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Was ist der Fall?

Fallstudiendidaktik an Sozialarbeits-Studiengängen
Beitrag für Telesozial
Peter Pantucek, im März 2004



Das Projekt „Telesozial“ hat in den letzten Monaten versucht, die Verwendung von Fallstudiendidaktik an den österreichischen Studiengängen Sozialarbeit zu fördern und dafür eine geeignete Onlineplattform zur Verfügung zu stellen.

„Case Studies“ und „Problem Based Learning“ sind Didaktiken, die die forschende Annäherung von Studierenden an eine praxisnahe Fragestellung für den Lernprozess zu nutzen versuchen. Ausgangspunkt von „Case Studies“ als Didaktik ist jeweils die Darstellung einer Praxissituation, die die Entscheidung über eine einzuschlagende Strategie der Problembearbeitung erfordert. Die Studierenden analysieren den Fall, diskutieren über die Zusammenhänge, holen Informationen ein, konsultieren ev. Literatur, und diskutieren dann mögliche Lösungen. Diese Didaktik kann sich vor allem dann voll entfalten, wenn die präsentierte Fallbeschreibung mehrdeutig ist, wenn Raum für Interpretation und Diskussion bleibt.

„Fälle“ im Sinne der Case Studies Didaktik sind reale Entscheidungssituationen, die für Zwecke der Lehre beschrieben werden.

Hier besteht die Gefahr eines Missverständnisses: Sozialarbeit ist eine Profession, die ihre Arbeit über „Fälle“ organisiert. Ein Fall in der praktischen Sozialarbeit ist nicht ident mit dem, was ein Fall für die Case Studies Didaktik ist – aber aus vielen Praxis-Fällen ließen sich Case Studies-Fälle machen.

Ein weiterer Hinweis scheint mir noch nötig: „Fallstudie“ ist jede wissenschaftliche Analyse einer realen Konstellation, oder in der Sozialarbeitswissenschaft eines realen Falles, mit dem Zwecke der Erkenntnisgewinnung. Also nicht notwendigerweise nur die Diskussion eines für die Lehre präparierten Falles, sondern auch die mit wissenschaftlicher Neugier erfolgende Sammlung von Daten über einen interessierenden Fall, seine Interpretation, den Vergleich mit anderen (ähnlichen) Fällen, die Diskussion theoretischer Ansätze anhand des Datenmaterials. Fallstudien in diesem letzteren Sinne sind Forschungsarbeiten. Es bleibt zu hoffen, dass sich unter den künftigen Diplomarbeiten an den Studiengängen Sozialarbeit auch viele Fallstudien finden werden. Die Case Studies Didaktik könnte Studierende dazu ermutigen, auch solche ausführlichere Fallanalysen anzugehen.

Wissenschaftliche Fallstudien gehören zu den wichtigsten Verfahren einer sozialarbeitswissenschaftlichen Forschung. Das liegt in der Struktur der Sozialarbeit selbst begründet: Wie Gildemeister (1995) feststellte, ist der Fallbezug konstitutiv für die Sozialarbeit.

Die Stärke der Sozialarbeit ist die Individualisierung, ihr Fokus liegt auf dem Speziellen der Fallsituation – unter Verwendung eines detaillierten Wissens über die spezifische Umwelt, ihr Funktionieren. Oder anders gesagt: Sozialarbeit ist eine Design-Science, die Aufgabenstellungen, vor denen SozialarbeiterInnen stehen, sind in ihrer Struktur jenen von ArchitektInnen ähnlich.

Die Herangehensweise der professionellen Sozialarbeit verhält sich zur Arbeit von Laien-HelferInnen oder von HelferInnen, die für einen begrenzten Arbeitsbereich ausgebildet wurden, wie die Arbeit der ArchitektInnen zur Arbeit von Baumeistern.

Ich verwende hier vorerst das Bild der Architektur, weil Häuser anschaulicher sind als Fälle. Baumeister liefern gutes Handwerk. Sie können Häuser regelgemäß und solide planen und bauen. Man erhält brauchbare Gebäude. Die Anforderungen an ArchitektInnen sind höher. Von ArchitektInnen wird erwartet, dass sie sich mit der gegebenen Situation in ihrer Komplexität und Unbestimmtheit beschäftigen, darauf mit ihren Entwürfen eine kreative, ästhetisch ansprechende und funktionierende Antwort finden: In welchem Umfeld soll das Gebäude stehen, wie ist auf die landschaftliche bzw. stadträumliche Situation zu reagieren, auf die Bedürfnisse der Bauherren, auf die Größe und Charakteristik des zu bebauenden Grundstücks, welche weiteren Entwicklungen sind in diesem Umfeld zu erwarten usw. Architektur löst Entwurfsprobleme, bewegt sich dabei auf unsicherem Terrain und muss ästhetische wie praktische Fragen lösen. Architektur kann sich nicht mit regelgeleitetem Handeln begnügen, dann wäre sie bloß Baumeisterei. Trotzdem erfordert die Ausübung dieser angewandten Kunst eine Fülle von Kenntnissen über Statik, Materialeigenschaften etc.

Wir können anhand dieser Analogie nun genauer über die Spezifik sozialarbeiterischer Fallbearbeitung nachdenken. Die Fälle sind komplex, die vorfindliche Situation ist überdeterminiert. Lösungswege sind aus mehreren Gründen nicht eindeutig. Die AkteurInnen sind Menschen, ihre Handlungen sind nicht mit Sicherheit voraussagbar. Die Situation der KlientInnen ist eine soziale Situation, also eingebettet in ein Set von weiteren AkteurInnen, von Regeln und materiellen Bedingungen. Die weitere Entwicklung hängt von einigen Dynamiken ab, die nur bedingt zu kontrollieren oder vorauszusagen sind.

Die adäquate Bearbeitung eines Falles durch SozialarbeiterInnen erfordert eine Reihe von Fähigkeiten:
  • das Wissen über fallrelevante Regeln (juristische und Alltagsnormen)
  • die Fähigkeit zur Gestaltung des Prozesses
  • die Fähigkeit zum Handeln unter Bedingungen der Ungewissheit
  • die Fähigkeit zur Berücksichtigung verschiedener Perspektiven

Die exemplarische Behandlung / Analyse / Bearbeitung von Fällen oder Fallbeispielen in der Berufsausbildung soll die Fallbearbeitung simulieren. Von der Konstruktion der Fälle hängt aber ab, ob das auch praxisnah gelingen kann und ob die Studierenden nicht durch die Fallbeispiele auf eine falsche Fährte gelockt werden, zum Beispiel indem die Illusion genährt wird, Fälle seien „eindeutig“ zu lösen.

Die für die Bearbeitung von Fällen in der Sozialarbeitspraxis erforderliche Kernkompetenz liegt nicht in der „Theorieanwendung“, sondern in der Fähigkeit, den Fall in seiner Charakteristik zu erkennen, ihn zu „lesen“. Diese Fähigkeit wird als hermeneutische Kompetenz beschrieben (vgl. dazu ausführlich die Beiträge in Kraimer 2000 und Schütze 1992). Der Erfolg der Fallbearbeitung hängt u.a. von der Fähigkeit ab, an die Deutungen der KlientInnen und der wichtigen Anderen anzuschließen, diese kritisch zu würdigen und weiterzutreiben. Die in der Folge zu beschreibenden verschiedenen Varianten einer fallbezogenen Didaktik können diesen Prozess der praktischen Fallbearbeitung in unterschiedlichem Ausmaß abbilden, sie haben ihre Stärken und Schwächen. Keine der Methoden stellt so etwas wie einen Königsweg dar, der die anderen Varianten ersetzen könnte.

Die von Telesozial im Handbuch empfohlene Abfolge von Schritten bei der Bearbeitung von didaktisch gestalteten „Case Studies“ scheint diesen Anforderungen nur bedingt gerecht zu werden:


Telesozial empfiehlt folgende sechs Schritte für einen möglichst großen Lernerfolg:
1. Erkennen der Problemsymptome einer Ausgangssituation (lt.
Fallbeschreibung und ergänzenden Materialien)
2. Bestimmung der zugrunde liegenden Ursachen durch Anwendung von
Theorie und Informationsrecherche (z.B. mit Hilfe der Skripten)
3. Sammlung von Lösungsmöglichkeiten
4. Analyse der Konsequenzen für die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten
5. Entscheidung über die Auswahl einer Lösungsmöglichkeit
6. Erstellung eines Planes für die Umsetzung

Diese Empfehlung geht von der stillschweigenden Annahme aus, dass es sich bei Problemen, wie sie durch eine Fallkonstellation aufgeworfen werden, um sogenannte gutartige Probleme handelt, also solche, bei denen Problem und die Wege zur Lösung klar sind. Fallprobleme wie sie in der sozialarbeiterischen Praxis auftreten sind allerdings meistens „wicked problems“, wie sie für Probleme in hochkomplexen und chaotischen Systemen charakteristisch sind. Sie entlang der oben dargestellten Anleitung zu analysieren versuchen, führt damit systematisch in die Irre.

Ad 1.: Eine Unterscheidung zwischen Symptom und Problem lässt sich objektiv kaum treffen bzw. ist diese Unterscheidung willkürlich. In der Sozialarbeit steht nicht ohne guten Grund eine Sammlung der Problemdefinitionen aus der Sicht der wichtigsten fallbeteiligten Personen am Beginn einer Fallanalyse.

Ad 2.: Gegebene Problemsituationen sind in der Regel überdeterminiert, d.h. es lassen sich ihnen eine Reihe von Bedingungen zuordnen, die als „Ursachen“ bezeichnet werden könnten. Die Benennung von Ursachen bringt daher i.d.R. die Fallanalyse nicht weiter, sondern bezeichnet nur die Vorliebe des Autors / der Autorin für einen bestimmten (psychologischen, soziologischen etc.) Theorieansatz.

Ad 3.: „Lösungen“ im engeren Sinne gibt es bei sozialarbeiterischen Fallkonstellationen stets nur für bestimmte, als „gutartige Probleme“ abgrenzbare Teilaspekte der Fallsituation.

Ad 4.: In der Folge können die Konsequenzen auch nur für Teilaspekte benannt werden.

Ad 5. und 6.: Hier wird der dialogische Charakter des Fallbearbeitungsprozesses ignoriert. Eine Entscheidung kann die Sozialarbeiterin stets nur über die eigene Vorgehensweise treffen, nicht jedoch über die Vorgehensweise dr KlientInnen. Die eigene Entscheidung für eine Taktik der Fallbearbeitung muss dann jeweils entsprechend der Reaktion bzw. der Aktionen der KlientInnen überprüft bzw. revidiert werden.

Zu Problemen der Planung von Fallprozessen sh. Possehl (2002).

Eine der sozialarbeiterischen Herangehensweise an Fälle adäquatere Didaktik müsste mehrperspektivische Sichtweisen (Müller 1993) fördern, von der Vorläufigkeit der Problemdefinitionen ausgehen, statt auf Ursachenforschung zu fokussieren Anknüpfungspunkte für Weiterentwicklung suchen, Theoriebezüge zur Klärung der Rahmenbedingungen und nicht zur Benennung der vermeintlichen Ursachen verwenden. Und sie müsste Standardfragen der methodischen Fallbearbeitung beinhalten, vor allem solche nach der Beziehungsgestaltung. Andernfalls wird ein technizistisches (und bürokratisches) Missverständnis gefördert, das Sozialarbeit bloß als fallbezogene Anwendung von psychologischem und juristischem Wissen sieht. Eine solche Sichtweise unterschreitet systematisch das längst erreichte Reflexionsniveau der Sozialen Arbeit als Profession und Disziplin, zu dem die Kenntnis der Eigendynamik von Interventionsprozessen gehört und das eine systemisch-konstruktivistische Sicht (prägnant dargestellt bei Willke 1987) integriert.



Die Problematik konstruierter Fälle

Konstruierte Fälle sind statisch: Sie frieren eine Fallsituation auf einem Zeitpunkt ein und suggerieren, dass nun mit den vorhandenen Informationen eine hinreichende Analyse des Falles und eine Planung der Vorgehensweise möglich sei. Konstruierte Fälle bilden so (günstigstenfalls) einen Aspekt der Fallbearbeitung ab, nämlich dass die Bearbeitung jeweils erfolgen muss, also keinen Aufschub duldet bzw. ein Aufschub selbst schon als Fallbearbeitungsstrategie beschreibbar wäre.

Die Konstruktion von Fällen zu Zwecken der Didaktik verführt dazu, sie zu eindeutig auf gewünschte Wissensbestände/Lernziele hin zu konzipieren. Die für Realfälle charakteristische Vieldeutigkeit (die sich für erfahrene SozialarbeiterInnen schon beim Erstgespräch andeutet, für weniger erfahrene möglicherweise erst im Verlaufe der Fallbearbeitung) wird so eliminiert bzw. wird der Eindruck erweckt, dass sich durch die Beiziehung der „richtigen“ Quellen diese Mehrdeutigkeit beseitigen und „richtig“ auflösen ließe.

Konstruierte Fälle sind so etwas wie umgepolte Fallbeispiele: Ein Fallbeispiel dient der Verbildlichung einer vorerst abstrakten (theoretischen) Aussage. Fallbeispiele sind unverzichtbarer Bestandteil der Lehre, weil sie – manchmal in fast karikaturhafter Zuspitzung – Wissen veranschaulichen. Bei Fallbeispielen steht erkennbar nicht der Fall im Vordergrund, sondern das zu veranschaulichende fallübergreifende Wissenselement aus Methodik, Theorie, Bezugswissenschaft. Konstruierte Fälle verschweigen ihren Charakter als Illustration, sind aber doch nichts anderes: Sie wurden konstruiert, um zur Theorie zu passen. Konstruierte Fälle sind in der Regel unterkomplex, eindeutig und enthalten nicht mehr Informationen, als in der Falldarstellung sichtbar werden. Realfälle sind überkomplex, mehrdeutig, und enthalten potenziell wesentlich mehr Informationen, als in der Falldarstellung enthalten sein können. Bei Realfällen kann immer die Falldarstellung (die Auswahl der präsentierten Fakten) kritisiert werden.


Fallberichte

Da die Studierenden durch mehrere Praktika direkten Zugang zur Praxis der Sozialen Arbeit haben, ist es ihnen auch möglich, die Fallbearbeitung durch PraktikerInnen aus eigener Anschauung kennenzulernen. Die Erstellung von Fallberichten im Praktikum und die Diskussion dieser Fallberichte in den Praxisseminaren sind klassische Formen der Didaktik in Sozialarbeits-Studiengängen. Der Lernerfolg könnte dadurch optimiert werden, dass an die Fallberichte bereits relativ hohe Anforderungen gestellt werden: Anstelle der Fallberichte sollten Fallstudien treten, also kleine Arbeiten, zu denen die Datenrecherche in Akten / Unterlagen und durch Interviews ebenso dazugehört wie die Rekonstruktion des Fallverlaufs, eine Darstellung und Einschätzung der bisherigen Geschichte der Fallbearbeitung und eine Analyse der aktuell vorliegenden Probleme aus der Sicht der Fallbeteiligten, eine Bezugnahme auf die relevanten rechtlichen/medizinischen/methodischen Aspekte des Falles. Ein solcher erweiterter Fallbericht (oder korrekterweise: eine solche Fallstudie) wäre im Praxisseminar zu präsentieren und zu verteidigen, wäre Basis für die Diskussion von methodischen und theoretischen Fragen.


Fallbeispiele

Kurze Darstellungen einer Fallsituation, an deren Beispiel methodisches, rechtliches etc. Wissen expliziert werden kann.


Fallvignetten

Kurze Darstellungen einer Fallsituation. Sie dienen als Ausgangspunkt für Diskussionen über „typische“ Fallkonstellationen, bevorzugt auch zur Darstellung ethischer Dilemmata oder schwieriger Entscheidungssituationen. Trotz der Kürze der Darstellung sind Fallvignetten mitunter ertragreich in der diskursiven Bearbeitung.


Rollenspiele

In der Sozialarbeitsdidaktik haben Rollenspiele seit langem zu Recht ihren fixen Platz.Sie sind einfach zu konzipieren und auch spontan einsetzbar. Sie bringen eine Reihe von unschätzbaren Lernerfahrungen: Zuallererst sind sie Spiel, ermöglichen also Handeln unter Laborbedingungen. Sie ermöglichen die Rekonstruktion von Situationen doppelter Kontingenz und reproduzieren die Dynamik und Eigengesetzlichkeit von Face-to-face-Kommunikation; im Rollenspiel wird durch die Rollenübernahme die Fähigkeit geübt, sich in die Position von anderen zu versetzen; Reflexionsleistungen werden trainiert. Der entscheidende Nachteil von Rollenspielen ist allerdings, dass sie notwendigerweise nur ein Gespräch abbilden können. Im Vergleich zur Gesamtstruktur eines Falles bzw. zum Gesamtprozess der Fallbearbeitung ist das nur ein kleiner Ausschnitt.


Planspiele

Planspiele ermöglichen die Überwindung der Begrenztheit von Rollenspielen. Sie können einen komplexeren Fallzusammenhang abbilden und den Prozess über mehrere Schritte simulieren. Planspiele eignen sich wegen ihres hohen Gehalts an Kontingenz sehr gut für die kontrollierte Übung strategischer Fähigkeiten unter Laborbedingungen. Planspiele entlang von Fallkonstellationen wären der Königsweg einer fallbezogenen Didaktik, wenn sie nicht auch gravierende Nachteile hätten: Ihre Vorbereitung ist äußerst aufwändig, ihre Durchführung dauert länger (bei kleinen Planspielen mindestens einen Tag). Das Spiel selbst ist so komplex, dass seine Dokumentation, Auswertung und Reflexion nur ausschnittweise erfolgen kann.

Manchen dieser Probleme könnte man begegnen, indem man ein Fallplanspiel über Internet abwickelt. Bei sorgfältiger Konstruktion der Rollenbeschreibungen, der Aufteilung der Rollen auf verschiedene Studierendengruppen (bevorzugt von mehreren, räumlich getrennten Studiengängen) und einem durchdachten Design der Spielregeln könnte über ein oder zwei Semester ein Fallplanspiel eindrucksvolle Lernerfahrungen bringen. Umfangreiche Vorbereitungsarbeiten wären allerdings auch bei dieser Form der Planspieldidaktik erforderlich.

Simulationen

Das Trainieren des Umgangs mit komplexen Situationen ist auch einzelnen möglich, wenn die Studierenden ein sorgfältig konstruiertes Programm zur Verfügung haben, das über mehrere Parameter die Eigendynamik einer (sozial-)ökologischen Landschaft nachbildet. Inzwischen legendär sind manche in der kognitiven Psychologie entwickelten Programme, beschrieben bei Dörner (1992; Dörner / Schaub 2002). Simulationen komplexer Handlungssituationen (Ökotope) werden auf der Basis von empirisch ermittelten Zusammenhängen zwischen mehreren die Situation bestimmenden Faktoren erstellt. Der Computer ermöglicht es, diese Situationen unter Laborbedingungen zu üben.

Leider gibt es meines Wissens derzeit noch keine Simulationsprogramme, die chrakteristische Fallsituationen aus der Sozialarbeit modellieren.


Fallverlaufsstudien

Fallstudien im engeren Sinne wären Studien, die einen Realfall zum Gegenstand haben. Voraussetzung für den Studiencharakter wäre, dass Daten in einer noch unaufgearbeiteten Form zur Verfügung stehen, die von den Studierenden im Duktus der Forschungsarbeit aufgefunden, verarbeitet und interpretiert werden könnten. Solche Daten wären Akten oder andere Formen der Dokumentation, Interviews mit AkteurInnen, Beobachtungen etc. Ich bezeichne diese Fallstudien in der Folge als Fallverlaufsstudien, um sie besser gegen didaktisch zubereitete „Case Studies“ abgrenzen zu können.

Im Zusammenhang des praxisorientierten Lernens auf Hochschulniveau sind Fallverlaufsstudien bestens dazu geeignet, die neugierige und kritische Herangehensweise an Daten, die sorgfältige Einschätzung der Datenqualität, eine reflektierte Haltung zu sozialarbeiterischer Praxis und die Einsicht in die multifaktorielle Bedingtheit von Lebens- und Handlungssiutationen zu befördern.

Eine Fallverlaufsstudie erschließt im Vorgang der Datensammlung die Komplexität des Falles und öffnet damit ein Feld für Strukturierungen und Interpretationen, ein Feld für die Bearbeitung und Interpretation der Daten nach den unterschiedlichsten Methoden.

Fallverlaufsstudien sind insofern ergebnisoffen, als sie nicht auf eine „richtige“ Lösung hin orientiert sind, als sie nicht der Illustration einer Hypothese oder Theorie dienen. Sie sind im Gegenteil dazu geeignet, anhand der konkreten Vieldeutigkeit des Materials die Logik bestimmter (theoretischer und methodischer) Zugangsweisen mit ihren Erkenntnispotenzialen und blinden Flecken zu verdeutlichen.

Am besten für eine solche Behandlung geeignet sind Realfälle, deren Daten zugänglich sind oder zugänglich gemacht werden können. Eine zu weit gehende didaktische Beschränkung oder Vorauswahl des Datenmaterials wäre abzulehnen, da dadurch einige Erkenntnisschritte verunmöglicht würden. Vor allem ist es die kritische Beurteilung der Datenquellen selbst, die Fallstudien von der Bearbeitung didaktisch konstruierter Fälle unterscheiden. Die Datenproduktion (Dokumentation etc.) muss bei einer Fallstudie selbst als Element der Fallkonstituierung in den Blick genommen werden und scheint genauso „symptomatisch“ wie die Handlungen der KlientInnen oder ihres sozialen Umfelds.

In der Bearbeitung des Falles im Rahmen einer Fallverlaufsstudie können mehrere Ebenen in den Blick genommen werden:

  • Wie konstituiert sich der Fall als „Fall“, d.h. wodurch wird er zu einem Fall gemacht, welche institutionellen Entscheidungsprozesse führten zur Definition als „Fall“ und auf welchen institutionellen Regeln fußt die Falldefinition
  • Wie strukturiert die Institution den Fall (Setting, Bearbeitungsprozeduren, Zuweisung zu welchen Spezialisten)
  • Welche Personen und Institutionen sind in den Fall involviert
  • Welche Problemdefinitionen werden im Prozess der Fallbearbeitung „gehandelt“
  • Wie stellt sich die Lebenssituation der Betroffenen – vorerst unabhängig von der Fallbearbeitung durch die Institution – dar
  • Wie beeinflusst die Fallkonstituierung die Lebenssituation der Betroffenen
  • Welche Beziehungslogik entfaltet sich im Rahmen der Fallbearbeitung
  • Wie entwickeln sich die Machtverhältnisse im Zuge der Fallbearbeitung
  • Welche Formen der Problemlösung werden von welchen Beteiligten angewendet und wie erfolgreich sind sie
  • Wie erklären sich die Beteiligten (inklusive der institutionellen Akteure) den Verlauf des Falles
  • Was sind die – intendierten und nicht-intendierten – Ergebnisse der Fallbearbeitung
  • Welche Prozesse des Ein- und Ausschlusses sind im Fallverlauf wahrnehmbar
  • Wie beeinflussen relativ autonome Dynamiken auf den Ebenen Physis / Psyche / mikro- und makrosozialer Systeme den Gang der Dinge
  • etc.


Fallverlaufsstudien sind eine offene Form des Forschens und Lernens: ihre Ergebnisse sind nicht voraussehbar. Das Datenmaterial eines Falles kann zu den verschiedensten Fallstudien und zu divergenten Hypothesen auf Basis des vorhandenen Datenmaterials führen. Sie sind dann besonders ertragreich, wenn es gelingt, den auf der Hand liegenden Deutungen zu entkommen bzw. diese alltagspraktisch verkürzten Deutungen zu problematisieren und zu einer weiteren Recherche zu ermutigen. Fallverlaufsstudien können also nie auf „die“ richtige Anwort (die die Lehrenden immer schon wissen) abzielen, sondern ermöglichen die Auffindung neuer Fragen und neuer Antworten (die allerdings von den FallstudienautorInnen gerne mit Überzeugung vorgebracht werden dürfen).

Die Verarbeitung (manchmal auch bereits die Beschaffung) der Daten erfordert die Anwendung reflektierter Forschungsmethodik. Die Forschungswerkstatt wäre also ein idealer Ort für die betreute Erstellung von Fallverlaufsstudien während des Sozialarbeitsstudiums.

Die Fallverlaufsstudie geht notwendigerweise von der Situation zu einem gewissen Zeitpunkt aus. Zu diesem Zeitpunkt wird der Fall „angehalten“ und den Studierenden zur Analyse vorgelegt. Dadurch entsteht eine für die praktische Sozialarbeit ungewöhnliche Lage: Der Prozess läuft nicht weiter, es besteht keine Möglichkeit, mittels Dialogs mit den wichtigsten AkteurInnen und mittels Versuch und Irrtum den Fall weiter zu erforschen. Reale sozialarbeiterische Entscheidungssituationen können zumeist pragmatisch gelöst werden, nämlich durch das Setzen von vorsichtigen Schritten, die möglichst viele Optionen offen lassen. Die wichtigste Option, die jedenfalls offen bleiben muss, ist die des weiteren Dialogs. Die weiteren Schritte werden dann von den nächsten „Spielzügen“ der KlientInnen oder der anderen wichtigen Akteure abhängig gemacht. Bei der Fallstudie steht dieser Weg nicht zur Verfügung. Es ist daher eher davon abzuraten, eine Fallstudie auf eine Entscheidungssituation hin zu strukturieren oder die Studierenden eine längerfristige Strategie entwerfen zu lassen.

Fallverlaufsstudien eignen sich also besser zur Analyse des Vergangenen. Hier haben sie allerdings ein großes Potenzial, können den kritischen Blick der Studierenden schärfen, Diskussionen zu praktischen, ethischen und theoretischen Fragestellungen evozieren.


hermeneutische Übung

Die hermeneutische Übung ist eine kleine Deutungsaufgabe, die mit Originalmaterial aus einem Fall operiert (Texten und/oder Bildern). Wesentliche Elemente des Falles werden über die kontrollierte Interpretation rekonstruiert. Die hermeneutische Übung schult die Deutungskompetenz der Studierenden, schärft ihren genauen und kritischen Blick auf vorliegende Daten. Die Lehrenden sollten allerdings selbst Übung in wissenschaftlichen hermeneutischen Verfahren haben.


begleitende Fallstudie

Eine der didaktisch interessantesten Varianten der Fallbearbeitung ist, einen Fall, der aktuell noch „in Bearbeitung“ ist, in die Lehre einzubringen.

Vorgangsweise: Von der Lektorin wird ein Fall, den sie selbst bearbeitet oder von dessen Bearbeitung sie genaue Kenntnis hat, in der Lehrveranstaltung vorgestellt. Die StudentInnen erhalten die Möglichkeit, anhand der vorhandenen Informationen zu diskutieren, Hypothesen zu generieren und den weiteren Verlauf des Falles vorauszudenken. In den weiteren Lehrveranstaltungen wird die jeweils neue Entwicklung referiert und die Hypothesen aus der letzten Sitzung werden einer kritischen Würdigung unterzogen.

Diese Vorgehensweise ist außerordentlich interessant, da hier auch die Lehrenden auf unsicherem Terrain agieren. Die Illusion, Fälle seien klar und eindeutig „lösbar“, kann so gar nicht aufkommen. In der Lehre können nicht nur die „objektiven“ Bedingungen eines Falles, sondern auch die Dynamik der Fallbearbeitung, die sequentielle Gewinnung von weiteren Informationen über die Fallsituation und das Aufstellen und Verwerfen von Hypothesen, wie es für eine prozesshafte Fallbearbeitung charakteristisch ist, im Lernprozess begleitend nachvollzogen werden.

Die begleitende Fallstudie ist eine Didaktik, die der Profession angemessen ist und in hohem Maße sowohl die wissensbasierten als auch die prozessorientierten Fähigkeiten schult, die SozialarbeiterInnen für die Bearbeitung und Analyse von Praxissituationen benötigen. Allerdings erfordert diese Didaktik die Fähigkeit der Lehrenden, sich selbst einem Risiko auszusetzen: Nämlich dem Risiko, dass ihre eigenen Einschätzungen vom realen Verlauf des Falles hinweggefegt werden, dass sie in ihren Analysen als fehlbar erkennbar werden.



Resümee

Eine fallorientierte Didaktik hat in der Gestaltung der Lehre ein großes Potenzial, für die Realisierung dieses Potenzials wird es aber erforderlich sein, die Chrakteristik sozialarbeiterischer Fälle bewusst in die Gestaltung der Fallbeschreibungen und der Aufgabenstellungen einzubeziehen. Die sich nun an den Fachhochschulen etablierende sozialarbeitswissenschaftliche Forschung könnte eine wichtige Zuarbeit leisten, indem sie selbst systematisch Fallstudien als dem Gegenstandsbereich der Sozialarbeitswissenschaft angemessene Methode praktiziert und exemplarische Fallanalysen zugänglich macht. Es bleibt zu hoffen, dass Telesozial diese Entwicklung zu fördern im Stande ist. Vielleicht finden sich auf dieser Plattform bald die ersten Fallstudien-Diplomarbeiten und eine Bibliografie über die kasuistische Literatur in Sozialarbeitswissenschaft und Sozialpädagogik.


Literatur


Ackermann, Friedhelm / Owczarski, Silke (2000): Soziale Arbeit zwischen Allmacht und Ohnmacht. Eine exemplarische Fallrekonstruktion zur Logik sozialarbeiterischen Handelns. In: Kraimer, Klaus (Hg.): Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Frankfurt. S. 321-344.

Bourdieu, Pierre (1997): Verstehen. In: Bourdieu, Pierre u.a.: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz.

Buber, Renate / Meyer, Michael (Hg.) (1997): Fallstudien zum Nonprofit Management. Praktische BWL für Vereine und Sozialeinrichtungen. Stuttgart.

Dörner, Dietrich (1992): Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek.

Dörner, Dietrich / Schaub, Harald (2002): Spiel und Wirklichkeit: Über die Verwendung und den Nutzen computersimulierter Planspiele. In: http://www.uni-bamberg.de/~ba2dp1/dokumente/DoernerSchaub_Spiel_und_Wirklichkeit_
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Gildemeister, Regine (1995): Professionelles soziales Handeln - Balancen zwischen Wissenschaft und Lebenspraxis. In: Wilfing, Heinz (Hg.): Konturen der Sozialarbeit. Wien. S. 25-40.

Höpfner, Norbert / Jöbgen, Manfred / Becker, Roland (1999): Zur Methodisierbarkeit von Hilfe oder Braucht die Soziale Arbeit Diagnosen?. In: Peters, Friedhelm (Hg.): Diagnosen, Gutachten, hermeneutisches Fallverstehen. Frankfurt am Main.

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Kraimer, Klaus (Hg.) (2000): Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Frankfurt am Main.

Müller, Burkhard (1993): Sozialpädagogisches Können. Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit. Freiburg.

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Willke, Helmut (1987): Strategien der Intervention in autonome Systeme. In: Baecker, D.u.a.(Hg.): Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60.Geburtstag. Frankfurt/M.. S. 333-361.