Theorie mit Leidenschaft.Ilse Arlt und aktuelle Fragen der Sozialen Arbeit.
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Maria Maiss / Peter Pantucek
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im Juni 2008
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Ilse Arlt |
2007 wurde an der FH St. Pölten (Österreich) das Ilse Arlt Institut für Soziale Inklusionsforschung gegründet. In einem Kolloquium wurden das Wirken und Denken der Pionierin einer wissenschaftlichen Sozialen Arbeit gewürdigt und Bezüge zu aktuellen Fragen der Sozialen Arbeit und ihrer Wissenschaft hergestellt. Die längst fällige breitere Rezeption der Arlt´schen Schriften sollte damit angeregt werden. Dieser Beitrag skizziert einige Linien des Werks, in den nächsten Monaten werden die Beiträge zum Kolloquium in einem Reader gesammelt erscheinen. Die Reedition der Hauptwerke „Die Grundlagen der Fürsorge“ (1921) und „Wege zu einer Fürsorgewissenschaft“ (1958) ist in Vorbereitung. Zu einer Zeit, in der im deutschsprachigen Fachdiskurs die Frage nach der Notwendigkeit, den Möglichkeiten und Grenzen, Soziale Arbeit als eigenständige wissenschaftliche Disziplin theoretisch zu fundieren, zunehmend reger diskutiert wird, kann an einschlägigen Gedanken, wie sie bereits in den 20er Jahren bis hinauf in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts von Ilse Arlt entwickelt wurden, nicht vorbeigegangen werden. Nachdem die Gründerin der ersten Fürsorgeschule der Österrreich-Ungarischen Monarchie[1] und Verfasserin zentraler fürsorgetheoretischer Werke und Lehrbücher nach dem zweiten Weltkrieg sowohl in einschlägigen Fachdiskursen als auch in den Curricula der praktischen Ausbildungsstätten für Sozialarbeit zunehmend in Vergessenheit geriet und ignoriert wurde, vollzieht sich seit gut zehn Jahren ein langsamer Prozess der Wiederentdeckung des Arlt'schen Gedankenguts. Eingeleitet wurde die aktuelle Rezeption 1995 durch eine verdienstvolle Diplomarbeit von Ursula Ertl zu Leben und Werk Ilse Arlts. Es folgte 1996 ein Beitrag Sylvia Staub-Bernasconis zu Arlts Bedürfnistheorie, dann nach langer Pause 2005 ein Band von Cornelia Frey, die Arlt als Vorläuferin systemischen Denkens in der Sozialen Arbeit zu verstehen versuchte. Leben und Werk Eine ihrer unveröffentlichten Autobiographien, die sich im Besitz der Österreichischen Akademie der Wissenschaften befindet, beginnt die in großbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsene Ilse Arlt (geb. am 1.Mai 1876 als drittes von vier Kindern, gestorben am 25. Jänner 1960) mit der Feststellung: „Sich zu bibliographieren ist dann ein Genuss, wenn Neigung und Zielsetzung stets übereinstimmten, wenn man also sein Leben so und nicht anders wiederholen möchte.“ (Arlt o.J., Ö.Ak. d. Wiss., S.1) Dieser Satz verwirrt, bedenkt man, dass Ilse Arlt[2] wegen eines jüdischen Großelternteils unter dem Naziregime Publikationsverbot erhielt und zusehen musste, wie ihre Schule geschlossen, ihre Schriften und eine umfangreiche Materialsammlung, welche die Grundlage eines geplanten Fürsorge- und Haushaltsmuseums bilden sollte, vernichtet wurden. Der Satz verwirrt, wenn man bedenkt, dass Ilse Arlt ihre nach dem Krieg wieder eröffnete Schule nach drei Jahren (1950) krankheitsbedingt und aufgrund großer finanzieller Schwierigkeiten endgültig schließen musste und ihren Lebensunterhalt im Alter mittels einer sehr bescheidenen Gnadenpension und zusätzlichen Einkünften aus der Vermietung eigener Wohnräume bestreiten musste. Der Satz verwirrt, zumal es Ilse Arlt nicht gegönnt war zu erleben, dass ihre theoretische Arbeit, von deren zukunftsweisender Bedeutung[3] sie zwar überzeugt war, in den Lehrplänen der später gegründeten Fürsorgeschulen der Stadt Wien[4] und der Caritas einen gebührenden Platz einnehmen würde. Bis es endlich soweit kam, verging beinahe ein halbes Jahrundert. Die Zeitspanne sozusagen, die es in Österreich brauchte, bis die Ausbildungsstätten für Sozialarbeit endlich den Fachhochschulstatus erlangten, damit auch einen öffentlichen Forschungsauftrag erhielten und in Folge dessen gerade wieder dort angelangt waren, wo Ilse Arlt vor langem war: bei einer Ausbildungsstätte, die zugleich Forschungsstätte ist. Worin bestand nun Arlts tiefste Neigung, die sie gleichzeitig zur Zielsetzung ihrer Arbeit machte, was ihr ermöglichte ihr Leben in der Rückschau als gelungen und wiederholenswert zu sehen? „Für mein fünftes Lebensjahr ist das schmerzhafte Grübeln über die Armut anderer ebenso nachweisbar, wie die Leidenschaft durch das Lernen.“ (Arlt: Ö.Ak. d. Wiss., S.1) Beides blieb für Arlt ihr Leben lang bestimmend. „... soviel ich mir auch aus Zeitungen und Büchern aneignete, so ernsthaft ich als Autodidakt Nationalökonomie und Sozialwissenschaften studierte, es dauerte bis in den Anfang meiner Zwanzigerjahre, bis mir die Erkenntnis aufdämmerte, nicht bloß ich sei so dumm, um zu wissen, wie man misshandelten Kindern, verlassenen Greisen, armen Frauen hilft, sondern dieses Wissen fehlte überhaupt.“ (ebd.) Diese Kritik an den defizitären Ansätzen der damaligen Nationalökonomie und Sozialwissenschaften, welche „nicht zu den letzten nicht mehr teilbaren Tatsachen vordrangen“ einerseits und den häufig ineffektiv und ineffizient arbeitenden freiwilligen Helfer-Vereinen andererseits ging einher mit der von Arlt immer klarer erkannten Notwendigkeit, die Hilfsprobleme nicht nur über die Stimme des guten Herzens, sondern „über Denken und Forschen“ lösen zu müssen. Dies beinhalte: „Messen der Armut, Kritik der Hilfsweisen, Lehrbarkeit des Fürsorgens“.(Arlt o.J., Ö.Ak. d. Wiss., S.3) An dieser selbst gesetzten Aufgabe, nämlich die Grundlagen einer eigenständigen Fürsorgewissenschaft basierend auf einer Armuts-, Bedürfnis- und Gedeihensforschung aufzuweisen, arbeitete Arlt unermüdlich bis zum Ende ihres Lebens: in ihrem zweiten zentralen Werk „Wege zu einer Fürsorgewissenschaft“, welches 1958, zwei Jahre vor ihrem Tod erschien, präzisierte, systematisierte und erweiterte sie Überlegungen ihrer früher verfassten Lehrbücher „Die Grundlagen der Fürsorge“ (1921) und „Die Gestaltung der Hilfe“ (1923). Indem es Arlt gelang, ihre brennendste Frage, die nach den letzten Ursachen von Armut und Wohlleben/Gedeihen zur selbst gewählten Zielsetzung zu machen und dieser ihrer Neigung entsprechend, d.h. lern- und forschungsfreudig auf den Grund zu gehen [was sie als Harmonie von egoistischer Lernfreude und altruistischer Wirkungsweite erfuhr, (Arlt o.J., Ö.Ak. d. Wiss., S.3] war es ihr vergönnt, sagen zu können, ihr Leben so und nicht anders wiederholen zu wollen. Bedenkt man Ilse Arlts Lebensführung und die positive Selbstbewertung derselben vor dem Hintergrund ihrer Konzepte der Bedürfnisökonomie und des schöpferischen Konsumhandelns, dann lassen sich, wie durch die folgenden Ausführungen deutlich werden wird, interessante Parallelen zwischen beiden Bereichen erkennen. Auf ihrem tiefen erfahrungsgesättigten und reflexiven Wissen über Möglichkeiten der gedeihlichen Lebensführung fußte auch der achtsame Umgang mit ihren Schülerinnen: „(...), wir drillen nicht, sondern wir führen jede Schülerin zu sich selbst und ihren ungeahnten inneren Möglichkeiten.“ (Arlt 1937: 16) Den Beruf der Wohlfahrtspflegerin[5] erachtete die liberal und humanistisch denkende Arlt, die sich in ihren ersten Publikationen mit der Berufstätigkeit von Frauen auseinander gesetzt hatte, als einen, der den emanzipatorischen Anforderungen ihrer Zeit bestmöglich entspreche, insofern er eine Kombination der alten Frauentradition des Helfens, des neuen Frauenwunsches zu studieren und der neuen Frauenpflicht des Erwerbens sei. Arlts Wohlfahrts- und Fürsorgetheorie Arlts Wohlfahrts- und Fürsorgeverständnis zielt auf die Beförderung des individuellen und gesellschaftlichen Gedeihens und basiert im Kern auf dem von ihr entworfenen Bedürfniskonzept und ihrer Auffassung von einem schöpferischen Konsumhandeln. Im Zentrum ihrer Arbeit an den Grundlagen einer eigenständigen Fürsorgewissenschaft, steht die Erforschung des Phänomens Armut. Gleichwohl richtet sie ihr Interesse nicht allein auf dieses, sondern auf das Verhältnis von Armut und Gedeihen. Damit betont sie, dass Armut keine festgemachte Tatsache, kein schicksalhafter Zustand ist, sondern eine prozessuale und multikausal bedingte Mangelbefindlichkeit, die in unterschiedlicher Weise von einem hinreichenden Niveau des menschlichen Wohllebens oder Gedeihens abweicht. Da Armut eine Negation ausdrücke, könne sie nicht Ausgangspunkt für eine positive Arbeit, wie sie die Wohlfahrtspflege darstelle, sein. In dieser gelte es vielmehr vordergründig das Positive, d.h. das menschliche Gedeihen ins Auge zu fassen. In diesem Sinne dürfe sich die Wohlfahrtspflege nicht auf die Linderung von Leiden beschränken, sondern habe der Beförderung der Lebensfreude zu dienen. (vgl. Arlt 1958: 38) Die Armutsforschung müsse, so Arlt, bei der Ergründung der basalen menschlichen Bedürfnisse oder Gedeihenserfordernisse beginnen. Diese seien u.a. aus den beobachtbaren und messbaren Gedeihensmängeln zu erschließen. (vgl. Arlt 1958: 60) Arlt wählt damit eine anthropologische Perspektive, die nach den gemeinsamen Merkmalen und Grundvoraussetzungen der menschlichen Lebensweise fragt. Diese Weichenstellung ist insofern wichtig, als lediglich aus plausiblen gemeinsamen Grundvoraussetzungen für ein menschengerechtes Leben oder Gedeihen allgemeine menschliche Ansprüche und Rechte hinsichtlich der Befriedigung der lebensförderlichen Bedürfnisse abgeleitet werden können. Im Zentrum von Arlts Überlegungen steht die Frage, wie sich die Phänomene Armut und Gedeihen (auf der Mikro- und Makroebene) zueinander verhalten und wie dieses Verhältnis durch die Kunst einer ökonomischen Lebensführung und Bedürfnisbefriedigung gestalterisch beeinflusst werden kann. Sie prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des „schöpferischen Konsumieren-Könnens“. Was versteht sie darunter? Arlt wendet sich kritisch gegen die auch heute dominante Auffassung, den Konsum primär als Motor der Produktion zu verstehen. Konsum (d.h. Verbrauch, Verzehr, Genuss) bedeute vielmehr menschliche Bedürfnisbefriedigung, Entwicklung und Entfaltung. Konsumieren sei untrennbar auch mit Akten des Wollens, Verstehens und Urteilens verknüpft. „Konsum ist eine schöpferische Potenz, jedoch nur der freigewählte, eigenständige Konsum.“ (Arlt 1958: 74) Ob wir uns einer primär fremdbestimmten, bürokratisch, politisch oder kommerziell geregelten Weise des Konsumierens unterordnen oder das Konsumieren als Akt der Selbstbestimmung i.S. von vernünftig und kreativ gestalteter Bedürfnisbefriedigung und -entfaltung verstehen, die dem Aufbau der Persönlichkeit dient, ist nicht zuletzt entscheidend für die Gestaltung wohlfahrtspflegerischer bzw. sozialarbeiterischer Interventionen oder Dienstleistungen. Folgen wir den Argumenten Arlts, dann resultiert daraus eine konsequente Orientierung an den Bedürfnissen und den aktuellen und potenziellen Stärken oder Ressourcen der unterschiedlich sozial verorteten, vernetzen und verbundenen Personen. Aus dieser Abkehr von einer Orientierung an den Defiziten resultiert auch das Arlt’sche Postulat, nach welchem das Ziel professioneller Fürsorge/Wohlfahrtspflege in der Steigerung der Lebensfreude, welche ja nicht zuletzt dem Bewusstsein um die eigenen Kräfte entwächst, besteht und nicht lediglich im Lindern von Leiden. (vgl. Arlt 1958: 38) In ihrer Bedürfnistheorie unterscheidet Arlt 13 Bedürfnisklassen: (1) Luft/Licht/Wärme/Wasser, (2) Ernährung, (3) Wohnen, (4) Körperpflege, (5) Kleidung, (6) ärztliche Hilfe und Krankenpflege, (7) Unfallverhütung und Erste Hilfe, (8) Erholung, (9) Familienleben, (10) Erziehung, (11) Rechtspflege, (12) Ausbildung zu wirtschaftlicher Tüchtigkeit, (13) Geistespflege (Moral, Ethik, Religion). (vgl. Arlt 1958:62) Wie unschwer zu erkennen ist, sind diese Lebensbedürfnisse[6] in unterschiedlicher Weise miteinander verbunden, sodass sich die Qualität der Befriedigung eines bestimmten Bedürfnisses auf die Qualität der Befriedigung der anderen und das menschliche Gedeihen insgesamt auswirkt. Die Bedürfnisbefriedigung ist nach Arlt abhängig von den verfügbaren ökonomischen Mitteln, von eigenen oder fremdem Fähigkeiten und Wissen und von der Möglichkeit über die eigene Zeit und die Zeit anderer zu verfügen. (vgl. Arlt 1921: 32) Genauso, wie die Bedürfnisbefriedigung Gefahr laufen kann, die Schwelle zum Luxus hin zu überschreiten, kann sie auch Gefahr laufen, eine bestimmbare „Notschwelle“ zu unterschreiten. Mit dem Begriff der Notschwelle bezeichnet Arlt einen jedem Grundbedürfnis entsprechenden Entbehrungszustand, der nicht weiter unterschritten werden darf, da dies zu beträchtlichen Schädigungen für den Einzelnen und seine Umwelt führt. (vgl. Arlt 1921: 33) Aus der Tatsache, dass diese Notschwellen beobachtbar bzw. empirisch bestimmbar sind, leitet Arlt die zentrale Aufgabe und Verantwortung professionell tätiger Wohlfahrtspfleger/innen ab: Die Kunst derselben bestehe wesentlich darin, in jedem spezifischen Einzelfall zwischen einer einfachen und noch zureichenden Befriedigung und einer ggf. vorliegenden Unterbefriedigung eines bestimmten Bedürfnisses zu unterscheiden. Dies ermögliche einerseits jene Fälle zu orten, wo Gefahr im Verzug ist und andererseits die jeweils vorhandenen Vermögen und Ressourcen zur Bedürfnisregulierung und -befriedigung zu erkennen, auf welchen wohlfahrtspflegerische Zuwendungen aufzubauen haben. (vgl. Arlt 1931: 42) Für Arlt stellt eine wissenschaftlich fundierte Bedürfniskunde, welche die allgemeinen menschlichen Grundbedürfnisse sowie angemessene bzw. gerechte Modi der Bedürfnisbefriedigung sukzessive besser zu erfassen vermag, die zentrale Wissensgrundlage für professionelle Fürsorgedienstleistende dar. Auf Grundlage dieser habe die Bestimmung der Art und des Umfangs der wohlfahrtspflegerischen Dienstleistungen zu erfolgen. Die Bedürfniskunde stellt aber auch die gesellschaftliche Legitimationsbasis aller professionellen Fürsorgeleistungen dar. Dass Wohlfahrtspflege auf der Basis einer wissenschaftlich fundierten Bedürfniskunde nicht nur den Benachteiligten einer Gesellschaft dient, sondern einen Beitrag für die soziokulturelle Entwicklung der Gesellschaft insgesamt zu leisten hat, verdeutlicht Arlt in folgender Aussage: „Der Kulturzustand eines Landes wird nicht nur durch seine Höchstleistungen bestimmt, sondern durch seine Grenznot, d.i. die tiefste geduldete Entbehrung; (...) Unter dem Versorgungszustand ist jedoch nicht die fürsorgerische, sondern die bedürfniskundliche Begutachtung zu verstehen, die den Befriedigungsstand aller Bedürfnisse erhebt.“ (Arlt 1958: 80) Gesetzmäßigkeiten des HelfensIhre „Wege zur Fürsorgewissenschaft“ beginnt Ilse Arlt mit einem ausführlichen Kapitel zu dem, was sie „Gesetzmäßigkeiten des Helfens“ nennt. Hier erläutert sie Schwachstellen organisierter sozialer Hilfe und formuliert damit implizit Ansprüche an die von ihr angestrebte Fürsorgewissenschaft. 1.) „Jede, auch die beste Einrichtung bewirkt zwangsläufig unerwünschte Nebenwirkungen.“ Dieser Satz fordert auf, nicht nur auf das Erwünschte zu blicken, sondern auch auf das Unerwünschte. Viele Kolleginnen und Kollegen aus der Lehre kennen die zahlreichen Seminar- und Diplomarbeiten, KollegInnen aus der Praxis kennen die eindimensionalen Gutachten und Jahresberichte, die wie Propagandaschriften für eine Einrichtung, eine geplante Maßnahme wirken. So als gebe es nur Gutes daran, keine Risiken und keine möglichen oder wahrscheinlichen Nebenwirkungen. Solche Texte werden von manchen für besonders überzeugend gehalten. Sie sind es nicht, sie sind Zeichen für ein vorwissenschaftliches Verständnis der Sozialen Arbeit, für Dilettantismus. Was heißt das für sozialarbeitswissenschaftliche Forschung und Theoriebildung? Der Blick auf das Unerwünschte, das Misslingende, die Nebenwirkungen müssen zum selbstverständlichen Gestus werden. Die Misserfolge und Nebenwirkungen wären zur Quelle neuen Wissens zu machen. Dilettantismus überwinden, das heißt, den kritischen Blick auf sich selbst zu richten, sich selbst nicht zu trauen. Um Arlts Satz noch einmal zuzuspitzen: Sozialarbeitswissenschaft muss gleichzeitig die kenntnisreichste kritische Instanz für gesellschaftliche Hilfe im Allgemeinen und professionelle Sozialarbeit im Speziellen sein. 2.) „Meist ist die Zahl derer bekannt, denen geholfen wurde, nicht die der Übrigbleibenden.“ lse Arlt versteht die Hilfstätigkeit, die Fürsorge, als eine gesellschaftliche Aufgabe, die Auswirkungen auf den Zustand der Gesamtgesellschaft hat. Die später in der systemtheoretischen Diskussion (Baecker 1994) gestellte Frage, ob es sich beim System der Hilfe um ein gesellschaftliches Funktionssystem handle, hätte sie wohl mit ja beantwortet. Für eine Beurteilung der Leistungen reicht für sie nicht der Blick auf jene KlientInnen, die in den Genuss von Unterstützung gekommen sind. Es ist stets der Bezug zur Gesamtheit jener herzustellen, die der Hilfe bedürfen oder bedurft hätten. Ein Bezug auf die Gesamtheit der Population ist in der evaluatorischen Forschung allerdings keineswegs Standard. Bei einer Evaluationsstudie über Suchtberatungsstellen hat ein Team der FH St.Pölten den Erfolgsberichten der Stellen die Frage gegenübergestellt, wie viele potenzielle KlientInnen es im Zuständigkeitsbereich der Beratungseinrichtungen gibt, und das Verhältnis der erreichten zu den nicht erreichten Personen zur Beurteilung der Wirksamkeit der Einrichtungen herangezogen. Das rief nicht nur Jubel hervor und führte durchaus zu anderen Ergebnissen. Die Frage, ob Programme bzw. Einrichtungen ihr Zielpublikum in nennenswertem Ausmaß erreichen, welche Bedürftigen sie wie ausschließen, ist stets relevant. Auch bei Case Management, verstanden als Systemmanagement, hat sich der Blick zuerst auf die Gesamtpopulation jener, die der Hilfe bedürfen, zu richten. Ilse Arlts erster Satz von den unerwünschten Nebenwirkungen zielte darauf, sich auch auf das zu konzentrieren, was man nicht gerne sieht. Dieser zweite Satz von den „Übrigbleibenden“ verlangt, das vorerst Unsichtbare sichtbar zu machen. 3.) „Die Durchführung an sich guter Einrichtungen ist oft fehlerhaft oder mangelhaft. Immer fehlt die Leistungsbilanz, immer die Gesamtschau für jedes Individuum.“ Die Beispiele, die Ilse Arlt anführt, sind Beispiele der Missachtung des Lebenszusammenhangs der KlientInnen. Und das ist auch der immer noch gültige Kern ihrer Kritik: Es ist das Leben der KlientInnen, und da jedes und jeder einzelnen, an dem die Hilfe zu messen ist. In der Wissenschaft handelt man sich Probleme ein, wenn man diesen Auftrag ernst nimmt. Die Lebensgeschichten der KlientInnen sind nicht so leicht zugänglich wie die Daten der Einrichtungen, sie sind schwierig auszuwerten und der Erfolg der Hilfe ist nicht immer eindeutig feststellbar. Am Arlt-Institut haben wir begonnen, eine Datenbank mit Fallgeschichten anzulegen, eine Sammlung, die späterer Auswertung harrt. Systematische Fallstudien zu betreiben ist aufwändig und will finanziert werden. Von der Notwendigkeit, solche Studien zu betreiben, sind wir überzeugt. „Wann wird der Mensch, der in seinen Notwendigkeiten und individuellen Möglichkeiten genau erkannte einzelne Mensch, im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, und nicht das Gefüge der Fürsorge?“ (Arlt 1958:17) 4.) „Mangels eines anerkannten geistigen Forums können sich Fehlmeinungen jahrzehntelang breitmachen, ohne widerlegt zu werden, oder Gesetze werden erlassen, deren Überprüfung nicht erst durch die Wirklichkeit hätte erfolgen sollen, sondern durch planmäßiges Studium.“ (Arlt 1958:23) Das „anerkannte geistige Forum“ fehlt immer noch. Sozialarbeit ist eine institutionsgebundene Profession. Ihr fehlt eine Organisationsform, die Standards formulieren und durchsetzen könnte. Der Grad der Standardisierung ist beschämend gering. Zentrale Arbeitsformen der Sozialarbeit werden von verschiedenen AutorInnen verschieden benannt. Diagnostische Leistungen können nicht auf Basis anerkannter Standards erbracht werden, weil es die Standards nicht gibt, das Forum zur Festlegung der Standards ist noch ungegründet. Der internationale Vergleich ist aufgrund nicht nur unterschiedlicher Rechtssysteme, sondern auch aufgrund unterschiedlicher Begrifflichkeiten schwierig. So ist es kein Wunder, dass Standardisierungen für die Sozialarbeit bisher vorwiegend von außen kommen, von der Politik in Form von Gesetzen, oder von der Medizin. Die Klassifikationssysteme ICD10 und vor allem ICF umfassen zunehmend auch soziale Fakten und Belastungen, deren Formulierung eigentlich von der Sozialen Arbeit hätte kommen müssen, wenn sie denn ein „anerkanntes geistiges Forum“ hätte, und das müsste international sein. Noch ist hier keine Lösung in Sicht. Aber die Soziale Arbeit wird weiterhin weit unter ihren Möglichkeiten bleiben, wenn keine Schritte in diese Richtung gesetzt werden. Volkspflege, wie es Ilse Arlt genannt hat, Soziale Arbeit, wie wir es heute nennen, ist eine Profession und eine Wissenschaft, die das System der gesellschaftlichen Hilfe zum Gegenstand hat. Über professionelle Standards können nicht die Trägerorganisationen der Sozialen Arbeit entscheiden. Überlässt man ihnen dieses Feld, gibt man den Anspruch auf eine wissenschaftliche professionelle Praxis auf. So wie jede Sozialarbeiterin, jeder Sozialarbeiter in seiner/ihrer Fachlichkeit dem Ethos der Profession verpflichtet ist, so wird die Festlegung und Weiterentwicklung von Standards fachgerechten Helfens die Aufgabe eines „anerkannten geistigen Forums“ sein müssen. LebensfreudeWir verlassen nun Ilse Arlts „Gesetzmäßigkeiten des Helfens“ und widmen uns freudigerem, genau gesagt, der Lebensfreude. „Lebensfreude dies ist eines der Kernstücke der Hilfe, ist das Kriterium, die unumstößliche Zielsetzung statt des bloßen Leidenlinderns. Das zweite Kernstück heißt Gegenleistung, nicht im Sinne einer Bezahlung, sondern in der Kunst, der Demütigung vorzubeugen, indem man den Befürsorgten seinerseits irgendwie helfen lässt.“ (Arlt 1958: 38) Mit diesem irritierenden ersten Satz müssen wir erst einmal fertig werden. Was er für die praktische Sozialarbeit heißt, das ist relativ leicht auszubuchstabieren, und die Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis wird dieser Satz wahrscheinlich auch weniger beunruhigen. Aber was kann Lebensfreude für die Wissenschaft heißen? Auch in den staatlichen Sozialprogrammen und Gesetzen wird von Lebensfreude selten die Rede sein. Arlt schreibt hier von einem Kriterium, nach dem soziale Praxis beurteilt werden kann. Lebensfreude zu ermöglichen, zuzugestehen, das ist die Absage an alle Vorstellungen, die Hilfsbedürftigen müssten demütig sein, müssten Kooperation beweisen und müssten sich an die Vorstellungen der Institution anpassen. Lebensfreude, das heißt einen vollen Anspruch auf Leben anzuerkennen. Wir können noch einen Schritt weiter gehen. Lebensfreude scheint uns auch eine Voraussetzung für das Betreiben von guter Sozialarbeitswissenschaft zu sein. Ohne sie fehlt der Maßstab, fehlt das emotionale Wissen über die Möglichkeiten des Lebens, fehlt das Verständnis für die Umwege zur Freude unter schwierigen und dürftigen Bedingungen. Sozialarbeitswissenschaft benötigt die Freude am Leben in seinen verschiedenen Erscheinungsformen. Erst diese Freude ermöglicht es, anderen diese Freude auch zuzugestehen und im Fall das Potenzial eines ganzen Lebens zu erkennen. Wir brauchen das, nicht nur im Front-Line Social Work, sondern auch in der Forschung. Am Arlt-Institut haben wir in den letzten beiden Jahren in einem Forschungsprojekt Fremdunterbringungsfälle untersucht. Die Interpretationssitzungen waren teils fröhliche Sitzungen, teils recht emotionale, bei denen man auch schon einmal empört war, wenn man auf Ignoranz von professionellen AkteurInnen gegenüber den Lebensäußerungen der Betroffenen gestoßen ist. Beim einen oder anderen Fall fand sich eine amtliche, eine Herrschafts-Sprache, fand sich Unverständnis wichtiger und qualifizierter Profis gegenüber den Versuchen der KlientInnen, ihr Leben zu beeinflussen und zu genießen. Die Befremdung und Empörung, die Solidarität des InterpretatorInnenteams mit dem Lebenswillen der KlientInnen, waren kein Hindernis bei der Deutung der Fälle. Sie motivierten im Gegenteil zur genauen Analyse. Das Beachten der Lebensaktivität der KlientInnen, dessen was sie tun, wie sie es tun, wie sie mit der Organisation umgehen und mit ihrem eigenen Leben, das ist das Mittel zur Analyse der Organisation. Anders gesagt: Wenn wir das Funktionieren der Hilfe verstehen wollen, müssen wir auf die KlientInnen schauen, nicht auf die Hilfe. Die Wissenschaft der Sozialen Arbeit ist keine technokratische Wissenschaft. Sie braucht eine Basis von Lebensfreude bei denen, die sie betreiben, und sie braucht die Freude an der Lebensfreude der KlientInnen der Sozialen Arbeit, auch und gerade wenn sie sich nur in Ansätzen zeigt, auch und gerade wenn sie den Profis die Arbeit zu erschweren scheint. Nun fehlt noch die Interpretation des zweiten Teils dieses Zitats: die Gegenleistung der KlientInnen als Mittel, um Hilfe nicht zur Demütigung verkommen zu lassen. Demütigung durch Hilfe wird von Ilse Arlt als Möglichkeit vorausgesetzt, ja sie wird sogar als so wahrscheinlich angesehen, dass eine Vorkehrung dagegen eines von beiden Kernstücken der Hilfe sein soll. Demütigung ist im Sozialwesen weit verbreitet. Die Demütigung, überhaupt auf das Sozialwesen angewiesen zu sein, bildet die Basis. Demütigende Inszenierungen des Wartens, des von einer Stelle zur anderen geschickt Werdens, der peinlichen Befragung. Und viele andere beabsichtigte und unbeabsichtigte Demütigungen. Wir sind inzwischen gewohnt, KlientInnen zuzugestehen, dass sie sich selbst helfen dürfen und können. Das geht manchmal bis zur Verweigerung der Unterstützung, wenn sie für „nicht motiviert“ gehalten werden. Ein äußerst fragwürdiges Etikett, das Teil einer Herrschaftsstrategie ist. Im Grunde wird den KlientInnen zugetraut, dass die entscheidenden Aktivitäten von ihnen kommen können und auch müssen, und Soziale Arbeit weiß, dass sie all ihre Kunst aufwenden muss, um die KlientInnen in die AkteurInnen-Position zu bringen. Arlt geht hier einen Schritt weiter. Sie sieht die Menschen nicht nur als „ihres eigenen Glückes Schmied“. Im Zeitalter der fortgeschrittenen Individualisierung ist zwar dieser Satz abgekommen, nicht aber die dahinter stehende Haltung. Arlt erkennt die KlientInnen auch als Menschen, die ihre Selbstachtung dadurch gewinnen, dass sie Beiträge für andere leisten können. Die Gabe bedarf der Gegengabe, um nicht demütigend zu sein. Den KlientInnen Möglichkeit zur Gegengabe einzuräumen, diese Gegengaben auch anzunehmen oder dritten zu Gute kommen zu lassen erst dadurch wird das vollendet, was wir Respekt nennen. Vorerst ist das eine methodische Anweisung, und als solche ist sie schon anspruchsvoll, erweitert den Blick. Wie ist sie in die Wissenschaft integrierbar? Wiederum dadurch, dass damit ein Kriterium der Beurteilung benannt ist. Hilfsprogramme, die KlientInnen nicht auch als Gebende vorsehen und vorkommen lassen, sind demnach tendenziell demütigend. Im weiten Begriff von der Sozialraumorientierung, wie wir ihn vertreten[7], werden die KlientInnen in ihrer Einbindung in ihre soziale Umwelt in den Blick genommen. Die KlientInnen als PartnerInnen in sozialen Austauschbeziehungen, als Gebende und Nehmende, als MitgesellschafterInnen in dieser Gesellschaft, die sich ihnen über die Beziehungen in ihrer Lebenswelt erschließt. Sozialarbeitswissenschaft kann so gesehen nie nur eine Wissenschaft von Defiziten und deren Behebung sein, sondern auch eine Wissenschaft von den Beiträgen der Armen, Verletzlichen und Unterdrückten (zur) für die Gesellschaft, eine Wissenschaft von der Ermöglichung dieser Beiträge. (Diese Trias findet sich in der Präambel zum Code of Ethics der NASW der USA: “people who are vulnerable, oppressed, and living in poverty”). Noch einmal geht es nun um unsere Wissenschaft: In ihrem Buch „Grundlagen der Fürsorge“, entstanden 1921, schreibt Arlt von der „Unzulänglichkeit der Hilfe nach der Notform“ (da die „Elendsform einmal Wirkung, ein andermal Ursache sein kann“) (27) „von jeder Elendform zweigen nahezu alle anderen Elendsformen ab“ (ebd.). Sie hat das mit einer Grafik dargestellt. Aus der einen Not kann eine andere resultieren, aus dieser wiederum eine andere. Die Hilfe, die nur nach der Notform („Arbeitslosigkeit“, „Sucht“ etc.) organisiert ist, ist daher zwangsläufig immer wieder unangemessen[8]. Armut, Hilfsbedürftigkeit sei kein Zustand, sondern ein Prozess, schreibt sie mehrfach an anderen Stellen ihres Werks. Die Situation der KlientIn erschließe sich erst aus ihrer Geschichte. Die Spezialisierung der Hilfen, die Einschränkung der Zuständigkeit von Einrichtungen auf je eine „Notform“ ist den KlientInnen unangemessen. Arlt zieht daraus nicht den Schluss, die spezialisierten Hilfen aufzugeben, sie empfiehlt die qualifizierten Volkspflegerinnen als jene Profis, die den Gesamtblick auf die Person in ihrer Situation herstellen können. Wir finden diesen Gedanken in den guten Formen des modernen Case Management wieder. Für die Sozialarbeitswissenschaft heißt das wiederum, dass der Blick auf die wirklichen Lebenssituationen der KlientInnen, auf das Werden dieser Situationen, unverzichtbar ist. Arlts Schriften sind ein großes Plädoyer für den Blick auf die gesellschaftliche Situation, die Wirtschaft, als Voraussetzung des Lebens, des Wohlergehens und der Not. Auf die einzelnen Menschen, in deren Lebenssituation sich die gesellschaftliche Situation konkretisiert, und auf die Einrichtungen des Sozialwesens, die sich in diesem Spannungsfeld bewegen, es für die Individuen unterstützend gestalten wollen. Ein anspruchsvolles Programm. Ihr Weg, dieses Programm zu erfüllen, ist der, die Institutionen am Anspruch wirkungsvoller Hilfe, zu messen. Und wirkungsvolle Hilfe, das ist für sie immer individualisierte Hilfe. Nein, das stimmt so nicht ganz: Liest man Arlt genau, so meint sie, dass Hilfe vorerst als schematische Hilfe wirkungsvoll sein kann, aber nur bis zu einem bestimmten Grad. Zahlreiche potenzielle KlientInnen erreicht die schematische Hilfe nicht, für jene muss es individualisierte Hilfe geben. Ihr Interesse gilt den Grenzen der schematischen und den Möglichkeiten der individualisierten Hilfe. Wir formulieren für uns als These im Anschluss an Arlts Argumentation: Sozialarbeit beginnt dort, wo die schematische Hilfe aufhört, wirksam zu sein. Und Sozialarbeitswissenschaft ist eine Wissenschaft von den Grenzen der schematischen und den Potenzialen der individualisierten Hilfe. aktuelle Anschlusspunkte Arlt konzipiert ihren wohlfahrtspflegerischen Ansatz vor dem Hintergrund und in Verbindung mit nationalökonomischen Anliegen, mit Fragen der Wohlfahrtsökonomie und der Verbesserung der individuellen und gesellschaftlichen Entwicklungschancen. Sie betont die Interdependenz von ökonomischer und individueller Freiheit. Insgesamt betrachtet umfasst ihr Wohlfahrtskonzept zahlreiche Elemente, die in aktuellen Debatten zu Fragen der Lebensqualität im Zentrum stehen. So bezeichnen bspw. der indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen und die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum in ihren Analysen zur Lebensqualität die von ihnen aufgelisteten allgemeinen menschlichen Eigenschaften und Funktionsfähigkeiten (diese überlappen sich z.T. mit den Bedürfnisklassen Arlts)[9] treffend als „substanzielle Freiheiten“ i.S. von materiellen Bedingungen, die stets mitbefördert werden müssen, wenn von gerechter Umverteilung öffentlicher Güter, menschlicher Entwicklung, Emanzipation, Empowerment, Hilfe zur Selbsthilfe oder Hilfe durch Nichthilfe gesprochen wird. Wenn heute im Kontext der Sozialen Arbeit das Postulat der Berücksichtigung von Diversität erhoben wird, so ist dies für Kenner der Arlt'schen Schriften nichts Neues, bestand doch eines ihrer zentralen Anliegen darin, ihre Schülerinnen darin zu befähigen „Mannigfaltigkeit, nicht Masse zu sehen, Eigenart und nicht Gleichförmigkeit und dadurch jedem im Einzelfall gerecht zu werden“ (Arlt o.J., Ö.Ak. d. Wiss., S.4). In diesem Zusammenhang betonte Arlt auch, dass effektive wohlfahrtspflegerische Handlungen nicht nur personen-, sondern auch kontextsensibel getätigt werden müssen, d.h. dass bspw. spezifische Besonderheiten unterschiedlicher regionaler Lebensräume erkannt und anerkannt werden müssen. So gelte es Fürsorgeideen von der Peripherie her und nicht zentralistisch gesteuert zu entwickeln. Denn im Gegensatz zu der vom städtischen auf den ländlichen Raum ausstrahlenden Fürsorge gelänge es Modellen ländlicher Prägung zu einer adäquaten lokalen Anpassung zu gelangen, was eine stärkere Identifikation und Akzeptanz durch die Bevölkerung vor Ort ermögliche. Aktuelle Anschlusspunkte an das Arlt'sche Denken ergeben sich auch dort, wo gegenwärtig Kritik an spezialisierten sozialarbeiterischen Dienstleistungsangeboten geäußert wird, die auf Kosten einer stärker generalisierend ausgerichteten Sozialarbeit gehen, welche mit diversen anderen Professionen, deren Aufgabenfelder sich im Schnittpunkt der sozialen Daseinsvorsorge treffen, zusammenarbeiten. Arlts Ansatz erinnert daran, dass das gesellschaftliche Teilsystem Soziale Hilfe/Arbeit als Teil einer umfassenden Wohlfahrtspflege zu verstehen ist, welche nicht nur den einzelnen Benachteiligten einer Gesellschaft dient, sondern einen Beitrag für die soziokulturelle Entwicklung der Gesellschaft insgesamt leistet. Die Soziale Arbeit in Gestalt einer angewandten Armutsforschung habe nach Arlt die Aufgabe, eingetretene oder drohende Schäden zu erkennen, die unmittelbaren oder entfernteren Ursachen und ihre weiteren Wirkungen für Person und Umwelt zu verstehen und das Verständnis für das Tempo der Lageverschlechterung zu schaffen. (vgl. Arlt 1958: 51) „Die Analyse sämtlicher günstiger oder ungünstiger Faktoren, die Kenntnis der möglichen und der vorhandenen Hilfsweisen, die Wege zu ihrer Einleitung, das Überprüfen ihrer Wirksamkeit“ (ebd.) gehöre zu den Aufgaben der Fürsorge. Das Arlt'sche Bedürfnis- und Konsumkonzept stellt differenzierte und ausbaubare Kategorien und Begriffe zur Verfügung, auf Basis derer brauchbare Instrumente für eine rechtzeitige Ortung, Analyse, Benennung und Vermeidung von Armutsphänomenen und sozialen Problemen einschließlich deren multikausalen Bedingungen und Wechselwirkungen gewonnen werden können. Eine Relektüre des Arlt'schen Denkens ist auch dort zu empfehlen, wo es um die Frage geht, welchen Stellenwert und Einfluss das Teilsystem Soziale Hilfe/Arbeit im Rahmen sozialpolitischer Diskurse über (Gerechtigkeits-) Standards für zu erbringende Sozialleistungen und soziale Inklusionsmöglichkeiten und -chancen einnehmen könnte. Vor dem Hintergrund des Arlt'schen Denkens müsste gegenwärtig die Stimme des Teilsystems Soziale Hilfe/Arbeit in Widerstreit mit einem Sozialstaatsmodell geraten, welches nicht an den individuellen Bedürfnissen der einzelnen von unterschiedlichen Formen der Ausgrenzung betroffenen Personen, die mitunter sehr unterschiedliche Inklusions- und Partizipationsleistungen benötigen, orientiert ist, sondern an allgemeinen Bedarfen, die primär den Interessen der mitbestimmenden AkteurInnen und Körperschaften entsprechen. Ein derartiges korporatistisches Sozialstaatsmodell würde durch die regulative Idee der Bedürfnisorientierung, wie Arlt sie bereits ins Zentrum ihrer Wohlfahrtspflege stellte, zu einem stetigen Umbau in Richtung einer gerechteren und differenzierteren Inklusionspolitik herausgefordert werden. Wiederholt gilt es demnach die von Arlt gestellte Frage kritisch zu stellen: „Wann endlich wird der Mensch, der in seinen Notwendigkeiten und individuellen Möglichkeiten genau erkannte einzelne Mensch, im Mittelpunkt der Betrachtung stehen und nicht das Gefüge der Fürsorge?“ (Arlt 1958: 31) Mit diesem Zitat lässt sich erneut eine Brücke schlagen zwischen Arlts wohlfahrtstheoretischen Gedanken, die einer Ethik des guten bzw. gedeihlichen Lebens und der Beförderung der Lebensfreude folgen, und deren konkreter Umsetzung in ihrer Lehr- und Forschungsstätte, den „Vereinigten Fachkursen für Volkspflege“. Die organisationalen, inhaltlichen und den Lehr-, Lern- und Forschungsstil betreffenden Rahmenbedingungen waren in dieser Schule so gestaltet, dass die angehenden Volkspflegerinnen neben der Aneignung berufsrelevanter praktischer Fähigkeiten die Vielfalt der Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Verstehens-, Erkenntnis- und Reflexionshaltungen trainieren konnten, die ihnen in ihrer späteren beruflichen Tätigkeit ermöglichen sollten, „in jeder damals existierenden Fürsorge- und Hilfsform unbedingt hilfreich eingreifen und sich auch in neu entstehende Formen einarbeiten“ zu können. (vgl. Arlt 1957 zit. in: Ertl 1995: 29) Dieser Anspruch verlangte nach Arlt die Fähigkeit zur Aktualisierung folgender Grundsätze des Helfens: „Raschheit, Menschenwürde, Güte, Freiheit, sachliche Richtigkeit, zweckmäßige Anpassung und wirtschaftlicher Grundsatz der 'größten Leistung bei geringstem Aufwand'.“ (Arlt 1958: 3) Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums ihrer Schule (im Jahr 1937) bemerkte Arlt: „So aber dürfen wir unser eigenes Fortbestehen als Beweis für die Richtigkeit der Volkspflege ansehen. Eines aber muß ich jetzt gestehen: hätte sich ein einzigesmal eine Fürsorgeaufgabe ergeben, für die unsere Schülerinnen grundsätzlich ungeeignet gewesen wären, so hätte ich die Schule sofort geschlossen, denn dann wäre ein Fehler im ganzen System gewesen.“ (Arlt 1937: 15) Arlt vertrat den Anspruch „... jede Schülerin zu sich selbst und ihren ungeahnten inneren Möglichkeiten [zu führen]“. (Arlt 1937: 16) Die angehenden Wohlfahrtspflegerinnen sollten zu Erkenntnissen und Haltungen befähigt werden, die ihnen ermöglichen, die jeweils angemessene Weise eines gedeihlichen und freudvollen Lebens bei sich selbst und in der Folge bei den NutzerInnen ihrer Dienstleistungen sorgfältig und achtsam aufzuspüren und durch gezielte bedürfnisorientierte Maßnahmen zu stärken. Diese Forderung ist überaus anspruchsvoll und als solche über die Zeiten hinweg als kritischer Qualitätsmaßstab zu betrachten, dem eine große Relevanz immer dort zukommt, wo Ausbildungstrends im Feld der Sozialen Arbeit Gefahr laufen, das Einüben in die Vielfalt der für diese Profession nötigen Rationalitäts- und Handlungsformen zu reduzieren oder durch die Dominanz einer bestimmten (bspw. einer betriebswirtschaftlichen) zu gefährden. heute Ilse Arlt lesenSo anerkannt die Absolventinnen der Arlt´schen Fachkurse gewesen sein mögen, blieb sie in Österreich doch eine Außenseiterin (vgl. Simon 1995), ihr Konzept floss kaum in den Mainstream ein und die von ihr angestrebte umfassende wissenschaftliche Fundierung der Sozialen Arbeit blieb ein Wunschtraum. Es kann nur vermutet werden, welches Potenzial sie als Wissenschafterin realisieren hätte können, wenn sie in eine anregendere Community eingebunden gewesen wäre. Ihre Texte heute zu lesen, bringt jedoch eine Fülle von Anregungen und bestärkt die Hoffnung, dass die Wissenschaft von der Sozialen Arbeit ein äußerst komplexes Projekt sein kann, das sich der Bezugswissenschaften von der Volkswirtschaft bis zur Sozialethik nicht nur bedient, sondern ihnen auch Anregungen liefern könnte. Einige Aspekte des Arlt'schen Denkens und Wirkens konnten in diesem Beitrag nicht oder nur unzureichend gewürdigt werden. Ihre didaktischen Leistungen als Schulleiterin zum Beispiel wären einen eigenen Aufsatz wert. Desgleichen wäre ihr Projekt einer „Haushaltskunde“ unter heutigen Bedingungen neu zu überlegen. Die interessierten LeserInnen seien auf weitere, noch anstehende, Publikationen verwiesen, oder, noch besser, auf das Studium der Arlt´schen Originaltexte. Wir hoffen, dass diese bald wieder leicht zugänglich vorliegen werden. Wir schließen diese Ausführungen mit jenem Wappenspruch, den Arlt von ihrem Großvater[10], der seine einfache Herkunft nie verleugnet und bedürftigen Menschen seine fachärztliche Hilfe gratis angeboten habe, übernommen hatte. Mit ihm schloss sie ihre Autobiographie: „Primum humanitas!“ (vgl. Arlt o.J., Ö.Ak. d. Wiss., S.6) Literatur Arlt, Ilse (o.J.): Autobiographisches Manuskript, aufbewahrt in der Materialsammlung des Österreichischen Biographischen Lexikons und biographische Dokumentation, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien Arlt, Ilse (1921): Die Grundlagen der Fürsorge, Österreichischer Schulbücher Verlag, Wien Arlt, Ilse (1931): Sparsame Fürsorge. In: Soziale Arbeit, Wien/Leipzig Arlt, Ilse (1937): 25 Jahre Volkspflege. Vortrag, gehalten am 25. Sept. 1937 anlässlich des 24-jährigen Bestandes der Vereinigten Fachkurse für Volkspflege, Wien, Linz Arlt, Ilse (1957): Brief an Frau Direktor Anna Rosenfeld vom 28.1. 1957, zit. in Ertl, Ursula (1995): Ilse Arlt. Studien zur Biographie der wenig bekannten Wissenschaftlerin und Begründerin der Fürsorgeausbildung in Österreich. Diplomarbeit an der FH Würzburg-Schweinfurt-Aschaffenburg, Fachbereich Sozialwesen, S. 29 Arlt Ilse (1958): Wege zu einer Fürsorgewissenschaft, Verlag Notring der wissenschaftlichen Verbände Österreichs, Wien Baecker, Dirk (1994): Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft. In: Zeitschrift für Soziologie: Heft 2. Stuttgart. S. 93-110. Ertl, Ursula (1995): Ilse Arlt. Studien zur Biographie der wenig bekannten Wissenschaftlerin und Begründerin der Fürsorgeausbildung in Österreich. Diplomarbeit an der FH Würzburg-Schweinfurt-Aschaffenburg, Fachbereich Sozialwesen Frey, Cornelia (2005): „Respekt vor der Kreativität der Menschen“ Ilse Arlt: Werk und Wirkung, Opladen National Association of Social Workers - NASW (1996): Code of Ethics. Washington D.C.. Nussbaum, Martha C. (1986): Nature, Function and Capabilities: Aristotle on Political Distribution; in: Oxford Studies in Ancien Philosophy, 145-184 Nussbaum, Martha C./ Sen, Amartya (Hg.) (1993): The quality of Life, Oxford Pantucek, Peter (2007): Sozialraum und Professionalisierung der Sozialen Arbeit. In: Haller, Dieter / Hinte, Wolfgang / Kummer, Bernhard (Hg.): Jenseits von Tradition und Postmoderne. Sozialraumorientierung in der Schweiz, Österreich und Deutschland. Weinheim und München. S. 38-49. Simon, Maria Dorothea (1995): Von Akademie zu Akademie. Zur historischen Entwicklung der Sozialarbeiterausbildung am Beispiel der Schule der Stadt Wien. In: Wilfing, Heinz(Hg.): Konturen der Sozialarbeit. Wien. S. 15-24. Staub-Bernasconi, Silvia (1996): Lebensfreude dank einer wissenschaftlichen Bedürfniskunde?!Aktualität und Brisanz einer fast vergessenen Theoretikerin Sozialer Arbeit: Ilse Arlt (1876-1960). In: Manuskript, teilveröffentlicht in: Sozialarbeit H.3. S. 18 - 31. Doz.in Dr. Maria Maiss ist Philosophin. Sie lehrt an der FH St. Pölten und leitet die AG Geschichte und Theorie der Sozialen Arbeit am Ilse Arlt Institut für Soziale Inklusionsforschung. Prof. Dr. Peter Pantucek ist Sozialarbeiter und Sozialwissenschafter. Er leitet das Ilse Arlt Institut für Soziale Inklusionsforschung und den Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit an der FH St. Pölten. [1] „Die vereinigten Fachkurse für Volkspflege“ wurden 1912 gegründet. In einem Brief an Anna Rosenfeld, Direktorin der Fürsorgeschule der Stadt Wien schrieb Ilse Arlt am 28.10.1957: „Ich erwähne noch, daß die „Vereinigten Fachkurse für Volkspflege“ nicht, wie es in Wien üblich ist, sie zu bezeichnen, die erste österreichische Schule für Fürsorge war, sondern die überhaupt erste auf der Welt, die sich die Aufgabe stellte, ihre Schülerinnen für jede damals existierende Fürsorge- und Hilfsform so zu schulen, daß sie unbedingt hilfreich eingreifen und sich auch in neu entstehende Formen einarbeiten konnten. Alle anderen Unterrichtsformen waren damals nur ein Anlernen für einen Zweig im Betrieb.“ (Arlt 1957 zit. in: Ertl 1995: 29) [2] Arlts Großvater mütterlicherseits (Dr. Benedikt Hönig Edler von Hönigsberg) gehörte der israelitischen Religion an, wurde aber am 17.02.1848 römisch katholisch getauft; (vgl. Ertl 1995: 69) [3] Die Zukunft der Fürsorgearbeit (Sozialarbeit) beruhe nach Arlt auf der systematischen Ergründung der mannigfaltigen Ursachen und Wirkungen von Armut und sozialen Problemen in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftszweigen und in der späteren Entwicklung einer ökologischen Hochschule mit praxisbezogener Forschung einschließlich der Umsetzung der dabei gewonnen Einsichten in die Ausbildung und die praxisbezogene Anwendung. Alle mit der Lebenspflege beschäftigten Berufe (KindergärtnerInnen, LehrerInnen, AnstaltsleiterInnen, ÄrztInnen, FürsorgerInnen) würden darin vernetzt und entgegen jeder Spezialfürsorge um die Gesamtaufgabe der Beförderung der Ganzheit des individuellen und gesellschaftlichen Gedeihens bemüht sein. (vgl. Arlt: Ö.Ak. d. Wiss., S.4) Ein epochemachender Gedanke, wenn man bedenkt, dass in Österreich bis zum heutigen Tag auf spezifischer Spartenausbildung beharrt wird (siehe Sozialarbeit/Sozialpädagogik/Kindergartenpädagogik) und noch in den 80er Jahren in der SozialarbeiterInnenausbildung die praxisbezogene Forschung und die Studienbibliotheken in den Ausbildungsplänen nicht gesichert waren. [4] Der Fürsorgeschule der Stadt Wien vermachte Arlt noch zu Lebzeiten ihre verbliebenen Sammlungen und Schriften. [5] Ihre einschlägigen Vorstellungen über dieses Berufsbild stellte Arlt bereits 1910 auf dem internationalen Kongress für „Öffentliche Arbeits- und private Wohlfahrtspflege“ in Kopenhagen vor. [6] Bedürfnisse sind nach Arlt „seelische Vorgänge“, die der Bedürfnisbefriedigung vorausgehen. Sie sind durch innere Lebensvorgänge oder äußere Umstände entstanden; sie können bewusst (bspw. als Unlust) oder nicht bewusst sein; sie können den Wunsch nach Beseitigung der Unlust auslösen; ihre Befriedigung kann bis zu einem bestimmten Maß aufgeschoben werden oder in Widerstreit mit anderen Bedürfnissen treten und unterdrückt werden; sie werden über erworbene Bilder der Bedürfnisbefriedigung gesteuert; sie unterliegen als „Begehren“ sittlich-ethischer Beurteilung und sie können kurze oder sich über Jahre erstreckende Handlungen der Bedürfnisbefriedigung auslösen. (vgl. Arlt 1921: 37f) [7] Vgl. dazu z.B. Pantucek 2007. [8] Diese Feststellung ist insofern pikant, als der Prozess der Wahrnehmung und Definition sozialer Probleme als Prozess in der Sphäre der Politik notwendigerweise die Skandalisierung von „Notformen“ voraussetzt. Dementsprechend beziehen sich „fürsorgerische“ Programme auch immer auf eine Notform. Folgt man Arlt, und wir sind gerne bereit, ihr bei ihrer Argumentation zu folgen, so muss Soziale Arbeit ihr durch das Programm definierte Mandat notwendig überschreiten, indem sie sich nicht auf die Behandlung der „Notform“ beschränkt, zu deren Bearbeitung und Lösung das Programm entworfen und beschlossen worden ist. [9] Vgl. dazu die Ausführungen in: Maiss, Maria (2007): Sozialarbeit im Dienste der Beförderung des menschlichen Gedeihens und der Lebensfreude. Vortrag beim ersten Ilse Arlt Kolloquium am 6. Okt. 2007. Dieses Referat und die anderen im Rahmen des 1. Ilse Arlt Kolloquiums des Arlt-Instituts an der FH St. Pölten gehaltenen Vorträge werden 2008 im VS Verlag erscheinen. [10] Arlts Großvater, Dr. Ferdinand Karl Ritter von Arlt war als Bergbauernkind in bitterer Armut aufgewachsen und später aufgrund seiner großen Verdienste als Ordinarius für Augenheilkunde vom Kaiser nobilitiert. |