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Qualität durch Konkurrenz?

Von Eltern, Kindern und den Maßnahmen der Jugendwohlfahrt
Referat auf der Fachtagung zu 5 Jahren sozialtherapeutischer Wohngemeinschaft Roseldorf, 3. September 2004 in Eggenburg.
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Peter Pantucek (FH St.Pölten), im September 2004



Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen.

Herzlichen Dank für die Einladung, auf dieser Fachtagung zu referieren. Das freut mich besonders, weil ich die sozialtherapeutische Wohngemeinschaft Roseldorf in den letzten Jahren kennenlernen durfte und ihre Arbeit ganz besonders schätze.

Mein Auftrag ist, über ein Dreieck zu sprechen: Über das Dreieck Eltern – Jugendamt – sozialpädagogische Einrichtung.

Ich werde diesem Auftrag nachkommen, aber nur imersten Teil meines Referats. Ich werde rasch das Dreieck zu einem 5-Eck ausweiten und damit dem Vorschlag eines deutschen Kollegen nachkommen.

Dann werde ich alles noch komplizierter machen, und mir mit Ihnen die Landschaft ansehen, in der dieses 5-Eck liegt.

Und weil sich manches klären kann, wenn man eine dritte Dimension einführt, werde ich schließlich die Zeitdimension in das Bild einfügen.

Das mag allzu abstrakt klingen, aber keine Sorge, so abstrakt wird´s nicht werden. Abschließen werde ich mit Anregungen für ein neues Verständnis von Fremdunterbringung, von der Rolle der professionellen Akteure in den Biografien von armen Kindern.



Aber beginnen wir mit dem Dreieck. Sie kennen die Konkurrenzverhältnisse, die hier herrschen. Die Erzählungen über die Unfähigkeit der Eltern rechtfertigen die Eingriffe des Jugendamtes, das Erzieherteam beschwert sich über die schlechte Vorbereitung durch das Jugendamt und über die unverständlichen Rückführungswünsche, die Eltern … ja was eigentlich? Die Eltern wollen das Kind zurück und auch nicht, kooperieren mit den Erzieherinnen und Erziehern und auch wieder nicht, möglicherweise stören sie nur. Lassen wir die Eltern vorerst einmal beiseite, sie sind das ohnehin gewöhnt. Sie sind an allem schuld, und sie haben selten einen Plan, der den anderen beteiligten gefällt.

Damit habe ich die Konkurrenz angesprochen, die zwischen den Profis und den Herkunftsfamilien besteht. Am naivsten findet diese Konkurrenz ihren Ausdruck bei manchen Pflegefamilien. Sie wollen die besseren Eltern sein. Hätte das Kind nur früh genug die „richtigen“ Eltern gehabt, dann wäre alles anders. Und jetzt, jetzt stören die Eltern nur, wo man sich doch so toll um das Kind kümmert.

Retten wir uns zum Fünfeck.




Der guten Ordnung halber haben wir nun das Kind in diese Grafik aufgenommen. Jetzt, wo es da ist, fragen wir uns wohl, wie wir es je vergessen konnten. Schließlich geht es ja umdas Kind, den Jugendlichen. So sagen es zumindest alle anderen Beteiligten. Da ist es also, als Beteiligter am Prozess, und es ist involviert wie niemand sonst, nämlich mit seinem ganzen Leben. Genauer gesagt, mit fast all seinen Lebensvollzügen. Jetzt, in dieser seiner Entwicklungsphase. Eigentlich sollten wir das Kind ganz groß einzeichnen. Nicht, weil es so mächtig wäre, sondern weil es am meisten zu gewinnen und zu verlieren hat.

Die Eltern müssten dann ebenfalls sehr groß eingezeichnet werden. Auch ihre Lebenspläne, ihr Lebensvollzug sind massiv betroffen. Ihre Würde, ihre Selbstachtung, Erfolg oder Misserfolg ihres Erwachsenseins.



Und wir haben eine neue Unterscheidung eingeführt: die zwischen dem Träger der sozialpädagogischen Einrichtung und den ErzieherInnen. Eine wichtige Unterscheidung wie mir scheint, die auch einen großen praktischen Unterschied macht. „Die Institution“, das repräsentiert das Geschäftliche, die offizielle und abrechenbare Seite. Die ErzieherInnen, da finden wir eine größere Nähe zu den Kindern, hier finden wir Beziehungen der Unmittelbarkeit und der direkten Involviertheit. Körperlich, emotional. In dieser Beziehung, obwohl es eine professionelle ist, menschelt es gewaltig. Dieses Menscheln braucht es, damit sie funktionieren kann.

Wir sehen in dieser Grafik auch, wer wem nahe ist, zum Beispiel die ErzieherInnen dem Kind. Man könnte sagen, sie konkurrieren mit den Eltern um das Kind. Tatsächlich finden wir das in der Literatur manchmal so beschrieben. Die Eltern, das sind in den Augen der ErzieherInnen jene, die versagt haben, deren Fehler man wieder gut machen will. Manchmal kommt da sogar das Gefühl auf, es wäre das allerbeste, wenn sich die Eltern so wenig wie möglich einmischen würden, wenn sie sich verabschieden würden.

Wir sehen, wenn wir nur wollen, in dieser Grafik auch sehr verschiedenartige Beziehungen. Hier gibt es nur eine unkündbare, unauflösliche Beziehung. Es ist die zwischen Eltern und Kindern. Alle anderen Beziehungen sind kündbar, sind Beziehungen auf Abruf. Jene beiden Akteure sind einander existenziell und unkündbar verbunden, die nicht bloß ein bisschen, sondern existenziell in diesen Prozess involviert sind. Für die Gelingen oder Misslingen – pathetisch gesprochen – eine Schicksalsfrage ist. Für alle anderen Akteure ist es Beruf, was hier gespielt wird. Ihr Einsatz ist ein sehr begrenzter. Für Kinder und Eltern ist der Einsatz ein existenzieller. Sie stehen als ganze Personen, mit ihrem Alltag und ihrem Leben im Prozess. In einem Prozess, den die Jugendwohlfahrt in den letzten Jahren zunehmend als einen Prozess der Leistungserbringung durch die öffentliche Jugendwohlfahrt beschreibt. Sie erkennen wahrscheinlich, dass ich dieser Beschreibung sehr skeptisch gegenüberstehe.

Lassen wir das vorerst so stehen, behalten wir es in Erinnerung. Erhöhen wir zuerst noch einmal die Komplexität der Betrachtung. Wenn ich gesagt habe, dass die Eltern in ihrer gesellschaftlichen Existenz und die Kinder in der Gesamtheit ihrer Lebensvollzüge vom Prozess jugendwohlfahrtlichen Eingreifens betroffen sind, so müssen wir auch feststellen, dass eine Fülle anderer Akteure für sie ebenfalls wichtig ist, ihnen Chancen zuteilt und nimmt, sich mit ihnen auseinandersetzt und Auseinandersetzung fordert.

Um das darzustellen, müssen wir aus dem 5-Eck ein Netz machen:



Das Netz hier im rechten Teil der Grafik konnte ich nur ungefähr skizzieren – es entfaltet sich in jedem Fall anders, aber es entfaltet sich. Es umfasst all jene Personen, die in der einen oder anderen Weise noch wesentlich in das Leben der Kinder und der Eltern existenziell eingreifen, eingreifen können, eingegriffen haben oder in Zukunft wieder eingreifen werden. Neben so wichtigen Institutionen wie der Schule oder dem Gesundheitssystem sind das vor allem Verwandte und Bekannte. Großeltern, Stiefeltern, Onkel, Tanten, Geschwister, enge Freunde der Eltern und so weiter. Diese Personen sind aus mindestens 2 Gründen wichtig:
1) sind es jene Personen, denen gegenüber die Eltern ihre Handlungen begründen müssen. Sie sind die Referenzpersonen, denen die Eltern plausibel erklären müssen, weshalb das Kind derzeit nicht bei ihnen ist, was sich im Vorfeld einer Fremdunterbringung abgespielt hat und was sie dazu unternehmen, damit das Kind wieder nach Hause kommt.
2) Es sind jene Personen, die zu den Eltern und manche auch zum Kind eine Beziehung haben, die nicht einfach auflösbar ist und in der sie auch Verpflichtungen haben.

Aus beiden Gründen kann man sie als wichtige Ressource betrachten. Sie können etwas dazu beitragen, dass das Leben des Kindes besser wird. Sie können, wenn es schlecht läuft oder wenn wir schlecht arbeiten, allerdings auch dazu beitragen, dass das soziale Umfeld die Entwicklung des Kindes behindert.

Die Personen, die dieses Netz bilden, sind seltsamerweise kaum jemals genauer im Blick der Jugendwohlfahrt. Die Rechtsbeziehung besteht zwischen dem Jugendamt und den Eltern, die praktische Beziehung des Jugendamtes fast ausschließlich zur Mutter, schon wesentlich seltener zu den involvierten Männern. Auch das ist eine sehr unglückselige Situation. Sie wird nicht nur in Österreich beobachtet, sondern zum Beispiel auch in Großbritannien. Eine dort durchgeführte Studie belegt: Die Männer entziehen sich der Verantwortung und werden vom Jugendamt dabei offensiv unterstützt. Wie das funktioniert? Wenn der Installateur ins Haus kommt, nimmt er nur den Mann ernst. So habe ich mir dieser Tage von einer diesbezüglich leidgeprüften Frau erzählen lassen. Man könnte sagen, wenn das Jugendamt ins Haus kommt, nimmt es nur die Frau ernst. Mit den Männern wird kaum gesprochen. Das eine wie das andere ist unangemessen. Die Frau, die mir die Geschichten vom Installateur erzählt hat, hat gemeint, es ist eine Sauerei.

Aber das war nur ein Abschweifen. Mir geht es um das ganze Netz. Ich will Ihnen dazu eine Geschichte erzählen:

In Neuseeland kam die Jugendwohlfahrt unter beträchtlichen öffentlichen Druck, ihr wurde eine rassistische Vorgangsweise vorgeworfen. Was war passiert? Die Statistiken machten deutlich, dass im Verhältnis viel mehr Kinder aus der indigenen Bevölkerung in Einrichtungen der Fremdunterbringung landeten, als Kinder aus der weißen Mehrheitsbevölkerung. Ein glückliches Land, in dem das einen öffentlichen Skandal auslöst. Die Jugendwohlfahrtsbehörden waren gezwungen, zu reagieren. Und sie reagierten. Sie erfanden eine neue Inszenierung, und sie bedienten sich dabei traditioneller Formen der indigenen Neuseeländer Bevölkerung – der Maori. Wenn das Jugendamt zur Ansicht kam, dass es einem Kind schlecht gehe, machten Sie den Eltern den Vorschlag, eine Familienkonferenz einzuberufen. An dieser Familienkonferenz sollte der ganze Familienclan teilnehmen. Das Jugendamt lädt dazu ein, stellt Räume, Essen und jede Menge Zeit zur Verfügung. Alle Zeit, die nötig ist. Zur Eröffnung der Konferenz erklären Jugendamt und Gericht, weshalb sie über die Entwicklung der Lebenssituation des Kindes sehr besorgt sind, sodass sie daran denken, das Kind aus der Familie rauszunehmen. Weiters erklären sie, dass sie bereit sind, davon abzusehen, wenn ihnen die Familie einen praktikablen Gegenvorschlag unterbreitet, bei dem das Wohlergehen des Kindes gesichert ist. Dann ziehen sich die Offiziellen zurück und die erweiterte Familie kann beraten. Braucht sie Rechtsauskünfte oder andere Hilfe, wird ihr das sofort gewährt. Irgendwann gibt es dann einen Vorschlag der Familie, über den wird verhandelt: Ist er plausibel? Kann man sich vorstellen, dass das funktioniert? Wie können wir sicher sein, dass es funktioniert? Am Ende steht ein echter Vertrag. Und jede Menge Leute aus dem sozialen Umfeld der Familie erbringen Leistungen, damit es klappt.

Die Sache funktionierte und funktioniert blendend. Und jetzt kommt der Clou: Das funktioniert nicht nur bei den Maori. Weil es dort so erfolgreich war und die Zahl der Fremdunterbringungen massiv reduziert hat, hat man es auch bei anderen Familien ausprobiert. Und – siehe da – auch dort gelang eine deutlich Verbesserung. In erster Linie geht es gar nicht nur darum, weniger Kinder fremdunterzubringen; sondern darum, das soziale Umfeld respektvoll einzubeziehen und seine Ressourcen zu aktivieren. Sogar, wenn eine Fremdunterbringung nötig ist, die ganze Meschpoche ist aktiviert, kümmert sich um die Sache. Wunderbar. Naja, für die involvierten Amtspersonen manchmal wahrscheinlich auch ein bisserl anstrengend. Aber das nimmt man gerne in Kauf, wenn´s den Kindern nützt – oder?

Das Verfahren wurde in den USA aufgegriffen und dort ein wenig weiterentwickelt. Unter dem Titel „Family Decision Making“ wird es mit Erfolg angewendet.

Wozu erzähle ich die Geschichte dieses Verfahrens? Es zeigt einen anderen als den üblichen Weg. Das Verfahren erweitert den Blick auf die ganze Familie, gibt ihr die Verantwortung unter klaren Bedingungen. Und das funktioniert sehr oft.

Was ist der Unterschied zur üblichen Vorgehensweise? Der Unterschied besteht darin, dass die Interventionen der Jugenwohlfahrt beim Family Decision Making der erweiterten Familie eine Chance geben. Dass die Jugendwohlfahrt nicht alles selber macht, sondern dafür sorgt, dass im natürlichen Netzwerk gemacht wird, was machbar ist. So ist es seltener nötig, Kinder und Jugendliche in die künstlichen professionellen Netze zu holen.

Ich erzähle Ihnen noch eine zweite Geschichte, die ich mit großem Interesse in einer Zeitschrift der SOS-Kinderdörfer gelesen habe. Diese Geschichte spielt in Südamerika. In den dortigen Kinderdörfern finden sich Kinder, die aus den ausgedehnten Elendsvierteln der Großstädte kommen, die von ihren Eltern zu Bettelei und zu Diebstählen gezwungen wurden. Bei einer Untersuchung, wie es den ehemaligen Zöglingen der Kinderdörfer denn so einige Jahre nach ihrer altersbedingten Entlassung, also als junge Erwachsene, geht, stellten die etwas interessantes fest: Jene, die noch Kontakt zu ihrer Familie hatten – und das waren beileibe keine Familien, die sich früher besonders um das Wohlergehen ihrer Kinder geschert hätten – also wer noch Kontakte zum ursprünglichen sozialen Umfeld hat, hat wesentlich größere Chancen, das Leben zu meistern.

Die Konsequenz, die die Sozialarbeiterinnen zogen, war interessant. Sie haben begonnen, von vornherein aktiv mit den Eltern zu arbeiten. Mit den Eltern arbeiten, das heißt: Den Kontakt zu den Eltern suchen. Ihnen auch nachzulaufen, wenn sie an ihren Kindern nicht interessiert sind. Das heißt, sie an ihrer Ehre zu packen: Das ist Ihr Kind, dem gegenüber haben Sie auch moralische Verpflichtungen. Besuchen Sie es. Schicken Sie eine Postkarte, schicken Sie ein kleines Geschenk. Mit den Eltern zu arbeiten, das heißt auch intensiv mit den Kindern zu arbeiten: Auch die Kinder müssen bereit sein, zu ihrer Familie Kontakt zu haben. Das heißt: Man kann nichts als böse, aber nicht mehr aktuelle Vergangenheit abhaken, was früher passiert ist und was immer noch zwischen Eltern und Kindern steht. Das heißt, dass Eltern und Kinder lernen müssen, miteinander Kontakt zu haben trotz allem, was zwischen ihnen vorher passiert ist.

Eine große, aber lohnende Aufgabe. Sie erfordert eine Haltung von den Profis, die auf Konkurrenz zu den Eltern verzichtet. Die die Eltern ständig darauf hinweist, dass sie auf Dauer nicht zu ersetzen sind, auch nicht von den besten Erzieherinnen und Erziehern.

Wir sind nun bei der Zeitdimension. Diese letzte Erweiterung unseres Schemas, das aus dem Dreieck entstanden ist. Und weil das Bild nun allzukompliziert würde, kann ich diese neue Dimension nur andeuten:



Der Erfolg von Maßnahmen der Jugendwohlfahrt erweist sich letztlich erst, wenn die ehemaligen Zöglinge als Erwachsene ihr Leben bewältigen müssen, und dann sind die familiären und anderen sozialen Kontakte ein wesentliches Kriterium für ein gelingen dieser Lebensbewältigung. Daher sind solche Faktoren für den Erfolg entscheidend, die diese sozialen Kontakte stabilisieren, wiederaufbauen.

Aber ich möchte auch noch auf einen anderen Abschnitt der Zeitachse hinweisen, nämlich auf den vor der massiven Intervention der Jugendwohlfahrt.

Wie Sie wissen, kommen viele der Kinder und Jugendlichen in den sozialpädagogischen Einrichtungen aus vielfach belasteten sozialen Verhältnissen, aus Milieus der Armut. Sie sind vorgeburtlich und in ihren ersten Lebensmonaten und Jahren Mangel ausgesetzt. Die massiveren Interventionen der Jugendwohlfahrt setzen oft erst ein, wenn bereits unumkehrbare Fakten geschaffen sind. Zum Beispiel, wenn schlechte vor- und nachgeburtliche Entwicklungsbedingungen oder frühkindliche Traumatisierungen deutliche Spuren hinterlassen haben.

Das lässt sich nicht ganz vermeiden, aber man kann etwas tun. Man kann, wie ich nun vorschlagen werde, die Sichtweise der Jugendwohlfahrt verändern und dadurch gleichzeitig wirksamer und bescheidener sein. Ich schließe an die Bilder vom Netz, vom erweiterten Blick an und stelle einige Thesen auf, lasse diesen Thesen dann Vorschläge folgen.

Zuerst die Thesen:

1. These

Der eigentliche Prozess, um den es in der Jugendwohlfahrt geht, ist ein dynamischer, komplexer und überdauernder, es ist der Prozess des sozialen Lebens der Kinder und ihrer Familien.

2. These

Diesem Prozess gegenüber scheinen die Eingriffsmöglichkeiten der Jugendwohlfahrt unterkomplex und zeitlich begrenzt. Sie kommen immer schon zu spät und enden immer schon zu früh. Die Verantwortung der Jugendwohlfahrt ist endenwollend und aufkündbar.

3. These

Drastische Maßnahmen der Jugendwohlfahrt – und die sogenannte „volle Erziehung“ ist per definitionem eine drastische Maßnahme – sind wirkungsvoll, haben aber auch dramatische Nebenwirkungen.

‡ Folie Thesen 2

4. These

Die folgenschwerste Nebenwirkung der vollen Erziehung ist das Vernachlässigen oder gar Zerstören des sozialen Biotops, das als einziges nach Ende der Jugendwohlfahrtsmaßnahmen weiterexistieren kann, das Basis für die Identität der Kinder/Jugendlichen und letzter sozialer Halt ist und bleibt.

5. These

Die fatalen Nebenwirkungen entstehen nicht aus dem bösen Willen der Akteure, sondern im Gegenteil deshalb, weil alle vermeinen, das beste für das Kind zu tun.

6. These

Jugendwohlfahrt kann besser arbeiten und die Nebenwirkungen vermindern. Dazu bedarf es einiger Änderungen in ihrer Vorgehensweise.

  • Kinderschutz muss schnell sein, viel schneller als bisher üblich. Die Eingriffe erfolgen zu oft zu spät, wenn Kinder bereits schwere frühkindliche Traumatisierungen haben.
  • Um schnell sein zu können, muss die Jugendwohlfahrt früher an die Fälle herankommen. Dazu muss sie sehr niederschwellig sein.
  • Schnelle Maßnahmen müssen weniger radikal sein und haben daher weniger unerwünschte Nebenwirkungen. Schnelle Maßnahmen sind Maßnahmen energischer Hilfe.
    Jede Schutzmaßnahme für das Kind muss von ausführlicher Hilfe für die Eltern begleitet werden.
  • Die Planung muss mit der Familie erfolgen und darf kein Diktat sein.
  • Wir brauchen eine lange Perspektive in der Planung. Die Planung muss einen Horizont haben, der die Maßnahme überschreitet: Das Ende der Maßnahme ist bereits mitzuüberlegen, und das, was auf dieses Ende folgen kann und soll, und was man tun kann, um die Zeit danach gut vorzubereiten.
  • Es sind mit der Familie Verträge abzuschließen, die auch halten können. Galtung sagt, dass nur jene Verträge halten, die die Grundbedürfnisse der Vertragspartner nicht verletzen. Grundbedürfnisse sind:
    • Überleben
    • Wohlbefinden (physisch und psychisch)
    • Freiheit (das Gefühl, eine Wahl zu haben)
    • Identität („zu Hause in der eigenen Seele“)
  • Die Fallverantwortung sollte dort liegen, wo Leben und Lebensbedingungen des Kindes und der Familie am besten bekannt sind. Ich plädiere für eine größere Gesamtverantwortung der sozialpädagogischen Einrichtungen, die dafür auch personelle Ressourcen besitzen müssten.
  • Wie es im Stuttgarter Modell formuliert ist, sollte es zu den obersten Maximen der Maßnahmenplanung gehören, möglichst keine Beziehungsabbrüche zu produzieren.
  • Um Beziehungen aufrechterhalten und natürliche soziale Ressourcen nutzen und erschließen zu können, benötigen wir neue Modelle, die die scharfe Unterscheidung zwischen Hilfen zur Erziehung und voller Erziehung unterlaufen. Wir brauchen individualisierte, auf den Einzelfall und seine Bedingungen zugeschnittene Half-way Lösungen. Sozusagen Teilzeitfremdunterbringungen. Die Eltern und die Kinder sollen sich voneinander erholen können, aber trotzdem miteinander (unterstützt) konfrontiert bleiben. Oder anders gesagt: Bearbeitet wird der Konflikt Eltern-Kinder.
  • und schließlich plädiere ich für eine enge erklärende und unterstützende Begleitung der Kinder durch den Prozess der Entscheidungsfindung, der Einleitung und Durchführung der Maßnahmen.



Ganz zum Ende möchte ich die Frage zu beantworten versuchen, die im Titel meines Referats steht: Entsteht Qualität durch Konkurrenz? Die Antwort lautet nein: Die Konkurrenz der Jugendwohlfahrt und der Fremdunterbringungseinrichtungen zu den Eltern und der erweiterten Familie produziert nicht gute Qualität, sondern ist ihr hinderlich. Auch Ersatzerziehung ist, wenn sie gut ist, nur eine ergänzende Maßnahme, eine Hilfe für die Familie. Eine Hilfe aus einem Bündel von Maßnahmen, in deren Kern die Reparatur von Beziehungen und Lebensbedingungen zu stehen hat, und zwar nicht nur, aber auch für die Kinder, die bei uns zu Gast sind.

Sie erkennen, dass ich für das wirkliche Leben plädiere. Dass ich empfehle, dieses wirkliche Leben, das draußen in der freien Wildbahn stattfindet, zum Maßstab zu nehmen, nicht die sogenannten Produkte der Jugendwohlfahrt. Sieht man es so, dann überschneiden sich die Aufgaben von Jugendamt und sozialpädagogischen Einrichtungen stark. Dann sind beide an einer Hilfe für die Familien interessiert und engagieren sich gemeinsam für eine Reparatur des natürlichen Netzwerkes, für ein gelingendes wirkliches Leben.