Scheinprivatisierung oder Entstaatlichung als Chance?
Beitrag erschienen in "Erziehung heute", Nr. 1/99.
1. Rahmenbedingungen: Probleme des Sozialen
Seit zehn Jahren veranstalten wir in St.Pölten Lehrgänge für Sozialmanagement. Ende der 80er-Jahre waren wir, soweit ich das überblicke, hierzulande die ersten am Markt. In diesem Jahrzehnt hat sich manches geändert, aber eines blieb gleich: Es war und ist die Rede von Sozialabbau. Schon seit den frühen 80er-Jahren geistert der Terminus durch den Diskurs, von vielen wird er als unbestreitbarer Fakt betrachtet. Dem widersprechen einige Daten: Die Sozialausgaben sind in Österreich kontinuierlich gestiegen, das Sozialwesen erweist sich auch in der Anzahl der Beschäftigten als dynamische Branche. Auch nach Berücksichtigung der schwierigen Datenlage - teilweise sind der Sozial- und der Gesundheitsbereich in den Statistiken unter einer einzigen Kategorie erfasst - fällt es doch schwer, von Sozialabbau als genereller Tendenz zu sprechen. Bei allen problematischen Entwicklungen und dem Zurückbleiben hinter den Erfordernissen wie zum Beispiel im Jugendwohlfahrtsbereich hat sich doch das Angebot in den vergangenen zwei Jahrzehnten weiter ausdifferenziert, zahlreiche Innovationen sind zu selbstverständlichen Angeboten geworden (Sachwalterschaft, Außergerichtlicher Tatausgleich, Schuldnerberatung, Streetwork, Einrichtungen der Obdachlosenhilfe usw.).
Trotzdem entsteht der Eindruck eines Zurückbleibens der sozialen Angebote hinter den Erfordernissen, und er entsteht wohl nicht zu unrecht. Die langsam auseinandergehende Schere zwischen reich und arm, die Diversifizierung von Lebenslagen, all das, was Autoren wie Ulrich Beck die "zweite" oder "reflexive Modernisierung" nennen, haben die Gesellschaft uneinheitlicher und für die Einzelnen schwerer durchschaubar gemacht. Die Verunsicherung reicht bis weit in Alltagsbereiche hinein. War noch in den 70er-Jahren die Illusion gängig, man müsse nur mehr die letzten Lücken eines wohlgeordneten Netzes sozialer Sicherheit schließen, wurde dieser Glaube nun hinweggefegt. Die Lücken werden größer, trotz steigender Aufwendungen scheinen die Chancen des sozialen Abstiegs groß wie schon lange nicht.
Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit sind von der Differenzierung der Biografien und Lebenswelten, von Individualisierung und einem weitgehenden Verlust an Sicherheiten gekennzeichnet. Das betrifft einerseits das Klientel und das, was mitunter als "Soziale Probleme" bezeichnet wird. Die Problemstellungen werden vielfältiger, und immer häufiger rechnen sich Individuen die Schuld an ihrem sozialen Abstieg selbst zu oder wird sie ihnen von anderen zugerechnet. Man hat eben biografierelevante Entscheidungen getroffen, die sich in ihren Konsequenzen als falsch herausgestellt haben: den falschen Partner gewählt, die falsche Berufsentscheidung getroffen, ist zu lange dem todgeweihten Betrieb treugeblieben, hat sich falsch ernährt und so weiter und so fort. Andererseits differenzieren sich auch die Angebote der Sozialen Arbeit aus, und laufen doch den vielen neuen Problemdefinitionen mit ihrer Spezialisierung hinterher, ohne sie je alle abdecken zu können.
Das Sozialwesen ist angesichts dieser Herausforderung gespalten. Einerseits setzen die traditionellen sozialstaatlichen Lösungsmodelle auf Vorstellungen von einer längst nicht mehr selbstverständlichen "Normalbiografie" auf. Der bei weitem größte Teil der Sozialausgaben fließt in Leistungen, die sich an der Arbeitsbiografie orientieren. Ein weiterer großer Brocken wird von traditionellen stationären Einrichtungen, hier vor allem der Altersfürsorge, beansprucht. Demgegenüber scheinen die Mittel für Angebote, die den neuen Problemlagen adäquat und flexibel begegnen, noch marginal. Aus der Sicht der Sozialarbeit ist nicht nur die Arbeitszentriertheit des Sozialversicherungssystems, sondern auch die relative Unbeweglichkeit eines politisch-bürokratischen Apparates der Sozialverwaltung immer wieder ein Ärgernis. Die Antworten auf neue Herausforderungen kommen häufig (zu) spät, und wichtige Nachbarsysteme wie das Gesundheitswesen oder das Schulwesen schotten sich weitgehend ab, scheinen gegen die immer notwendiger werdende interprofessionelle und systemübergreifende Kooperation immun.
2. Reform und "Privatisierung"
Im beschriebenen Umfeld machte das Schlagwort von der Privatisierung Karriere - und zwar sowohl als positive Utopie von einem Staat, der sich nicht mehr in alle Lebensbereiche seiner BürgerInnen einmischt, als auch als Schreckgespenst von einer Gesellschaft, in der alles, auch das Soziale, dem Profitdiktat unterworfen sei. Es ist der unbestreitbare Reformbedarf, der diese Karriere überhaupt erst ermöglichte. Ideologische Positionen lassen sich in einem Streit um die Privatisierung leicht aufbauen, die Emotionen zwischen (vermeintlich) links und (vermeintlich) rechts können hochgehen. Dabei sind jene Maßnahmen, die unter diesen Begriff subsummiert werden, durchaus vielfältig und in ihren Auswirkungen keineswegs so eindeutig, wie es dem so oder so voreingenommenen Blick erscheinen mag. So sind, denke ich, die "Gänsefüßchen" im Titel dieses Abschnitts nicht nur berechtigt, sondern auch notwendig.
Programmatisch hat sich schon Rolf Schwendter (1991), wohl keineswegs neoliberaler Profitverherrlichung verdächtig, für das Entstehen einer bunten Vielfalt der sozialen Landschaft ausgesprochen. Er schließt für den Bereich jugendspezifischer Angebote von der beobachtbaren gesellschaftlichen, sozialen und (sub-)kulturellen Vielfalt auf die Notwendigkeit einer demokratisch-pluralistischen Vielfältigkeit der Projekte, Wohnformen, Beratungs- und Betreuungsformen. Er schließt damit an den Reformeifer einer Projektkultur der 80er-Jahre an. Die sozialen Innovationen entstanden tatsächlich zu einem beachtlichen Teil nicht aus dem Zentrum der staatlichen Wohlfahrtsbürokratie, sondern durch engagierte Initiativen von Sozialberuflern, die Bedarf aufspürten und aufspüren, Konzepte entwickeln, sich um Finanzierung bemühen, in einer Startphase viel an Kraft und Risiko investierten und investieren. Die Projektszene (gibt´s sowas überhaupt noch?) verkörpert eigentlich sowohl die Ideale eines selbstbewusst-liberalen Entrepreneurship, als auch das demokratisch-pluralistische Ideal von BürgerInnen, die sich aktiv für das Wohl der Gesellschaft engagieren.
Die Sozialprojekte ließen tatsächlich so etwas wie einen Markt entstehen, allerdings einen Markt unter den (bekannten) problematischen Bedingungen: Sie versuchten die Bedürfnisse der KonsumentInnen zu erfassen und auf sie mit Angeboten zu reagieren. Aber leider, wer Sozialarbeit braucht, kann sie meist nicht selbst bezahlen. Als Zahler tritt ein Quasi-Monopolist, nämlich der Staat auf, und dort fällen Politiker politische und Beamte bürokratische Entscheidungen. Bottom-up-Innovationen tangieren Machtfragen, über ihr Schicksal entscheidet also nicht nur ihre Qualität oder die Nachfrage, sondern auch ein machtpolitisches Kalkül.
Der Reform von unten begegnet deshalb eine Reform von oben, die sich des Schlagworts der Privatisierung oder neuerdings vornehmerer anderer Termini wie z.B. des "New Public Managements" bedient. Diese Reformbestrebungen bedienen sich anderer Mechanismen, die Innovation von unten wird durch sie nicht gerade gefördert. Die Maßnahmen reichen von der Ausgliederung Sozialer Dienstleistungsbereiche aus der Hoheitsverwaltung (wie beim Arbeitsmarktservice geschehen) bis zur Beauftragung bevorzugt großer sogenannter Freier Träger mit der Wahrnehmung von Versorgungsaufgaben.
Der vorgebliche Vorteil der "Entstaatlichung" und damit einer Reduzierung der Bevormundung des Bürgers bzw. der Bürgerin durch diese Entwicklung muss zumindest bezweifelt werden. Die ausgegliederten Bereiche entgehen dem partei- und verbändepolitischen Einfluss nicht, viele der freien Träger sind den politischen Machtzentren eng verbunden. Klientilismus und sachfremde Einflussnahme können sich weiterhin ausbreiten, eine demokratische Kontrolle wird mitunter sogar schwieriger. Gegen die großen, politisch gut abgesicherten Anbieter stehen innovative Newcomer meist auf verlorenem Posten. Es könnte der Eindruck entstehen, dass die sogenannte Privatisierung zuweilen eine Schutzmaßnahme gegen zuviel demokratische Kontrolle, gegen die drohende Mitsprache aufmüpfiger Wählerinnen und Wähler ist. Die Gemeinde Wien, die sich in einigen Bereichen des Sozialen ein nahezu absolutes Monopol gesichert hat bzw. ihr zweifelsohne beachtliches Angebot an offener Jugendarbeit in einem einzigen gemeindenahen Verein bündelt, ist ein solches Beispiel für den aufgeklärten Absolutismus diesfalls sozialdemokratischer Provenienz.
3. Kundeninteressen
Nun könnte es den Nutzerinnen und Nutzern Sozialer Dienstleistungen ziemlich gleichgültig sein, wer für die Organisation des Angebots zuständig ist, wenn es nur funktioniert. Was "funktionieren" unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen allerdings heißt, muss auch zumindest andeutungsweise ausbuchstabiert werden:
Da ist zuallererst die Wahrung von Rechten zu nennen, die zu Recht von KritikerInnen der Privatisierung eingemahnt wird. Der Verpflichtung des Staates zur Fürsorge für die schwachen Mitglieder der Gesellschaft steht der Anspruch der einzelnen, in Not geratenen Bürgerinnen und Bürger gegenüber, ein gewisses Mindestniveau an Unterstützung zu erhalten. Dieses Niveau sollte unabhängig von Zufälligkeiten wie dem Wohnort sein. Es ist ohnehin in manchen Bereichen um die rechtsstaatliche Praxis schlecht bestellt. Die Chancen, ohne Existenzgefährdung einen Sozialhilfebescheid anzufechten sind z.B. praktisch eher gering. Es bleibt fraglich, ob dort, wo Ermessen und die Einschätzung einer oft komplexen individuellen oder familiären Situation für die Entscheidungen über Gewährung oder Nichtgewährung von Leistungen nötig sind, Bürokratien tatsächlich die besten Garanten für Rechtssicherheit sind. Nichtsdestotrotz: Es bleibt Aufgabe des Staates, für die Rechtssicherheit zu sorgen, und das auch (aber nicht nur) im eigenen Bereich.
Weniger beliebt bei jenen, die in klaren Zuständigkeiten denken, ist die Idee der Wahlfreiheit für die Konsumentinnen und Konsumenten Sozialer Dienstleistungen. Bei aller Skepsis gegenüber dem Versuch, das sensible Verhältnis von SozialarbeiterIn und KlientIn unter dem der Betriebswirtschaft entlehnten Begriff der Kundenorientierung zu fassen (vgl. Effinger 1998), ist doch nicht einzusehen, warum die Rechte der NutzerInnen von Hilfsangeboten schlechter als die von KäuferInnen sein sollten. So weit nur irgend möglich sollten Menschen sich informiert für jene Angebote entscheiden können, die ihnen als geeignet erscheinen. Das schließt in gewissen Grenzen sicher auch die Möglichkeit eines Wechsels mit ein. Gerade der oben angesprochene Verlust an Einheitlichkeit von Lebensstilen und Lebensplänen trägt dazu bei, dass Menschen in Notlagen unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, wo sie hinwollen, dass sie wegen biografisch "falscher" Wahlen nicht gleich jeder Möglichkeit der Selbstbestimmung verlustig gehen wollen. Das genannte KlientInnenrecht verweist eindrücklich auf die Notwendigkeit einer Angebotsvielfalt, die der gesellschaftlichen und sozialen Vielfalt entspricht.
Viele unterstützungsbedürftige Menschen müssen immer noch die Erfahrung bewusster oder unbeabsichtigter entwürdigender Behandlung machen. Gerade die institutionellen Inszenierungen der Behörden widersprechen allzuhäufig den Mindeststandards von höflicher Behandlung und Respekt. Sie behindern dadurch die Entwicklung der Selbsthilfekapazitäten der KlientInnen, schließen aus statt ein, sind also kontraproduktiv. Der kürzlich von Regierungsseite laut gewordene Vorschlag, für Betriebsansiedlungen eine einzige Anlaufstelle zu schaffen, die in angemessener und jedenfalls kürzerer Frist dann die behördeninternen Kontakte erledigen soll, scheint mir ein sehr interessantes Modell zu sein. Es wäre zu wünschen, dass BeantragerInnen von Sozialleistungen nicht mehr Briefträgerdienste zwischen Behörden leisten müssen, dass die Last der Zuständigkeitsstreitereien von den Bürgerinnen und Bürgern genommen und unter Zeitdruck an die Behörden zurückgegeben wird. Zahlreiche Vorsprachen, die mitunter wie schlecht kaschierte Unterwerfungsrituale wirken, könnten entfallen. Dies als einer von vielen möglichen Hinweisen, wie Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse nach respektvoller und nicht-entwürdigender Behandlung organisiert werden könnte.
Berechtigtes Interesse der Kundinnen und Kunden besteht an einer gesicherten Qualität der Angebote. Diverse Qualitätssicherungs- und Qualitätsmanagementsysteme spielen in den letzten Jahren eine zunehmende Rolle in Sozialen Einrichtungen. Selten werden dabei jedoch die speziellen Schwierigkeiten bei der Feststellung und Gewährleistung von Qualität in diesem Bereich berücksichtigt. Einige Parameter können sicher in Standards festgeschrieben werden, hinter die nicht zurückgegangen werden darf. Das Scheitern einer solchen Normierung für die Alten- und Pflegeheime ist noch in Erinnerung. Bedenkt man die triste Situation der Sozialarbeitsforschung in Österreich und die Seltenheit von ambitionierten Evaluationsprojekten, so dürfte auch in näherer Zukunft eine nicht nur an den Bedürfnissen der Zahler, sondern auch an denen der KundInnen orientierte Qualitätsentwicklung die Ausnahme bleiben.
Zuletzt darf bei dieser kleinen und unvollständigen Aufzählung von KundInneninteressen die Erreichbarkeit von benötigter Hilfe nicht fehlen: Erreichbarkeit im Sinne von Niedrigschwelligkeit und Lebensweltnähe, aber auch im Sinne von Schnelligkeit und Rechtzeitigkeit. Telefonische Beratungsdienste, wie sie vielfach in den letzten Jahren entstanden, sind zwar nützlich, sie können aber nicht rasche und flexible Dienste vor Ort ersetzen, die im Krisenfall prompt professionelle Unterstützung anbieten und so Eskalationsprozesse eindämmen. Diese Aufgabe kann nicht guten Gewissens an die damit überforderte Polizei delegiert werden, wie dies zum Beispiel bei den Maßnahmen gegen Gewalt in der Familie weitgehend geschehen ist.
4. Demokratieentwicklung
Die oben angedeuteten Interessen der KonsumentInnen sozialer Dienstleistungen, also jener Menschen, die auf gesellschaftliche Unterstützung angewiesen sind, korrespondieren m.E. weitgehend mit den Erfordernissen einer weiteren Entwicklung demokratischer Verhältnisse in diesem Land. Den Herausforderungen einer modernen pluralen Gesellschaft kann auf Dauer nicht mehr mit möglicherweise gut gemeinten, aber doch patriarchalen Formen staatlicher "Fürsorge" begegnet werden, die die Freiwillige Feuerwehr für das Spitzenprodukt der Civil Society hält. Der Zusammenhalt einer differenzierten Gesellschaft wird nicht über einen zwangsverordneten Mainstream zu haben sein, sondern nur über die Akzeptanz der Differenz. Die kulturellen und subkulturellen Minderheiten werden in den gesellschaftlichen Dialog einbezogen werden müssen, werden ihren Teil an Verantwortung übernehmen wollen und dafür auch ihren Anteil an den gesellschaftlichen Mitteln einfordern. Sozial Schwache, die heute nicht (mehr) von den Gewerkschaften vertreten werden, sollten ihren Platz in einer Civil Society erhalten.
Letztlich liegt es im Interesse eines Erhalts des demokratischen Systems, die Selbstartikulation und Selbstorganisation der BürgerInnen zu fördern. Der Dialog und die Entscheidungsfindung wird dadurch möglicherweise vorerst schwieriger, aber mittelfristig rechnet sich eine solche Strategie durch die erhöhte Legitimität des Staates. Die von den Ideologen des Thatcherismus bloß propagierte Selbstverantwortung der BürgerInnen könnte so Substanz gewinnen, weil und wenn sie sich auch politisch artikuliert. "Linken" KritikerInnen von Privatisierung und Entstaatlichung sei entgegengehalten, dass sich in einer pluralistischen Gesellschaft Vielfalt und Interessendurchsetzung nicht nur über politische Organisation herstellt, sondern wesentlich auch über ein "Entrepreneurship", wie ich es oben am Beispiel der Projektszene skizziert habe.
In diesem Sinne lässt sich die sogenannte Privatisierung oder Entstaatlichung als ein Gebinde verstehen, dessen Inhalt keineswegs klar ist. In dieser Begriffshülse finden sich Maßnahmen zur Machterhaltung (noch) einflussreicher politischer Parteien möglicherweise ebenso wie ein qualitäts- und vielfaltförderndes Abgehen von Vorstellungen einer alles über einen Leisten scherenden Einheitsfürsorge. Letzteres allerdings noch zu selten.
5. Mitmachen im Macht- und Marktspiel
Um die Zukunft des österreichischen Sozialsystems mitentscheiden zu können, sollten sich noch Akteure formieren, die ernstzunehmende Gegenspieler für den Staat und die traditionellen sogenannten Freien Träger sind. Ich denke dabei vor allem an zwei Organisationen, für die sowohl aus der Sicht der KundInneninteressen als auch aus demokratiepolitischen Erwägungen dringender Bedarf besteht: Eine KonsumentInnenschutzorganisation und ein Zusammenschluss der freien Projekte, der neben Caritas, Volkshilfe usw. als potente Trägerorganisation in größerem Maßstab agieren könnte.
Zum Ersten, das verhältnismäßig leicht zu machen sein sollte. Sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeiterkammern (und wahrscheinlich noch einige andere Akteure) sollten daran interessiert sein, dass nicht nur beim Kauf eines Kühlschranks, sondern auch bei der Inanspruchnahme biografiewichtiger Hilfsangebote die Rechte der Menschen gewahrt bleiben, dass sie informiert wirksame Unterstützung in Anspruch nehmen können. Untersuchungen über die KundInnenfreundlichkeit sozialer Einrichtungen, die Definition von Mindeststandards, Rechtsvertretung für KlientInnen von Sozialeinrichtungen bei der Verletzung ihrer Rechte, das wären lohnende Aufgaben. Der wahrscheinlich wichtigste Effekt wäre eine Veränderung des Diskurses über Sozialleistungen hin zu nutzerorientierter Qualität.
Zum Zweiten und wahrscheinlich schwierigeren Projekt. Über relativ unverbindliche inhaltlich kleinräumige Vernetzungen hinaus gelang es den engagierten fachlich innovativen und zumeist mit einem unabhängigen politischen Selbstverständnis ausgestatteten Sozialinitiativen in Österreich nicht, sich als Mitspieler am entstehenden Markt zu organisieren. Sie sind in den 90er-Jahren, als tatsächlich in größerem Maßstab Aufträge ausgelagert wurden, gegeneinander ausgespielt worden und es blieben ihnen nur die Brosamen. Das wird so bleiben, wenn sie sich nicht unter der Wahrung einiger zentraler Leitideen (Lebensweltnähe, demokratische Vielfalt, Professionalität, Regionalbezug ...) zu einem Verband formieren, der konkurrenzfähige Größe erreicht. Das mag auf den ersten Blick romantischen Vorstellungen von autonomem Kleinwuchs widersprechen, wird aber zunehmend zur Überlebensfrage werden. So klein ist der gesellschaftliche Sektor nicht mehr, den sie so repräsentieren könnten.
Als Resümee bleibt also m.E., dass es ohne selbstbewusstes Mitspielen nur die zweifelhafte Wahl zwischen patriarchaler Pseudoprivatisierung oder kostenminimierenden Entprofessionalisierungsprogrammen gibt, einer Tailorisierung des Sozialwesens, wie sie im Pflegebereich schon droht. Noch besteht Hoffnung auf ein Bündnis für Nutzer- und demokratiefreundliche Reformen.
Peter Pantucek, Diplomsozialarbeiter und Supervisor, ist Professor an der Bundesakademie für Sozialarbeit St.Pölten. E-Mail: ppan@vienna.at
Literatur:
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Marquard, Peter (1998): Die Verwaltungsmodernisierung als Demokratisierung. In: Blätter der Wohlfahrtspflege Nr. 11+12.
Mesch, Michael (1998)(Hg.): Neue Arbeitsplätze in Österreich - Die Beschäftigungsentwicklung im Österreichischen Dienstleistungssektor. Wien.
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Pratscher, Kurt (1996): Sozialhilfe in Österreich. Überlegungen zur subsidiären Sozialstaatlichkeit. In: Kurswechsel Nr.3.
Prisching, Manfred (1996): Die unsolidarische solidarische Gesellschaft. In: Kurswechsel Nr.3.
Schönherr-Mann, Hans-Martin (1996): Postmoderne Theorien des Politischen. Pragmatismus, Kommunitarismus, Pluralismus. München.
Schwendter, Rolf (1991): Soziale Entwicklungstendenzen in einer neuen Zeit. In: Amt für Jugend und Familie der Stadt Wien (Hg.): Aktuelle Probleme der Heimerziehung 1971-1981-1991. Wien.