Lebensweltorientierung der Sozialarbeit als Antwort auf gesellschaftlichen Umbruch

Referat, gehalten auf einer Papersession des Jubiläumskongresses der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie, 21. September 2000, Wien.

 


Sehr geehrte Kolleginnen,

sehr geehrte Kollegen.

Seit dem Amtsantritt der Regierung Schüssel / Riess-Passer mehren sich die Anzeichen, dass geschwächte, in den letzten Jahrzehnten auf dem Rückzug befindliche, Normalitätsvorstellungen durch eine ideologisch-propagandistische Kraftanstrengung, verbunden mit nicht nur symbolischen Maßnahmen, wieder in Geltung gesetzt werden sollen. Ich gehe hier nicht weiter auf die ausführlich verwendeten Muster nationaler Formierungspropaganda ein, die auf eine Delegitimierung der Kritik im allgemeinen und der Opposition im besonderen zielen und die – als Propaganda – deutlich autoritäre Züge zeigen. Für unser Thema interessiert vor allem jene Argumentation und interessieren jene Maßnahmen, die die Normalitätsvorstellungen eines Teils der Gesellschaft zum Kriterium für Sozial- und Kulturpolitik machen wollen.

Sie treffen, wie wir wissen, auf eine sich weiter ausdifferenzierende Gesellschaft, in der Individuen mehr als je zuvor bei biografiewichtigen Entscheidungen, aber auch in ihrem Alltag, bei der Wahl der Lebensweise etc. auf sich selbst zurückgeworfen sind. Beschrieben wird ein Prozess der weiteren Vergesellschaftung (im Marx´schen Sinne und im Sinne der verblichenen marxistischen Kritischen Psychologie), der begleitet ist von einem Prozess der Individualisierung. Das schwindende Integrationsptoential der Familien, die Multiplizierung der Möglichkeiten des Ausschlusses bzw. des Verlusts vermeintlich sicherer Lebensmöglichkeiten und Identitäten wurde in den letzten Jahrzehnten von einer Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Ausweitung des Sozialsystems begleitet. Neben die klassischen Institutionen Sozialer Arbeit traten und treten neue, viele davon beratungsorientiert. Wachstum und Spezialisierung waren und sind noch Kennzeichen der Branche.

Daraus entstehen jedoch neue Probleme, die die Wirksamkeit des Systems der stellvertretenden Inklusion (Baecker, Kleve) in Frage stellen. Diese Folgeprobleme sind in erster Linie Folgeprobleme der Spezialisierung, und es gibt mehrere Möglichkeiten der Reaktion darauf. Doch vorerst eine These, auf die die weitere Argumentation aufbauen wird:

These: Sozialarbeit als Profession entstand als Antwort auf den Bedarf nach der Individualisierung sozialer Leistungen.

Seit Mary Richmonds Arbeit und Publikationen dominierte die Frage danach, wie Unterstützungsmaßnahmen individualisiert, passgenau und wirkungsvoll gemacht werden können, die sozialarbeiterische Diskussion. Diese Individualisierung ist auch die im Wesentlichen unbestrittene aktuelle Leistung der Sozialarbeit. Ihr professionelles Repertoire bezieht sich auf die Applizierung von Unterstützungsleistungen im Mikrobereich, auf die personen- und kleingruppenbezogene Arbeit der Anbindung an Gesellschaft. Es ist jene doppelte Übersetzungsleistung, die das professionelle Profil ausmacht: Gesellschaftliche Normen, Regeln, Orientierungswissen wird an Individuen bzw. Gruppen kommuniziert, umgekehrt werden deren Bedürfnisse rückübersetzt und in der Form von Lobbying, Expertisen etc. wieder an relevante EntscheidungsträgerInnen kommuniziert.

Unter den Bedingungen der von der postmodernen Theorie beschriebenen und Ent-Einheitlichung der gesellschaftlichen Welt und der institutionellen Spezialisierungen entsteht ein umgekehrtes Problem: das der Fragmentierung. Die spezialisierten Dienste betreuen / unterstützen Individuen nur mehr unter einem Aspekt bzw. in bezug auf einen Aspekt ihres Lebens. Eine zusammenhängende "Persönlichkeit", ein konsistentes Alltagslenem müssen die Individuen wieder auf sich alleingestellt konstruieren. Dies fällt jenen besonders schwer, die aus mehreren Gründen von Ausschluss bedroht oder betroffen sind. Spezialisierte Dienste nehmen das gar nicht mehr wahr oder reagieren selbst mit Ausschluss. Ihre Programme passen nur für die relativ "fitten" SchuldnerInnen, Obdachlosen, traumatisierten Kinder etc. Bei vielen KlientInnen sozialer Einrichtungen entstehen mehrfache und vielfache Betreuungsverhältnisse, zwischen denen zu navigieren zu einer eigenen Überlebenstechnik wird, von manchen perfektioniert. Ihre Kraft müssen Sie auf den Umgang mit dem fragmentierten Hilfssystem verwenden.

Auf diese Situation sind aus dem Blickwinkel der Sozialen Dienstleistungsorganisation, der Behörden und der Sozialpolitik mehrere Antworten möglich:

  1. Ein Vorantreiben der Spezialisierung mit immer neuen, immer perfekter durchgestylten Bearbeitungsprogrammen. Diese Programme gehen von Problemdefinitionen aus, wie die Medizin von Krankheitsbildern. Eine präzise Diagnose und ein daraus abgeleiteter Programm-Mix sollen die "Treffsicherheit", um dieses neuerdings belastete Vokabel zu verwenden, und Wirkung erhöhen. Zu diesem Lösungsansatz sind die Case-Management-Konzepte zu zählen, die auf die Installierung von professionellen Fallverantwortlichen setzen, die alle weiteren Dienste koordinieren und kontrollieren. Das Case-Management versucht ein Problem der Institutionen zu lösen, die selbst den Überblick über die Gesamtheit der Unterstützungsleistungen verloren haben, die ihre KlientInnen erhalten. Aber man kann auch die negativen Folgen der Spezialisierung mit den Mitteln der weiteren Spezialisierung zu bekämpfen versuchen: Man muss nur weitere Spezialdienste für jene Personen schaffen, die zwar auffällig sind und daher gesellschaftlich als störend wahrgenommen werden, von den bisherigen spezialisierten Angeboten aber nicht erfasst (genauer: ausgegrenzt) werden.
  2. Möglich ist auch eine Ver-Marktung der Sozialen Arbeit. Ausgehend von der tw. illusionären Vorstellung, dass die potentiellen KlientInnen Sozialer Arbeit sich wie selbstbewusste und informierte KonsumentInnen auf dem Markt der Angebote bewegen können, solle es eine Vielfalt an Angeboten geben, die sich über Angebot und Nachfrage regulieren. So sympathisch die Aufwertung des Klientels ist, die hier mitgedacht wird, so sehr leidet dieses Ordnungsmodell doch an einigen fehlenden Voraussetzungen für sein Funktionieren in der Realität. Zu befürchten ist eher, dass ein solcher Markt einer mit einer erdrückenden Übermacht der DienstleistungsproduzentInnen wird. Nur weitreichende politische Entscheidungen können die KlientInnen mit jener Zahlungsfähigkeit und damit Marktmacht ausstatten, die das Funktionieren dieses Sektors als relativ normaler Markt mit seinen auch positiven Aspekten garantieren würde. Solche Entscheidungen sind nicht in Sicht.
  3. So bleibt als Drittes der Versuch der – zugegebenermaßen auch unbefriedigende – Weg der Gegensteuerung zu den unerwünschten Folgen der Spezialisierung durch normative und konzeptuelle Interventionen. Als ein Beispiel dafür will ich das Konzept der Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit beleuchten, das in Deutschland vor allem in der Jugendhilfe, aber nicht nur dort, Bedeutung erlangt hat.

Der schillernde Begriff der Lebenswelt hat in der Soziologie seine Tradition, Assoziationen zu Husserl und zu Schütz liegen nahe, aber auch zu Habermas. Für die Soziale Arbeit hat vor allem der Pädagoge Hans Thiersch den Begriff der Lebensweltorientierung geprägt. Gemeint ist damit eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf den tatsächlichen Alltag des Klientels, eine Präferenz für ethnografische und hermeneutische Methodik, eine Umorientierung der Institutionen der Sozialen Arbeit von problembezogenen Bearbeitungsprogrammen auf dialogische lebensweltnahe und ganzheitliche Vorgehenweisen.

Vorerst bedeutet das den Verzicht auf Versuche, die Soziale Arbeit in ihren praktischen und theoretischen Anstrengungen nach dem Modell der Medizin und deren Dreischritt von Anamnese, Diagnose und Therapie zu organisieren. In dieser Sichtweise sind strikt problembezogene Handlungsprogramme vorerst problematisch. An ihre Stelle treten vorerst offene und lernbereite Annäherungen an die alltäglichen Lebenswelten: Nachgehende und nachfragende Organisation, verbunden mit einer Beratungstechnik, die großen Respekt vor den Eigendiagnosen, Sichtweisen und Lebensverhältnissen des Klientels beweist.

Auf der Ebene der Organisation zwingt das zu einer Entspezialisierung, also einer Rücknahme von in der Vergangenheit getätigten Spezialisierungsschritten zugunsten einer wohnort- bzw. szenenahen Angebotsinszenierung. Als Beispiele können die Modelle mobiler Jugendarbeit (Streetwork) gelten, aber auch die Reorganisation des Jugendamtes der Hansestadt Hamburg. Den lebensweltnahen Organisationseinheiten wird dabei nicht nur die Rolle der Clearingstelle zugedacht, die dann an die "eigentlichen" Spezialisten weitervermitteln. Die Verankerung der Fachkräfte nahe der KlientInnenwelten soll vielmehr dazu befähigen, eine Verbesserung der Situation vor Ort zu erreichen. Nicht die "Rettung" der KlientInnen vor der Welt in der sie leben, ist Ziel, sondern Harm Reduction, das Herstellen von Verbindungen zu externen Ressourcen und die beratende Unterstützung bei der Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten. Die advokatorische Arbeit konzentriert sich auf die Verbesserung der Lebensbedingungen und Handlungsmöglichkeiten in der vorfindlichen Lebenswelt. An die Stelle von Problemdefinitionen aus einer Außensicht tritt die Bevorzugung des Dialogs und biografischer Interviewformen.

Die Schwäche des anspruchsvollen Programms ist seine geringe Standardisierbarkeit. Im Gegensatz zu diagnoseorientierten Bearbeitungsprogrammen (außergerichtlicher Tatausgleich, Schuldnerberatung etc.) ist eine Anpassung der Methodik an die jeweiligen Lebenswelten, eigentlich an jeden einzelnen Klienten erforderlich. Eine gewisse Sperrigkeit gegenüber Versuchen der standardisierten Leistungsbeschreibung lässt sich also nicht leugnen. Die Umsetzung lebensweltorientierter Arbeitsweisen bedarf eines recht hohen Niveaus der Reflexion und Selbstreflexion der Fachkräfte-Teams. Diese werden aber mitunter von politischer Seite mit überzogenen Wünschen nach einer "Befriedung" von auffälligen Szenen unter Druck gesetzt.

Der augenfälligste Vorzug lebensweltorientierter Organisation Sozialer Arbeit ist ihr Fokus auf den Alltag des Klientels. Die oben als Folgeproblem der Spezialisierung geschilderte Fragmentierung kann dadurch vermieden werden, es fällt auch die Abweisung von schwierigen KlientInnen um einiges schwerer und hat höheren Rechtfertigungsbedarf. Insofern kann von einer erwünschten Erhöhung der Verantwortlichkeit gesprochen werden.

Zwei Fragen sind noch zu beantworten. Die erste: Inwiefern ist Lebensweltorientierung, wie im Titel behauptet, eine adäquate Antwort auf die gesellschaftlichen Prozesse sozialer Differenzierung und Individualisierung? Die zweite: welche Konsequenzen ergeben sich aus der eingangs erwähnten Normalitätspropaganda für lebensweltorientierte Soziale Arbeit?

Zur Frage eins: Der Verzicht auf problemzentrierte Organisation macht erst die Wahrnehmung unerwarteter Bedürfnisse möglich. Defizitdefinitionen, die in der Medizin eine Berechtigung haben, weil die Vorstellung von einem klaglosen Funktionieren des Körpers als Normalitätsvorstellung weitgehend unproblematisch ist (mit Einschränkungen, die hier aber nicht ins Gewicht fallen), sind im Sozialbereich zunehmend kontraproduktiv. Stigmatisierungseffekte und sekundäre Ausgrenzungseffekte bzw. Viktimisierung machen zumindest teilweise Erfolge der Problembearbeitungsprogramme wieder zunichte. Diese Effekte erscheinen bei lebensweltorientierter Sozialarbeit durch ihre Offenheit und ihr nachgehendes und dialogisches Konzept minimiert.

zur Frage zwei: Abgesehen von der Gefahr der Kürzung finanzieller Mittel erschwert die von der Regierung kommende neue Legitimation für Normalitätsvorstellungen des Stammtischs die Arbeit vor Ort. Tolerante Praxis – z.B. gegenüber Menschen, die illegale Drogen konsumieren – könnte selbst kriminalisiert werden. Als Sekundäreffekt ist sowohl vermehrte Selbststigmatisiereung der von Ausschluss betroffenen wie auch rascherer Ausschluss von Abweichlern zum vorgeblichen Schutze der "gesunden" Gemeinschaft zu befürchten. Um beim Drogenbeispiel zu bleiben: Jene Schuldirektoren, die auf den Verdacht des Cannabiskonsums von Schülern unkittelbar mit deren Suspendierung vom Unterricht und der Anzeige reagieren, erhalten wieder Legitimation. Das rasche Zerschlagen von Verbindungen zu stützenden Netzen, der Möglichkeiten zur Teilhabe an einem gesellschaftlichen "Normal-"Prozess erschwert integrierende Sozialarbeit fundamental. Sie wird alle Hände voll zu tun haben, das zerschlagene Porzellan wieder zusammenzuflicken.

Gleichzeitig rückt die Chance, einer Reform der Struktur sozialer Organisationen in Richtung Dezentralisierung, Lebensweltorientierung, Niedrigschwelligkeit und Entspezialisierung näher zu kommen. in weite Ferne. Ehrlicherweise muss aber angemerkt werden, dass einige Umbauten unter sozialdemokratischer Hoheit hier bereits in den letzten Jahren seltsame Zielvorstellungen verwirklichten.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Lebensweltorientierung als Konzept der Organisation sozialer Dienste, aber auch der Arbeit mit den KlientInnen selbst , vielleicht nicht gerade eine Antwort auf die Prozesse gesellschaftlichen Wandels, jedenfalls aber eine interessante Antwort auf die strukturellen Mängel des Systems sozialer Dienste darstellt. Eingebunden in eine dringend zu führende Diskusson über Zielvorstellungen der Sozialpolitik unter den Bedingungen der "zweiten Moderne" kann sie ihren Beitrag leisten zu einer neuen Sicht des Zusammenhalts der diversifizierten Gesellschaft.

 

 

 

Literatur:

Baecker, Dirk (1994): Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft. In: Zeitschrift für Soziologie Heft 2. Stuttgart. S. 93-110.

Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (1990): Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt/M..

Beck, Ulrich/Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.) (1994): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt am Main.

Freigang, Werner (1999): Entinstitutionalisierung in der Jugendhilfe und ihre Folgen für die Professionalität in der Sozialarbeit. In: unveröffentlichtes Manuskript. St.Pölten.

Habermas, Jürgen (1995): Theorie des kommunikativen Handelns . Frankfurt/Main.

Husserl, Edmund (1977): Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Den Haag.

Kleve, Heiko (1999): Soziale Arbeit als stellvertretende Inklusion. Eine ethische Reflexion aus postmodern-systemischer Perspektive. In: Pantucek, Peter / Vyslouzil, Monika (Hg.): Die moralische Profession. Menschenrechte und Ethik in der Sozialarbeit. St.Pölten.

Pantucek, Peter (1998): Lebensweltorientierte Individualhilfe. Eine Einführung für Soziale Berufe. Freiburg im Breisgau.

Pantucek, Peter / Vyslouzil, Monika (Hg.) (1998): Theorie und Praxis Lebenswelt-orientierter Sozialarbeit. St.Pölten.

Pantucek, Peter / Vyslouzil, Monika (Hg.) (1999): Die moralische Profession. Menschenrechte und Ethik in der Sozialarbeit. St.Pölten.

Rauschenbach, Thomas/Gängler, Hans (Hg.) (1992): Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft. Neuwied.

Rauschenbach, Thomas (1994): Inszenierte Solidarität: Soziale Arbeit in der Risikogesellschaft. In: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt am Main. S. 89 - 111.

Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas (1984): Strukturen der Lebenswelt - Band 1 und 2. Frankfurt am Main.

Thiersch, Hans (1992): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel. Weinheim und München.

Thiersch, Hans (1993): Ganzheitlichkeit und Lebensweltbezug als Handlungsmaximen der sozialen Arbeit. In: Greese, Dieter et al.(Hg.): Allgemeiner Sozialdienst - Jenseits von Allmacht und Ohnmacht. Münster. S. 140 - 154.

Thiersch, Hans (1995): Wohlfahrtsstaat im Umbruch – Perspektiven der Sozialen Arbeit. In: neue praxis 3. S. 311 - 321.

Thiersch, Hans (1997): Gerechtigkeit und Effektivität. Die Soziale Arbeit in den Zeiten der Globalisierung – Eine Skizze zur Selbstvergewisserung der Profession. In: Blätter der Wohlfahrtspflege – Online.

Wolf, Klaus (2000): Heimerziehung aus Kindersicht als Evaluationsstrategie. Unveröffentlichtes Manuskript. Neubrandenburg.