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Nichtwissen und andere Irritationen
Festrede anlässlich der Abschlussfeier des Bachelor-Jahrgangs Soziale Arbeit 2009
Peter Pantucek

Rede gehalten an der FH St. Pölten am 14.7.2009.


Sehr geehrte Absolventinnen und Absolventen, sehr geehrte Festgäste!

Vor fast 3 Jahren haben wir, gleichzeitig mit der FH Joanneum in Graz, als erste österreichische Hochschule einen Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit begonnen. Einige Jahre nach der Ankunft der Sozialarbeit an den Fachhochschulen gab es damit einen weiteren Schritt, die Soziale Arbeit als Profession und Fachwissenschaft als selbstverständlichen Bestandteil des Hochschulsystems zu etablieren.

Im Vorfeld hatte ein Entwicklungsteam, das ich leiten durfte, recherchiert, diskutiert, nachgedacht. Der Schritt vom 4-jährigen Diplom zum 3-jährigen Bachelor sollte kein Schritt zurück sein, in die Zeit der Akademien. Die meisten Mitglieder des Teams waren selbst AbsolventInnen von Akademien für Sozialarbeit, bzw. haben ihre Lehrtätigkeit dort begonnen. Es war also nicht Standesdünkel, das uns leitete. Im Gegenteil. Wir waren und sind überzeugt, dass die soziale Berufstätigkeit im neuen Jahrhundert noch anspruchsvoller geworden ist, das nötige Wissen und die nötigen Fähigkeiten umfangreicher werden.

Das Bachelor-Programm haben wir mehr als je zuvor ein Studienprogramm an der Sozialarbeit als Beruf ausgerichtet. Es sollte nicht mehr ein Sammelsurium von unvermittelt nebeneinander stehenden vermeintlich „richtigen“ Wissenschaften sein. Wir haben den Anteil der ausgebildeten und erfahrenen SozialarbeiterInnen an den DozentInnen und LektorInnen deutlich erhöht. Wir haben die berufsbegleitende Form von einer Abendschule umgewandelt in ein modernes Weiterbildungsstudium mit hohem Fernlehranteil. Den guten Ruf, den der Standort St. Pölten für das Sozialarbeits-Studium seit langem genießt, den wollten wir rechtfertigen und ausbauen.

Und dann kam der September 2006. Wir haben Sie freudig und erwartungsvoll hier begrüßt. Wie sich bald zeigte, sind die Pläne das eine, die Ausführung das andere. Und weil wir es hier mit Menschen zu tun haben, und nicht mit Baumaterial, läuft die Wirklichkeit, manche sagen zu ihr gerne „die Praxis“, anders als der Plan. Zugegeben, nicht völlig anders, aber doch mit manchen irritierenden Abweichungen.

Wir hatten die gut begründete Überzeugung, das praxisnächste Studienprogramm ever konzipiert zu haben. Was war das Resultat? Sowohl Studierende als auch einige VertreterInnen des Praxisfelds kritisierten das Bachelor-Studium als theorielastig und praxisfern.

Wir haben Standards entwickelt, um die Qualität der Lehre zu erhöhen. Resultat? Kaum jemals war die Kritik der Studierenden an der Lehre so deutlich.

Das erinnert ein wenig an Probleme der Fallarbeit in der sozialarbeiterischen Praxis: Da entwickeln sich die Dinge auch meist ganz anders, als man sie sich vorgestellt hat. Weil Menschen eigensinnig sind, weil sie anders denken, als man es ihnen raten würde. Gottseidank ist das so. Die Klienten zeigen uns immer wieder, dass wir nur halb so klug sind, wie wir meinen. Wäre das nicht so, die Soziale Arbeit wäre eine öde und langweilige Profession. Sie wäre nicht so spannend, aufregend und anregend, wie sie ist.

Analog gilt das wohl auch für die Lehre auf Hochschulniveau. So ausgeklügelt kann ein Curriculum gar nicht sein, dass Lehrende und Studierende damit nicht ihr eigenes Ding machen, dass sie es verändern, sich zurechtbiegen, Widerstand und Empörung entwickeln. Und das ist gut so. Heraus kommt etwas, was so nicht geplant war, und, wie wir hoffen, auch ein bisserl was vom Geplanten. Und als Resultat wissen wir, dass wir zwar klug, aber nie klug genug sind. Das haben wir gelernt. Und die Studierenden haben hoffentlich gelernt, dass sie den Fortgang der Dinge beeinflussen können. Und dass ihre Klugheit – wie auch unsere – Grenzen hat.

Moderne Professionalität erweist sich nämlich nicht in der bloßen Beherrschung berufstypischer Abläufe und eines Kanons berufsspezifischen Wissens. In der heutigen Zeit professionell, im Beruf gut sein, dafür braucht man die Fähigkeit, das eigene Wissen als fragwürdig zu erkennen.

Dirk Baecker, den die Studierenden von einem herausforderungsreichen Text aus dem ersten Semester kennen, schreibt über diese Fähigkeit und die Rolle der Hochschulen:

„Die Kompetenzen, zu denen die Universitäten jetzt zu befähigen beginnen, … sind Kompetenzen und Talente, die ihre Expertise daraus beziehen, dass sie es methodisch, theoretisch und praktisch gelernt haben, mit Nichtwissen umzugehen. Wer das nicht kann, kann gar nichts. Doch wer das kann, kann darauf aufbauend jedes denkbare Wissen erwerben, ohne dieses mit Gewissheit zu verwechseln und so Kompetenz und Talent wieder aufs Spiel zu setzen.“ (Baecker 2007:84)

Professionalität im 21. Jahrhundert ist eine Professionalität des Zweifels und der Grenzüberschreitung. Studierende, die in den Gymnasien manches gelernt haben, kaum jemals aber den (selbst-)kritischen Umgang mit Wissen und Nichtwissen, werden damit Probleme haben müssen.

Ent-Täuschung ist Teil eines guten Studiums. Die Ent-Täuschung darüber, dass liebgewordene Überzeugungen in Frage gestellt werden; die Erkenntnis, dass Hilfe nicht immer hilft; die Frustration, dass Lernen und Denken anstrengend sein können, und trotzdem beglückend. Und schließlich die bitter-süße Erkenntnis, dass man am Ende eines Studiums zwar deutlich mehr weiß als zuvor, gleichzeitig aber von viel mehr Dingen weiß, dass man sie nicht weiß. Jedes neue Wissen vergrößert das bekannte Unwissen.

Ent-Täuschungen sind in einem guten Studium also vorprogrammiert, werden erwartet, und sind erwünscht.

Die Bewältigung dieser Ent-Täuschungen eröffnet Ihnen eine gute Ausgangsposition auf einem Arbeitsmarkt, in dem immer weniger zählt, was jemand ursprünglich gelernt hat, und umso mehr, was der Person gelingt, daraus zu machen.

Liebe so06er! Ich hatte die Ehre, bis vor kurzem Leiter dieses Studiengangs zu sein. Und das war wirklich eine Ehre. Es war und ist mir sehr wichtig, hier bei Ihrer Abschlussfeier zu Wort zu kommen. Unser Rektor hat in seinem Beitrag von der Exzellenzinitiative gesprochen, die wir mit ganzem Herzen unterstützen, weil Exzellenz schon seit langem der Anspruch des Sozialarbeits-Teams St. Pölten ist. Sie haben diesen Anspruch unterstützt, indem sie an Kritik nicht gespart haben. Sie haben ihn durch Ihre Lernleistungen unterstützt. Und wir haben versucht, an Ihnen und mit Ihnen zu lernen.

Diese Freude am Lernen, an der Auseinandersetzung, am Verbessern des Vorfindlichen, die sollen Sie sich bewahren, die sollen Sie ausbauen. Die werden Sie brauchen für Ihren beruflichen Erfolg. Weil die hier spürbar ist, sind einige der herausragendsten und klügsten Vertreterinnen und Vertreter der Profession seit Jahren gerne Lehrende an unserer Hochschule, Mitglieder des Teams.

Ich freue mich darauf, einige von Ihnen schon diesen Herbst im Master-Studiengang begrüßen zu dürfen, wo sie sich forschend unserem Team anschließen werden. Und ich freue mich, wenn auch die anderen unserer Hochschule kritisch und solidarisch verbunden bleiben. Wenn Sie Ihren Weg gehen, und wenn sie in einigen Jahren sagen können: Inzwischen habe ich viel gelernt, was ich an der Hochschule noch nicht lernen konnte. Wenn Sie sagen können, ich weiß, dass ich vieles nicht weiß. Ich lerne täglich, dadurch vergrößert sich auch mein Nicht-Wissen. Damit umgehen zu können, das hat mich mein Studium in St. Pölten gelehrt.

Einen umfassenden Glückwunsch an Sie! Helfen Sie mit, dass diese Welt eine menschliche Welt wird und sein kann. Unterstützen Sie Ihre KlientInnen mit Ihrem Wissen und mit Ihrem Wissen über Ihr Nichtwissen.

Sie waren schwierige und anregende Studierende. Seien Sie schwierige und anregende Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter.

 

Literatur:

Baecker, Dirk (2007): Kleine Universitäten. Dichte Vernetzungen im globalen Kampf um geistige Kapazitäten. In: Lettre International Sommer 2007. S. 82-85.