raum. Wo sie ist, ist Raum. Wo sie nicht ist, ist höchstens potenzieller Raum. Scheinbar losgelöst von der Körperlichkeit liegt es nahe, den Raum als Konstrukt zu begreifen, als etwas durch die kommunizierenden Menschen Gemachtes.

Metaphorische Räume mit relativer Unabhängigkeit von der Unmittelbarkeit des Face-to-face-Kontakts sind allerdings nicht völlig neu in der Entwicklung der Menschheit. Die Bildung menschlicher Gesellschaften war immer schon auf ein Netz von Verbindungen und Verbindlichkeiten angewiesen bzw. bediente sich dieses Netzes. Verbindlichkeiten, die auf Gabe und Gegengabe, auf der gedachten Zugehörigkeit zu Gemeinschaften etc. beruhten. Wenn man so will: Gesellschaft entsteht durch komplexe Kooperations- und Austauschverhältnisse und sie entsteht in den Köpfen. So werden Räume von Verbindlichkeiten, Abhängigkeiten und Verpflichtungen konstruiert. Diese gedachten Räume haben ihre Basis in ihrem alltäglichen Erfolg. Was man erwartet, tritt tatsächlich ein – zumindest in den meisten Fällen. Individuelle soziale Landkarten werden durch Erfahrung bestätigt, werden „gültig“. 

3. Topografien der Unterstützung

Wenn man nun Soziale Arbeit als wesensmäßig sozialraumbezogen versteht – und m.E. ist sie das als kunstgerechte professionelle Arbeit stets – dann kann sie sich im ländlichen Raum nicht grundsätzlich von der Arbeit in städtischen Räumen unterscheiden. Nicht grundsätzlich, das heißt aber auch, dass sie sich im Detail sehr wohl anderen Herausforderungen und Möglichkeiten gegenübersieht.

Was gleich bleibt, das sind unter anderem:

·      die gesetzlichen Grundlagen

·      das Funktionieren der Programme sozialer Unterstützung

·      die familiären Dynamiken

·      der logische Aufbau des Unterstützungsprozesses

·      die Methodik

Was zumindest die peripheren ländlichen Räume von städtischen Räumen unterscheidet, ist unter anderem: 

·      die Nähe kommunaler EntscheidungsträgerInnen

·      das Bestehen einer kleinräumig strukturierten, aber wenig differenzierten Zivilgesellschaft (keine Anschlussmöglichkeiten für Personen mit minoritären Lebensweisen)

·      die schwere Erreichbarkeit spezialisierter Angebote

·      intensivere soziale Kontrolle

·      der Mangel an Ausweichmöglichkeiten für schlecht eingebundene und wenig mobile Personen

Wie mir KollegInnen versichern, die im ländlichen Raum arbeiten, finden sich dort allerdings auch Formen extremer Armut und radikaler Einsamkeit.

Diese Differenzen erfordern in der Praxis Strategien der Sozialen Arbeit, die sich an die Verhältnisse der Peripherie „anschmiegen“, den Kontakt zu den lokalen Strukturen suchen, ohne sich deshalb von der Dynamik der Enge vereinnahmen zu lassen.

Die Herausforderung sozialräumlichen Arbeitens bleibt aber gleich, und sie besteht in erster Linie darin, sich nicht auf jene Topografien zu beschränken, die sich aufdrängen, die von selbst im Vordergrund stehen. Bleibt man bei den Bezügen, die sich auf den ersten Blick anbieten, wird eine Fülle von Ressourcen unbeachtet bleiben. Das heißt im Falle des Dorfes auch: Die Ressourcen des Dorfes sind zu beachten, sich auf sie zu beschränken wäre allerdings ein reduktionistischer Holzweg.

Die wenigsten Personen sind bloß in einer einzigen „objektiven“ Struktur verankert. Sie haben Verbindungen zu mehreren. Begabte „Networker“ im Organisationsbereich perfektionieren die Kunst, mannigfaltige Verbindungen und gegenseitige Verpflichtungen aufzubauen. Sie erstellen Konten des Gebens und Nehmens. Die Kunst besteht darin, diese Konten offenzuhalten, also nie völlig auszugleichen – damit werden sie am Leben erhalten und können stets wieder aktiviert werden. In kleinerem Ausmaß wird solches Networking auch weiter unten in der sozialen Pyramide betrieben. Personen, die von sozialen Ausschlussprozessen betroffen sind, gelingt dieses Networking allerdings immer schlechter. Bei zu vielen „Verrechnungskonten“ sind sie im Minus: Sie haben zu wenig gegeben und zu viel genommen. Das ist nicht nur peinlich, es legt auch nahe, Kontakte veröden zu lassen, bei denen man „Schulden“ hat. Verständlich – aber ungeschickt – ist es auch, jene Personen zu meiden, die (je) mir gegenüber selbst Schuld auf sich geladen haben. Die Kunst netzwerkbezogener Arbeit besteht darin, diese Kontakte für die KlientInnen zu aktivieren.

4. Totale und tendenziell totalitäre Institutionen

Für eine Theorie der Sozialen Arbeit (und für alle kleinräumigeren theoretischen Versuche in diesem Bezugsrahmen) ist der reflektierte Bezug auf die Organisationsgebundenheit der Sozialen Arbeit konstitutiv. Sozialarbeit ist eben nicht eine Profession, die in ihrem Kern ohne Organisationsbezug auskommt. So wie das Sozialwesen als Ganzes ein Substitut darstellt, einen Ersatz für die Inklusion in die „normalen“ Strukturen der Lebenssicherung, so kann die Soziale Arbeit sich selbst nicht ohne dieses System des Sozialwesens verstehen, das seine organisatorischen Ausprägungen zur Existenz benötigt. Berufliche Soziale Arbeit entstand erst mit der breiten Institutionalisierung des Sozialwesens. Sie konnte und kann zwar auf die jahrtausendelange Erfahrung mit (auch individuellen) Hilfstätigkeiten[1] zurückgreifen, als Beruf ist sie im Gegensatz zu den heilenden Berufen allerdings an die Organisation gebunden. Da sie es zuerst mit nicht zahlungsfähigem Klientel zu tun hat, benötigt sie die Beauftragung durch die Gesellschaft, benötigt sie das Politische, die Organisation, die Geld für ihre Tätigkeit zu lukrieren versteht. Daher ist ihr der Grundkonflikt eingeschrieben, der die gesellschaftlichen Lösungsversuche für den Umgang mit den Exkludierten bestimmt: Der Konflikt zwischen Strategien der Kasernierung der Ausgeschlossenen in Ghettos und der Versuche, sie in die Gesellschaft und ihre „normalen“ Strukturen hereinzuholen. 

Eine „totale Institution“ (Goffman 1972) schneidet die Personen von ihren „natürlichen“ Verbindungen ab, macht sie in ihrer sozialen Existenz überschaubar, indem sie das objektive Netz der Organisation und die subjektiven Netze der Insassen zur Übereinstimmung zu bringen versucht. Totale Institutionen sind seltener geworden, aber vielen Organisationen des Sozialwesens wohnt die Tendenz zur Totalität inne. Das Konzept der totalen Institution scheint mir ein analytisch hilfreiches zu sein, weil es Tendenzen von Organisationen erkennbar macht. Das sind Tendenzen zur Schließung des Raumes, zur Erlangung der Kontrolle über alle wesentlichen Bedingungen des eigenen „Erfolgs“.

Anhand mehrerer Indikatoren ließe sich eine Skala generieren, auf der Organisationen in ihrer Nähe oder Ferne zur totalen Institution verortet werden können. Solche Indikatoren könnten sein:

·      Wie rigide ist die Unterscheidung zwischen „drinnen“ und „draußen“?

·      Wird den KlientInnen Unterwerfung unter die Regeln der Organisation abverlangt?

·      Wie weitgehend greifen die Regeln in die autonome Lebensführung der KlientInnen ein?

·      Welcher Zeitaufwand wird den KlientInnen von der Organisation abverlangt?

·      Welche Einflussmöglichkeiten haben KlientInnen auf das Programm?

·      Führt das Programm zu einer Intensivierung oder zu einer Verarmung des Austauschs der KlientInnen mit ihrem „natürlichen“ Netz?

Wenn wir also das Konzept der „totalen Institution“ nicht als Beschreibung bestimmter Organisationstypen (Gefängnisse, Armee etc.) betrachten, sondern als Idealtypus, als Abstraktion, die wir zur Analyse verwenden, dann können wir auch an Institutionen, die auf den ersten Blick nicht in diese Kategorie fallen, Strukturmerkmale von totalen Institutionen erkennen: Aspekte, die zu einer Isolierung der KlientInnen, zu einer Schwächung ihres Status als BürgerInnen beitragen.

Wenn Luhmann Menschen nicht als Elemente der Organisation sieht[2], so hat diese Tatsache (der zahlreichen Außenbezüge der Organisationsmitglieder) dann etwas Bedrohliches, wenn eine mechanistische Steuerung der Organisation erheischt ist. Die Unkontrollierbarkeit und Unberechenbarkeit der Organisationsmitglieder ergibt sich wesentlich aus ihren Außenbezügen, die organisationsfremde Interessen und Sichtweisen unkontrolliert in den Mechanismus der Organisation einspeisen.

5. Sozialarbeit , Organisation, Lebensräume

Wenn Sozialarbeit, wie ich behaupte, eine gleichzeitig radikal individualisierende wie an der Entwicklung des Gemeinwesens (des „bonum commune“, nicht notwendigerweise der engen Gemeinde im Verwaltungssinn) interessierte Zunft ist, dann hat sie in ihrer Arbeit die Vielfältigkeit der individuellen Zugehörigkeiten und die reiche Gliederung der individuellen Topografien und Verpflichtungsnetze zu fördern. Dadurch kommen allerdings auch die „objektiven“ Netze in den Blick, das heißt die überindividuellen Strukturen, an denen die Individuen teilnehmen und teilhaben. Es sind Möglichkeitsstrukturen, die sowohl individuell erschlossen als auch aufnahmebereiter gemacht werden können.

In der Betrachtung der Strukturen sozialer Beziehungen können wir zwischen „objektiven“ Strukturen und personenzentrierten Strukturen (Netzen) unterscheiden. Diese Unterscheidung ist eine des Beobachters: Zeichnet man Beziehungsnetze, kann man sich dafür entscheiden, von einer Ankerperson auszugehen und sich auf die Darstellung der für diese Person relevanten Beziehungen beschränken. Oder man kann z.B. eine Gemeinde, eine Organisation als Bezugsfeld nehmen und wird dann ein unzentriertes Netz erhalten. Die klassische Gemeinwesenarbeit hat sich für die zweite Variante entschieden. Lebensweltorientierung steht eher für die Arbeit mit personenzentrierten Netzen. In unserem Verständnis sozialraumorientierter Sozialer Arbeit werden die beiden Varianten als miteinander verbunden gesehen: Die Eine ist Bedingung der Anderen. Sozialraumorientierung beginnt bei der Wahrnehmung des weiteren sozialen Netzes der KlientInnen und erkennt die Struktur der „objektiven“ (also unzentrierten) Netze als beeinflussbare Rahmenbedingung.

Die Trias von personzentrierter, personenübergreifender und personenunspezifischer Arbeit[3] ergibt zusammen erst ein komplettes Verständnis sozialraumorientierter Sozialer Arbeit. Fallspezifisch, das heißt die Sicht auf die vorhandenen und potenziellen Netze der KlientInnen, die Optimierung dieser Netze durch die fallbezogene Sozialarbeit. Fallübergreifend, das heißt, dass durch die Förderung der personenbezogenen Netzwerkstrukturen gleichzeitig Möglichkeitsräume gegenseitiger Aufmerksamkeit und Unterstützung auch für andere Personen eröffnet werden. Fallunspezifisch, das ist die Arbeit zur Optimierung der „objektiven“, der nicht-personenzentrierten Netze, zum Beispiel eines Gemeinwesens oder einer Internet-Community.

Als selbst notorisch institutionell eingebundene Profession steht der Sozialarbeit hierfür das symbolische und soziale Kapital ihrer jeweiligen Institution zur Verfügung, gleichzeitig drängt die organisationsinterne Dynamik allerdings auf Schließung, auf Planbarkeit und daher auf Eliminierung „nicht nötiger“ anderer Bezüge der KlientInnen.

Wir können diese Schließung an der Falldefinition und der Fallbearbeitung untersuchen. Wir können aber auch nach den innerorganisatorischen (und vielleicht doch auch berufstypischen) Mechanismen fragen, die für die häufig zu beobachtende radikale Unterordnung der Fachkräfte unter die Organisation führt – schließlich erfordert diese Unterordnung das aktive „Vergessen“ von Gelerntem: in der hochschulischen Lehre der Sozialen Arbeit wird implizit von einer recht hohen Autonomie der Fachkräfte ausgegangen[4]. Diese Annahme gerät im Zuge von Praktika der Studierenden bereits in Bedrängnis: Die Studierenden kommen dort mit den durch die Organisationslogiken dominierten Praxisformen in Berührung und kehren an die Hochschule mit der Überzeugung zurück, nun das „wirkliche Leben“ gesehen zu haben, das sich doch sehr deutlich von den hohen akademischen Forderungen nach Autonomie und Selbstreflexion unterscheide. Die Erfahrung der (bis zu einem gewissen Grad anscheinend notwendigen) arroganten Selbstgewissheit der organisatorischen Praxen kann sich im schlechtesten Fall zu einer Reflexions- und Theoriefeindlichkeit der Studierenden transformieren. Aber auch der umgekehrte Effekt ist denkbar und beobachtbar: Die Studierenden entwickeln im Praktikum eine von den PraktikerInnen als Hochmut empfundene Distanz zur vorfindlichen Praxis, die sie an den Ansprüchen der Hochschule messen.

Viele SozialarbeiterInnen entwickeln beim Umgang mit diesem Widerspruch zwischen professionellen Idealen und organisationsgeprägter Praxis einen Gestus der Kritik, die sich an „der Gesellschaft“ mit ihren antisozialen Tendenzen abarbeitet, nicht jedoch an der eigenen Fallpraxis. Damit kann die alltägliche Konfrontation mit der Organisation vermieden werden bzw. können vorhandene eigene Verantwortungsspielräume „übersehen“ und einer opportunistischen Praxis in der Fallbearbeitung großer Raum gelassen werden[5].

6. Personzentrierte sozialräumliche Arbeit

Wir können nun bestimmen, was m.E. den Kern des sozialräumlichen Ansatzes in der Sozialarbeit ausmacht: Er ist ein ständiges Anrennen gegen den Mechanismus der Schließung und der Tendenz zur Formierung totaler Institutionen, die dem Managerialismus innewohnt. Zuerst bedeutet Sozialraumorientierung ein Aufmachen der Wahrnehmung: Die subjektiven Topografien des Lebens können die Wegweiser für diese stets neue Expedition in die große weite Welt sein, daher sind Heuristiken der sozialen Diagnostik (Netzwerkkarte etc.) ein möglicher erster Schritt zur Realisierung eines sozialräumlichen Arbeitsprinzips. Die fallbezogene Strategie, die an diesen Netzwerken (mit Soll-Netzwerken als fallbezogene Folie wünschenswerter multipler und dadurch gegeneinander ausspielbarer Abhängigkeiten) anknüpft, verweist auf ausweichende Taktiken, auf Veränderungen mit der Organisation als Katalysator und nicht mehr als „Lösung“. Die Lösung wird in einer Stärkung oder Aktivierung verödeter Bindungen und in einer Bereicherung und Differenzierung der Netzwerkbeziehungen gesucht. Wenn man so will: Es werden Abhängigkeiten geschaffen, um Abhängigkeit im Singular zu verhindern.

Dabei ist nicht immer zu verhindern, dass die KlientInnen vorerst EmpfängerInnen von Unterstützung sind, d.h. dass die „Verrechnungskonten“, die (wieder) aktiviert werden, vorerst einmal im Minus sind. Jene, die wieder in Austauschbeziehungen mit den KlientInnen treten, erhalten vorerst moralische Benefits (Erfüllen einer verantwortlichen Rolle). Sozialraumbezogene Interventionspolitik bietet Deutungen an, die diesen moralischen Benefit hervorstreichen. Sie sollte allerdings auch Ressourcen zur Verfügung haben, die stellvertretend für die KlientInnen auch durch materielle Anreize die „Kontobewegungen“ ausgeglichener gestalten können.

Ist dieses „Spacing“, die Ausweitung des Wahrnehmungs- und Interventionsfeldes, nun legitim? Entspricht sie dem Auftrag oder wird sie den Fragen, die der Fall stellt, aufgepfropft? Ist sie Teil einer expertokratischen Strategie?

Generell gesehen ist dies m.E. nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Betrachten wir, wie sich in der Sozialarbeit ein Fall konstituiert und wie er durch die Aktivitäten von KlientIn und SozialarbeiterIn konstruiert wird.

Der Fall konstituiert sich als solcher vorerst dadurch, dass jemand ein Problem definiert und ein/e SozialarbeiterIn anhand dieses präsentierten Problems („presented problem“ als beratungstechnischer Terminus) in einen Beratungsprozess einsteigt (also: die Rolle des/der BeraterIn übernimmt). Die erste Phase des Beratungsprozesses kreist i.d.R. um das präsentierte Problem und seinen Kontext, an der Problemdefinition wird gearbeitet. Dabei ist nötigenfalls das Problem so umzuformulieren, dass es eine bearbeitbare Struktur aufweist. Ein Problem ist dann bearbeitbar, wenn ein Aktor benannt ist, der bereit ist, Energie aufzuwenden, um ein Hindernis auf dem Weg von einem beschriebenen IST-Zustand zu einem (wie auch immer vage benannten) Ziel (SOLL-Zustand) zu überwinden (vgl. Brauchlin/Heene 1995).

Die präsentierten Probleme, mit denen Sozialarbeit konfrontiert wird bzw. für die sich SozialarbeiterInnen zuständig zu erklären bereit sind (bzw. ihnen institutionell diese Zuständigkeit zugewiesen wird), sind i.d.R. Probleme eines gestörten, nicht funktionierenden oder gefährdeten Alltags[6]. Oft werden bereits bei der ersten Problemformulierung andere Personen benannt, die in das Problem involviert sind, ja mitunter werden diese anderen Personen sogar als „Ort“ des Problems identifiziert. Man könnte also sagen, dass viele präsentierte Probleme, vor allem, wenn sie von den KlientInnen genannt werden und nicht von überweisenden Stellen, bereits ein erstes „Spacing“ enthalten. Sie entfalten einen (wenn auch vorerst meist nur kleinen) sozialen Raum.

Im Zuge der „Zurichtung“ des präsentierten Problems, also auf dem Weg vom präsentierten Problem zum bearbeitbaren Problem (bzw. zur Definition von Zielen) sind nun folgende Aufgaben zu erledigen: 

1) die Einsetzung des/der KlientIn in die Problemformulierung als Aktor, also als Subjekt, das die Bereitschaft bekundet, Energie zur Lösung aufzuwenden und das das Problem als eigenes (Handlungs-)Problem erkennt und bezeichnet.

2) die Kontextualisierung des Problems, also der Aufbau eines Bildes von dem Szenario, das als relevant für die Konstituierung, Reproduktion und Lösung des Problems angesehen wird.

Die Individualisierung der Problemdefinition (Aufgabe 1) ist zwar operativ erforderlich, um einen sozialarbeiterischen Beratungsprozess starten zu können, aber sie birgt auch Gefahren: Um zu KlientInnen werden zu können, müssen die AdressatInnen sich selbst als „ProblemeignerInnen“ definieren. Man geht also in den sprachlichen Bildern aus dem möglicherweise durch das präsentierte Problem eröffneten Raum zurück auf die Person. Erforderlich ist das, weil man die Person als handelndes Zentrum braucht: Der Raum ist ohne AkteurInnen nicht zu gestalten. Der Raum wird also eingeengt, um ein Zentrum zu generieren, von dem aus dann wieder der Raum entfaltet werden kann. Die Gefahr liegt darin, dass Personen selbst – metaphorisch gesprochen  – nicht Punkte, sondern Räume (Systeme, genauer: Agglomerationen von Systemen) sind und sich durch die Zentrierung ein personeninterner Raum öffnet, in dem agiert werden kann. Wird es versäumt, durch die Kontextualisierung (Aufgabe 2) diesen Raum wieder zu öffnen, die Person also als Zentrum eines größeren Raumes und so als relative Einheit (als gedachten Punkt) zu setzen, bleibt die Bearbeitung der internen Prozesse der Person übrig. In einer extremen Ausformung wäre das eine Psychotherapie, die sich um die reale Beschaffenheit der Welt nicht kümmert, sondern die personeninternen Prozesse allein zum Beratungsthema macht[7].

Die Konzentration der Beratung auf die inneren Widersprüche der KlientInnen (also das „Spacing“ der Person, die Auffaltung eines inneren Raumes, einer inneren Landschaft) ist keineswegs immer ein Kunstfehler. Ganz im Gegenteil ist sie notwendiger Bestandteil aller Unterstützungsprozesse. Und manche dieser Prozesse können sich sogar auf eine Bearbeitung dieses inneren Raumes beschränken und doch erfolgreich sein. Das Kriterium dafür, ob eine solche Beschränkung „legitim“ ist oder nicht, ist, ob das Haupthindernis[8] auf dem Weg vom IST zum SOLL in der Person lokalisiert werden kann oder nicht. Um diese Frage zu klären, muss allerdings der soziale Raum angesehen werden. Wir können also für die Sozialarbeit jedenfalls als Kunstfehler feststellen, wenn eine Überprüfung des weiteren Raumes (des Lebensfeldes) gar nicht erfolgt. In diesem Fall wäre nämlich eine Entscheidung für eine Konzentration auf den inneren Raum nicht aufgrund einer Problem- und Situationsanalyse getroffen worden, sondern quasi ohne Ansehung des Falles bereits vorentschieden. Sie wäre hiermit eine bloß ideologisch zu begründende Entscheidung der Sozialarbeiterin.

7. Sozialraumbezogen Arbeiten in der Peripherie

Sozialraumorientierung erfordert also auch eine Herangehensweise an den Einzelfall, die Räume des Kontextes eröffnet und nicht schließt, die Hinweise auf die soziale Dimension des Problems nicht ignoriert, sondern aufgreift. Programmatisch wäre das für die personzentrierte Soziale Arbeit noch auszubuchstabieren[9], wobei es zwei Aspekte sind, die für Sozialarbeit relevant scheinen: Erstens das soziale Netz der Beziehungen zu Personen, kartographiert durch die Netzwerkkarte, zweitens die Inklusion der Personen in die gesellschaftlichen Funktionssysteme, diagnostisch erfasst durch die Inklusions-Chart (beides: Pantucek 2005).

Wo am Beginn eines Fallbearbeitungsprozesses nicht personenzentrierte Problemformulierungen, sondern gemeinwesenbezogene stehen, wäre als Merkmal einer sozialarbeiterischen Herangehensweise (im Gegensatz zu einer stadtplanerischen, geographischen, ethnologischen, soziologischen etc.) die Aufmerksamkeit auf die AkteurInnen zu benennen. Die Prozesse der Beauftragung und Auftragsaushandlung sind auch in Gemeinwesen personengebunden, verhandeln die Position von Personen in Gemeinwesen und Gesellschaft.

In diesem Verständnis von Sozialer Arbeit als Profession, die gleichzeitig sozialraumbezogen ist (sein muss), und Individualisierung zu ihrer Voraussetzung und als Orientierungspunkt hat, bleiben individuelle und kollektive Schicksale untrennbar miteinander verbunden. Sie sucht im Einzelfall das Gemeinwesen und im Gemeinwesen den Einzelfall.

Die Arbeit in peripheren Regionen ermöglicht einerseits den Rückgriff auf kollektive Phantasmen wie die Gemeinschaft des Dorfes, andererseits ist sie auch mit der Enge – nicht nur der Organisation, sondern auch der kleinen und überschaubaren Gemeinschaft – konfrontiert. Diese sowohl zu nutzen, als auch tendenziell zu überschreiten, das ist die Kunst sozialraumorientierten Arbeitens im ländlichen Raum. In der personzentrierten Arbeit sind die Bezüge zur erweiterten (auch entfernt wohnenden) Familie, die Möglichkeiten der Überschreitungen dörflichen Rahmens zu erkunden und zu fördern. In der gemeinwesenbezogenen Arbeit sind es die Kontakte der AkteurInnen in dorfübergreifenden sozialen Netzen, die potenziell für die Gemeinschaft des Ortes nützlich sind und die Aufmerksamkeit verdienen. Soziale Arbeit beweist ihre Professionalität nicht in der Schließung, sondern in der Öffnung der Perspektiven. Damit stößt sie immer wieder auf gegenläufige Tendenzen von Gemeinwesen und (ihren eigenen) Organisationen. Ohne einen bewussten Umgang mit diesen Widersprüchen bleibt sie hinter ihren Möglichkeiten weit zurück – in urbanen und in ländlichen Settings.

 

Literatur

 

BRAUCHLIN, E. / HEENE, R. (1995): Problemlösungs- und Entscheidungsmethodik: eine Einführung. 4., vollständig überarbeitete Auflage, Bern und Stuttgart.

BUDDE, Wolfgang / FRÜCHTEL Frank (2005): Fall und Feld. Oder was in der sozialraumorientierten Fallarbeit mit Netzwerken zu machen ist, Das Beispiel Eco-Mapping und Genogrammarbeit, in: sozialmagazin Nr. 6., 14-23.

GOFFMAN, Erving (1972): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt/M.

LÖCHERBACH, Peter (2003): Einsatz der Methode Case Management in Deutschland: Übersicht zur Praxis im Sozial- und Gesundheitswesen. In: Vortrag auf dem Augsburger Nachsorgesymposium am 24.5.2003.

PANTUCEK, Peter (2005): Soziale Diagnostik. Verfahren für die Praxis Sozialer Arbeit, Wien und Köln.

PANTUCEK, Peter (2006): Fallstudien als “Königsdisziplin” sozialarbeitswissenschaftlichen Forschens. In: FLAKER, Vito / SCHMID, Tom (Hg.): Von der Idee zur Forschungsarbeit. Forschen in Sozialarbeit und Sozialwissenschaft, Wien, 159-177.

REUTLINGER, Christian Thomas (2005): Räume von den Menschen her denken! In: LUTZ, Ronald (Hg.): Befreiende Sozialarbeit. Skizzen einer Vision, Oldenburg, 61-76.

SCHWARZ, Hansjürgen (2007): Wohnungssicherung im ländlichen Raum. Ein Beispiel ländlicher Sozialarbeit in Österreich, Diplomarbeit an der FH St.Pölten, St. Pölten.

VOLZ, Fritz Rüdiger (2006): Gabe und “condicio humana” – Sozialanthropologische und ethische Zugänge zum Gabe-Handeln. In: Fundraising Akademie (Hg.): Handbuch für Grundlagen, Strategien und Instrumente. 3. Neuauflage.



[1] zum Beispiel auf die Erfahrungen, wann und wie Gespräche hilfreich sein können.

[2] Die Entscheidung, sich bei der Analyse von Sozialen Systemen für „Kommunikation“ anstatt für „Personen“ als Elemente der Sozialen Systeme zu entscheiden, wie sie von Luhmann getroffen wurde, eröffnet m.E. wesentlich interessantere Einblicke und ein differenzierteres Verstehen von Sozialen Systemen. Unter anderem trägt diese Entscheidung dem Fakt Rechnung, dass Personen sich gegenüber Sozialen Systemen, in die sie eingebunden sind (in deren Kommunikation sie eingebunden sind), stets auch distanziert verhalten (können), wesentlich mehr Rechnung, als die von der Schweizer Schule (im Gefolge von Staub-Bernasconi) präferierte Sichtweise. Personen sind eben nicht als Ganze („mit Haut und Haaren“) in Soziale Systeme inkludiert, von ihnen damit auch nicht völlig abhängig. Personen bleiben in ihrer Totalität eigenständig (wenn auch nicht unabhängig).

[3] Ich verwende hier bewusst nicht die im Diskurs des Sozialraumkonzepts gebräuchlichen Bezeichnungen „fallspezifisch, fallübergreifend und fallunspezifisch“, da in unserem Verständnis ein „Fall“ auch bei gemeinwesenbezogenen Interventionen vorliegt. Ein „Fall“ ist u.E. immer dann gegeben, wenn aufgrund einer Problemdefinition Soziale Arbeit tätig wird und Interventionen setzt. Zum Fallbegriff sh. Pantucek 2006.

[4] Ich kann das hier nur behaupten, nicht jedoch belegen. Logisch wäre dieser Widerspruch jedoch begründbar: Die Lehre bildet sich in den meisten Hochschulen als eine professionsbezogene heraus und ist nicht direkt an Trägerorganisationen gebunden. Die Lehre steht in einem Konkurrenzverhältnis zu den Organisationen und muss daher ihre Deutungshoheit tendenziell gegen die organisationsbezogenen  Steuerungsbemühungen verteidigen. Die Trägerorganisationen mögen fallweise die Hochschulen als BeraterInnenpools heranziehen, sind aber naturgemäß nicht daran interessiert, die Hoheit darüber abzugeben, was als angemessene und regelgerechte Arbeit zu gelten hat.

[5] Es geht ganz offensichtlich in der Alltagspraxis gut zusammen, sich gleichzeitig über die „soziale Kälte“ in der Gesellschaft zu beschweren und den eigenen KlientInnen gegenüber rigid zu agieren, ihnen zum Beispiel die Unterstützung zu entziehen, wenn sie „nicht kooperieren“ oder „keine Problemeinsicht haben“.

[6] In der Literatur finden sich auch andere Definitionen z.B. habe es Sozialarbeit mit Problemen der „Lebensbewältigung“ zu tun. Mir scheint dies nur für einen Teil der präsentierten Probleme zuzutreffen, der Begriff zu stark, zu emphatisch zu sein. Charakteristisch für viele Fälle der Sozialarbeit ist gerade die Beschäftigung mit scheinbaren Kleinigkeiten des Alltags.

[7] Dies trifft keineswegs auf alle Formen und Schulen der Psychotherapie zu.

[8] Was denn nun das „Haupthindernis“ sei, ist eine Frage, die bloß pragmatisch entschieden werden kann: In sie fließt notwendigerweise auch ein, wie aussichtsreich die Versuche zur Änderung relevanter Parameter sein mögen. So könnte man als bedeutendstes Hindernis für die Lösung eines individuellen Problems die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung identifizieren, diese steht aber in der Fallbearbeitung nicht zur Disposition. Man wird also wohl oder übel „erreichbare“ Hindernisse als die bedeutendsten definieren müssen, deren Beseitigung zwar geringeren Aufwand, aber auch geringeren Effekt verheißt, als die (wohl illusorische) Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Dieses Kalkül kann im Nahraum des Falles noch einmal wirksam werden: Bestimmte Aspekte der Situation mögen wenig beeinflussbar erscheinen und daher aus dem Bearbeitungsprogramm ausgeblendet oder als invariant gesetzt werden.

[9] Am Beispiel der Familiensozialarbeit haben z.B. Budde und Früchtel (2005) Hinweise für ein „Spacing“ des Fallverständnisses gegeben.