---> zum Beitrag von P. Pantucek

Denkanstöße für die Entwicklung einer Berufsethik für BehindertenbetreuerInnen
von Kathrina McGuire
Erschienen in: BV, die Zeitung des Berufsverbands der BehindertenbetreuerInnen. Ausgabe September 2001, S. 9-13)

Mail an den Berufsverband der BehindertenbetreuerInnen bzw. an die Autorin

Der Vortrag „Ethische Grundhaltungen und Menschenrechte“ von Peter Pantucek und die daran anschließende Diskussion waren vom Berufsverband als erster Impuls zur Diskussion ethischer Fragen gedacht. Ein Fernziel dieses Diskussionsprozesses könnte die Formulierung einer Berufsethik für BehindertenbetreuerInnen sein. Anknüpfend an diese Veranstaltung werden hier Fragen aufgegriffen, die für den Entstehungsprozess einer Berufsethik grundlegend sind:

(1) Wer kann für wen ethische Grundsätze formulieren? (2) Welche Ziele sind mit der Formulierung ethischer Grundsätze erreichbar, welche nicht? (3) Welche Wirkungen und unerwünschten Nebenwirkungen könnte sie haben? Wäre eine Berufsethik überhaupt wirksam? Den Abschluss bilden Überlegungen, (4) welche Ansätze es zur Gestaltung und Strukturierung einer Diskussion ethischer Fragen gibt, und (5) was das Ergebnis sein könnte.

1. Wer kann für wen ethische Grundsätze formulieren?

Die naheliegende Antwort BehindertenbetreuerInnen für BehindertenbetreuerInnen – wurde von Pantucek gründlich in Frage gestellt.

1.1 Die Rolle der Institutionen
Pantuceks Begründung lautet, dass die Möglichkeiten der Umsetzung ethischer Grundsätze durch institutionelle Rahmenbedingungen begrenzt bzw. auf der Ebene der Organisation entschieden werden. Die Formulierung von Grundsätzen, die unter gegebenen Rahmenbedingungen nicht umgesetzt werden können, wäre kein Beitrag zur Verbesserung beruflichen Handelns im Interesse der KlientInnen, sondern höchstens eine Verschärfung der Überforderung durch uneinlösbare Ideale.
Dagegen ist einzuwenden, dass zwar vieles, aber keineswegs alles auf der Ebene der Organisation entschieden wird. Vieles wird im Team ausgehandelt. Beispielsweise hängt der Einsatz von Psychopharmaka weniger vom objektiv feststellbaren Bedarf aus der Perspektive der KlientInnen, sondern mehr von der Toleranz der Betreuenden gegenüber als störend empfundenen Verhaltensweisen ab. Um eine ärztliche Verordnung für (Bedarfs-) Medikamente zu bekommen, genügt oft eine entsprechend negative Beschreibung des Verhaltens durch die Betreuenden. Dass dabei auch Interessen der Betreuenden, z.B. im Nachtdienst nicht überfordert zu werden, einfließen, ist verständlich, aber keine Rechtfertigung. Eine Spaltung in „gute“ Betreuerinnen, die durch „schlechte“ Rahmenbedingungen am ethischen Handeln gehindert werden, wäre ein Abschieben der Verantwortung.

1.2 Die Perspektive der Betroffenen
Nach Pantucek ist Hilfsbedürftigkeit eine Zuschreibung der Helfenden, keine objektive Gegebenheit. Wenn die Definition der Hilfsbedürftigkeit durch die Helfenden grundsätzlich anmaßend ist, gilt das ebenso für die Beurteilung der Qualität der Betreuungsarbeit. Die Kriterien dafür, welche Art der Betreuung gut ist, können nicht unabhängig von den Betreuten festgelegt, sondern nur im Dialog mit ihnen erarbeitet werden. Ebenso anmaßend wie die ausschließliche Definition der Hilfsbedürftigkeit durch die Institution, die Hilfe anbietet, wäre das Festlegen ethischer Maßstäbe ohne die Betroffenen. Die Möglichkeit der Selbstbestimmung und der Kritik durch die Betroffenen muss gerade in Bezug darauf gegeben sein, was für sie gut ist. Sonst könnten BetreuerInnen ihre ethischen Grundsätze so definieren, dass sich auch fragwürdige Praktiken rechtfertigen lassen – womöglich noch mit dem Argument, man wolle das Beste für die KlientInnen. Sollten Grundsätze wie Gleichberechtigung und Partizipation Inhalte einer Berufsethik sein, müsste sich das auch bei der Erarbeitung dieser Grundsätze niederschlagen. Der von Pantucek vertretene Ansatz einer „KlientInnenanwaltschaft“, die nach dem Vorbild des KonsumentInnenschutzes die Interessen der Betreuten vertreten sollte, hätte vor allem im Fall von Interessenskonflikten zwischen Betreuten und BetreuerInnen bzw. Institutionen Vorteile. Der Nachteil ist aber, dass Entscheidungen, die von BetreuerInnen getroffen und verantwortet werden müssen, nicht ausschließlich aus der KlientInnenperspektive beurteilt werden können. Forderungen von KlientInnen, welche die Möglichkeiten und Grenzen der Betreuenden nicht berücksichtigen, wären ebenso sinnlos wie Angebote der Betreuenden, die an den Bedürfnissen der KlientInnen vorbeigehen. Das Problem der Fremdbestimmung besteht grundsätzlich auf beiden Seiten – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – und ist daher nur im Dialog aller Beteiligten lösbar.

1.3 Selbstverpflichtung der Betreuenden
Da der Berufsverband keinen Einfluss darauf hat, wer als BehindertenbetreuerIn arbeitet, wären ethische Grundsätze nur in dem Maß wirksam und verbindlich, wie sich einzelne selbst darauf verpflichten.

2. Was wären die Ziele einer Berufsethik?

2.1 Die Verbesserung der Situation der KlientInnen
Pantucek sieht das Ziel in der Verbesserung der gegenwärtigen Situation für die KlientInnen. Bezogen auf dieses Ziel hat die bewusst verunsichernde Ausgangsthese Pantuceks – „Mit einem Kodex wird´s nicht gehen“ – durchaus ihre Berechtigung. Um Missstände zu beheben sind unmittelbar wirksame, rechtliche Schritte notwendig. Da die Formulierung ethischer Grundsätze nur über den Umweg der Verbesserung des beruflichen Handelns durch ethische Reflexion und Bewusstseinsbildung wirksam ist, wäre ein einklagbares Antidiskriminierungsgesetz für eine Verbesserung der Situation der Betreuten wirksamer als eine bloße – zwar bewusstseinsbildende, aber rechtlich unverbindliche – Berufsethik.

2.2 Begründung und Verantwortung beruflichen Handelns
Das Ziel aus der Perspektive der BetreuerInnen wäre es, das berufliche Entscheiden und Handeln in konflikthaften Situationen begründet verantworten zu können. Ethische Fragen brechen in Situationen auf, in denen Interessen, Werte oder Ziele in Konflikt geraten und Unsicherheit im beruflichen Handeln entsteht. Dabei geht es zum einen darum, eigenen Entscheidungen innerlich zustimmen zu können und zum anderen, sie gegenüber KlientInnen und Organisationen zu vertreten. Ethische Richtlinien können einerseits eine Orientierungshilfe sein, wenn die Suche nach einer möglichst guten Entscheidung schwierig ist, andererseits können und sollen sie Entscheidungen auch kritisch in Frage stellen.
Die ethische Reflexion sollte zu einem selbstverständlichen Teil beruflicher Kompetenz werden und zur Begründung und Verantwortung beruflichen Handelns beitragen.

2.3 Qualitätskontrolle für Institutionen
Für die Organisationen könnte der Grad der Reflexion und Realisierung ethischer Grundsätze ein Kriterium der Qualitätskontrolle sein – z.B. in Form von Ethikkommissionen.

2.4 Gesellschaftspolitische Faktoren
Über das „Dreieck“ Betreute – Betreuende – Organisationen hinaus ist eine Verbesserung der gegenwärtigen Situation auch von gesellschaftspolitischen Faktoren abhängig. Ethische Grundsätze spiegeln gesellschaftliche Phänomene wie z.B. die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen. Andererseits können ethische Grundsätze auch problematische Umgangsweisen mit Menschen mit Behinderungen bewusst machen und eine Grundlage für die Ausgestaltung von Rechtsnormen sein. Es gibt Wechselwirkungen in beide Richtungen. Die Umsetzung von ethischen Grundsätzen, wie sie z.B. in den Menschenrechten gefordert sind, in geltendes Recht bzw. von in der Verfassung garantierten Grundrechten in gesetzlich einklagbare Bestimmungen, ist nicht die Aufgabe eines Berufskodexes, sondern eine politische Aufgabe. Die Erfüllung dieser Aufgabe ist nicht zuletzt davon abhängig, welche finanziellen und personellen Ressourcen eine Gesellschaft dafür bereitstellen kann und will. Auch dahinter verbirgt sich letztlich die Frage nach den Werten einer Gesellschaft.

3. Mögliche Wirkungen und unerwünschte Nebenwirkungen

3.1 Stärkung ethischer Haltungen
Die Formulierung ethischer Richtlinien auf der Ebene der Berufsgruppe kann ein Schritt weg vom Einzelkämpfertum sein. Es macht einen Unterschied, ob ethische Forderungen von Einzelnen, Teams oder Berufsgruppen vertreten werden.
3.2 Transparenz von Entscheidungen
Haltungen, die begründet und bewusst verantwortet werden, können auch überzeugender vertreten werden. Hinter vielen Entscheidungen stehen implizite, aber nicht deklarierte Werthaltungen, Menschenbilder und Grundsätze: Diese explizit zu formulieren, ist ein Beitrag dazu, Entscheidungen für alle Beteiligten nachvollziehbar, aber auch angreifbar zu machen. Eine Berufsethik wäre ein öffentliches und damit auch von außen kritisierbares Papier.

3.3 Destruktivität unrealistischer Idealnormen
Ideale sind Richtschnur des Handelns, die nie ganz erreichbar sind, aber trotzdem nicht aus dem Blick verloren werden sollten. Anspruchsvolle ethische Grundsätze können neben unrealistischen Berufsbildern und Idealen zu einem zusätzlichen Burnout-Faktor für Betreuende werden. Dieses Risiko liegt allerdings nicht in den ethischen Grundsätzen selbst, sondern im Umgang mit diesen. „Sollen“ setzt „Können“ voraus. Niemand kann verpflichtet werden zu tun, was ihm / ihr nicht möglich ist. Was in einer konkreten Situation „gut“ ist, kann nicht von Idealen abgeleitet werden, sondern ist von den situativen und kontextuellen Möglichkeiten auf persönlicher und institutioneller Ebene abhängig. Es ist unrealistisch, ethischen Idealvorstellungen unter nicht-idealen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen zu entsprechen, also z.B. bei extrem langen Dienstzeiten aufmerksam und einfühlend auf Bedürfnisse von KlientInnen einzugehen. Der Maßstab für ethisches Handeln kann nicht die Erfüllung abstrakter Idealnormen sein, sondern das Beste, das einer Person in einer konkreten Situation mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln möglich ist.

3.4 Flucht in die Illusion
Die Gefahr der „Verdoppelung der Illusion über den eigenen Berufsstand“ durch eine Berufsethik (Pantucek) kann auch unter dem Aspekt der Flucht vor der Verantwortung gesehen werden. Diese Gefahr besteht vor allem, wenn die Diskrepanz zwischen Idealen und Realität nicht ehrlich zur Kenntnis genommen wird. Eine Berufsethik, die sich einseitig an Idealen orientiert, könnte eine Verstärkung unrealistischer Berufsvorstellungen nach sich ziehen. Eine Berufsethik hingegen, die ihr Werten und Handeln in die konkrete Situation einbindet und die menschlichen Möglichkeiten und Grenzen anerkennt, bewegt sich nicht im idealen, sondern im realen Handlungsbereich. Dadurch werden auch die Grenzen der individuellen Verantwortung deutlich, was zu einer Entlastung führen kann. Die ethische Dimension in das Denken und Handeln einzubeziehen, ist ein Mittel, um der eigenen Verantwortlichkeit gerecht zu werden und nicht nur eine (Über-) Forderung. Ethisch Denken und Handeln heißt auch, sich der Grenzen der eigenen Möglichkeiten bewusst zu sein und dazu zu stehen.

4. Wie die ersten Schritte zur Entstehung einer Berufsethik aussehen könnten

4.1 Bestandsaufnahme
Welche Themen, Probleme, Konflikte in der Behindertenbetreuung sind als ethische zu betrachten? In welchen Situationen brechen sie auf? In welchem Ausmaß werden ethische Fragen, Probleme, Konflikte überhaupt als solche wahrgenommen? Wo gibt es „blinde Flecken“ in der Beurteilung des eigenen Handelns und wie kann man diese beheben?

4.2 Wie können ethische Fragen bearbeitet werden?

4.2.1 Vom Abstrakten zum Konkreten
Man kann die Frage von der theoretischen Seite angehen und dazu Menschenbilder, Grundhaltungen, Berufsethiken verwandter Berufsgruppen, allgemeine ethische Grundsatzerklärungen und Fachliteratur heranziehen. Das Problem des theoretischen Ansatzes ist die Diskrepanz zwischen Grundsatz- und Absichtserklärungen und alltäglicher Praxis. Ethik muss konkret werden, soll sie ihrem Anspruch gerecht werden. Die Gefahr, bereits vorhandenen vagen, unverbindlichen Leerformeln weitere hinzuzufügen, liegt auf der Hand. Ethische Grundsätze wirken sich nicht unmittelbar auf die Praxis aus, sondern nur in dem Maße, wie sich die Handelnden auch daran gebunden fühlen und zur praktischen Umsetzung in der Lage sind.

4.2.2 Von konkreten Einzelentscheidungen zu allgemeinen Grundsätzen
Jede Situation ist anders, jede/r entscheidet auf dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen und Überzeugungen, die für andere nicht verbindlich sein können. Das Problem des Ansatzes bei alltäglichen Konfliktsituationen ist, wie man von der Vielfältigkeit und Einmaligkeit von Entscheidungssituationen zu grundsätzlichen Aussagen kommt. Die Chance, einen gemeinsamen Nenner ethischer Prinzipien zu finden, die von möglichst vielen BehindertenbetreuerInnen mit verschiedenen Menschenbildern, Weltanschauungen, ethischen, religiösen und politischen Überzeugungen anerkannt werden, ist gering. Der Preis für breite Zustimmung und Anerkennung von Prinzipien sind Formulierungen, die für viele Interpretationen offen sind.

4.2.3 Ethische Theorien als „Werkzeuge“ zur Analyse praktischer ethischer Probleme
Ein möglicher Mittelweg zwischen abstrakten allgemeinen Grundsätzen und konkreten individuellen Einzelentscheidungen wäre, konkrete Situationen, Konflikte, Fragen, welche von BehindertenbetreuerInnen als ethische Probleme wahrgenommen werden, zunächst zu sammeln und zu diskutieren. Eine Berufsethik, die von praktischen Problemen ausgeht, hat ein geringeres Risiko, den kontextsensiblen Bezug zur jeweils besonderen Realität zu verlieren. Dabei können ethische Fragen und Antworten auf Grundannahmen und Werte, Begründungen, Argumente und Widersprüche hin analysiert werden. Dazu sind ethische Theorien nicht nur hilfreich, sondern unumgänglich. Dabei müssten Fragen wie die folgenden einer näheren Betrachtung unterzogen werden: Welche Werte oder Wertkonflikte, Grundhaltungen oder Prinzipien stehen hinter Entscheidungen und Handlungen? Nach welchen Kriterien lassen sich diese ordnen? Wie lassen sie sich begründen und gegenüber Dritten rechtfertigen? Wie kommt man zu fairen Lösungen für Interessenskonflikte zwischen BetreuerInnen und Betreuten, zwischen gesellschaftlichen und individuellen Interessen?
In welchen Diskussionen würden sich vermutlich wiederkehrende Themen und Probleme herauskristallisieren? Ethische Theorien, Begründungs- und Argumentationsmuster können „Werkzeuge“ für die Reflexion, Analyse und Begründung ethischer Haltungen zur Verfügung stellen. Sie können aber nie regelhafte Handlungsanweisungen sein, die die persönliche Verantwortung ersetzen würden.

5. Mögliche Ergebnisse

5.1 Ethisches Bewusstsein
Ethisches Bewusstsein entsteht in und durch die Auseinandersetzung mit ethischen Problemen und bei der Suche nach verantwortbaren Lösungen. Ethisches Entscheiden muss eingeübt werden. Die Schärfung des Blicks dafür, was ethische Fragen sind, die Erweiterung der Fähigkeiten zur Analyse ethischer Problemsituationen und zur Suche nach adäquaten Lösungsmöglichkeiten wäre demnach wesentlicher als ein festgeschriebener Verhaltenskodex.

5.2 Verhaltenskodex
Ein Kodex von Regeln und Anweisungen wäre ein Widerspruch zur Grundvoraussetzung ethischen Denkens und Handelns überhaupt, der Autonomie und Verantwortung der handelnden Personen. Eine ausformulierte Berufsethik setzt einen das gesamte Handeln begleitenden Reflexions- und Diskussionsprozess voraus, wenn sie nicht nur aus Leerformeln bestehen soll.

5.3 Gelebte Ethik als kreativer und unabschließbarer Prozess
Entscheidend ist nicht ein Kodex, sondern das bewusste Wahrnehmen ethischer Probleme als Voraussetzung für eine gelebte, also konkret umgesetzte Ethik. Die Anwendung ethischer Grundsätze ist in der Praxis immer ein kreativer Prozess, in dem allgemeine Grundsätze auf konkrete Einzelsituationen umgelegt werden müssen. Einfache Handlungsanweisungen für schwierige Fragen sind dabei nicht zu erwarten. Es bleibt der Spielraum der Interpretation, die eigene Verantwortung und das Risiko von Irrtümern und Fehlentscheidungen. Ethische Reflexion ist auch ein unabschließbarer Prozess, da jede Entscheidungssituation letztlich einmalig ist. Die Notwendigkeit, sich sein Denken und Handeln immer wieder in Frage stellen zu lassen, würde trotz einer Berufsethik bestehen bleiben. Eine Berufsethik wäre nicht der Endpunkt einer ethischen Reflexion, sondern ein Anknüpfungspunkt für das kritische In-Frage-Stellen ethischer Grundsätze und insofern ein wünschenswertes Ergebnis.