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Jugendamt als Dritter zwischen WG und Familie
Partner, Auftraggeber und …?
Referat auf der Fachtagung zu 5 Jahren sozialtherapeutischer Wohngemeinschaft Roseldorf, 3. September 2004 in Eggenburg.
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Reinhard Neumayer



Jugendamt als Dritter zwischen WG und Familie
Partner, Auftraggeber und …?

(Referat anlässlich der Fachtagung der Sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft Roseldorf am 03.09.2004,
gehalten von Dr. phil. Reinhard Neumayer)

Sehr geschätztes Fachpublikum!

Wenn eine Fachtagung sich mit Themen der vollen Erziehung in Institutionen auseinandersetzt, so trifft man unweigerlich auf die Begriffe Jugendwohlfahrt, Jugendamt – wie immer es in der lokalen Behördenstruktur auch aktueller bezeichnet werden mag – und auf das Kindeswohl. Es ist ein angeblich nicht genau definierbares Konstrukt, aber immerhin nichts Geringeres als der leitende Begriff für die öffentliche und private Jugendwohlfahrt.
Ich werde der Versuchung, mich über den Begriff Kindeswohl zu verbreitern, zunächst widerstehen und mich mit dem Jugendamt befassen.
In den üblichen Dreiecksdarstellungen, mit denen die Beziehungsstrukturen von Konfliktparteien dargestellt werden, findet man häufig folgende Konstellationen:

Eltern – Kind – Institution oder
Kind – Bezugserzieher – Familie oder
Institution – Familie – Schule vielleicht sogar
Familie – Gericht – Heim

Aber wenn dann gefragt wird, wer hat denn die Maßnahme gesetzt, die Unterbringung veranlasst, wer war denn die treibende Kraft – dann wird es Zeit, ein weiteres Dreieck zu konstruieren:

Familie – Jugendamt – Erziehungseinrichtung

Manche oder mancher unter den ZuhörerInnen wird nun vielleicht schon Sorgen hinsichtlich der Übersichtlichkeit der vielen Dreiecke haben. Und flugs findet sich ein Geometriespezialist, der die Dreiecke zu einem Netz – ja so heißt das auch in der Geometrie – also zu einem Netz zusammenfügt. Das Netz wäre dann die aufgeklappte Oberfläche eines dreidimensionalen Körpers…. Und herrlich ließe sich die Analogie weitertreiben
- welche Bedeutung in dieser Darstellung hätte etwa die Raumdiagonale zwischen Gericht und Bezugserzieher? Oder
- wie stehen sich ein AMT einerseits und ein/e Minderjährige/r gegenüber? Und wie könnte man einem Kind verständlich machen, dass plötzlich ein „Amt“ etwas zu entscheiden habe?

Bleiben wir beim Jugendamt und erlauben Sie mir einen etwas persönlicheren Zugang:

Es war einmal ein Jugendamtspsychologe, der hat mir ziemlich ähnlich gesehen – nur jünger - und wurde immer wieder zu Themen wie Fremdunterbringung aber auch Rückführung in Anspruch genommen.
An einem nicht so besonders schönen Herbsttag war Beratungstermin in einer Bezirksstadt im Waldviertel. Zum vereinbarten Termin an der BH erscheinen eine aufgeregte Pflegemutter, ein desinteressiert wirkender 14jähriger Bursche, eine besorgte Sozialarbeiterin sowie – nicht zu vergessen:
ein AKT, eigentlich müsste man schon sagen: ein Konvolut (für die jüngeren unter uns: umfangreiche Sammlung von Dokumenten aus der Epoche VOR dem papierlosen Büro, daher unhandlich, Platz raubend aber unabhängig vom Ladezustand irgendeines Akkus!)

Warum ich diesen Akt so erwähne? Allein sein Umfang ist schon ein Hinweis auf die Fülle behördlicher Bemühungen, festzuhalten und zu überliefern, was vielleicht später einmal die einzige Informationsquelle über das Leben dieses mittlerweile 14 Jahre alt gewordenen Burschen sein könnte.

Erlauben Sie mir nur einen ganz kurzen Exkurs zum Thema Adoption: Wir – damit meine ich die Jugendwohlfahrtsbehörde – haben es immer wieder mit erwachsen gewordenen Adoptivkindern zu tun, die Auskünfte über die Umstände der Adoption und über die beteiligten Personen haben wollen. Sie möchten gerne etwas über ihre leiblichen Eltern, über ihre „Wurzeln“ erfahren, aber im fall der früher üblichen anonymen Adoption können die Adoptiveltern nicht weiterhelfen – sie wissen nichts bzw. kaum etwas über die Herkunftsfamilie und die damals tätig gewesene DiplomsozialarbeiterIn ist wahrscheinlich auch nicht mehr zur Verfügung – bleibt also der AKT!

Die Fragestellung an diesem Termin lautete. ….. HALT, falsch!
Es gab mehrere Fragestellungen, von verschiedenen Personen, Fragestellungen, die gar nicht so recht zusammen passen wollten:

Die Sozialarbeiterin fragte: Wie soll es mit dem Burschen, dem Markus (ja das war die Zeit, als „Kevin“ noch nicht so modern war), weitergehen? Auf dem Pflegeplatz kann er wahrscheinlich nicht bleiben und die Herkunftsfamilie ist praktisch nicht vorhanden – Vater unbekannt, der Mutter sind auch die beiden anderen Kinder abgenommen worden, weil sie diese so massiv vernachlässigt hatte, dass gesundheitliche Gefahr bestand!

Die Pflegemutter fragte: Was muss ich noch alles aushalten, bevor das Jugendamt begreift, dass der Markus und unsere Familie nicht miteinander können? Er sekkiert die anderen Kinder, quält unsere Tiere und zerstört - patschert oder boshaft weiß ich nicht - alle Augenblick’ irgendwelche Sachen: Schulzeug, dann den Rasierer von meinem Mann, den Gameboy, den er zum Geburtstag gekriegt hat oder er ruiniert das ausgeborgte Fahrrad vom Nachbarn. UND – die Therapie hat auch nix genutzt, er ist nur frecher geworden!

Der Akt – der fragt nicht, wirft aber Fragen auf:
- wenn der Bub seit seinem dritten Lebensjahr schon drei Pflegeplätze hatte
- wenn eine Rückkehr in die Ursprungsfamilie immer wieder als aussichtslos bezeichnet wurde / werden musste
- wenn Erziehungsberatung für die Pflegeeltern und Therapie für den Burschen nichts wesentlich zum Besseren wenden konnten
- wenn auch schon Überlegungen in Richtung auf psychiatrische Diagnosen auftauchen
WAS soll denn diesem Burschen am besten helfen?

Übrigens, der Markus fragt nichts, er antwortet auch wenig, wenn man ihn etwas fragt. Aber man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass seine Fragen lauten könnten:
WER akzeptiert mich?
Wo ist mein zuverlässiger Platz?
Wieso muss immer ICH mich ändern?
‡ ICH habe mir diesen ganzen MÜLL nicht ausgesucht, das wart IHR!!!!!!

Offensichtlich braucht dieser Bursche ein Zuhause, strapazierfähige – nein, nicht Teppiche oder Sitzmöbel, sondern Bezugspersonen und eine PERSPEKTIVE.

Warum ich das erzähle? Er hatte keine Eltern mit Elternrechten sondern die Obsorge war zur Gänze dem Jugendamt übertragen.

Nun haben wir schon viel über die Bedeutung der noch so wenig funktionalen Familie gehört. Ich setze das einfach unter Fachleuten voraus und muss mich hier nicht wiederholen oder die Worte der Vorredner zitieren.
Mir geht es heute um das Jugendamt:

In diesem Amt arbeiten Menschen als Amtspersonen und zwar vor allem DiplomsozialarbeiterInnen und rechtskundige MitarbeiterInnen, in NÖ als AmtsvormünderInnen bezeichnet.

Sie erteilen im konkreten Einzelfall - nach gründlicher Prüfung, Einschaltung von zusätzlicher Fachkompetenz udgl. - den Auftrag auf Erziehung des Kindes oder Jugendlichen in einer Institution.
Sie geben damit einen Teil der Verantwortung und Zuständigkeit weiter, ohne die beiden ganz loszuwerden

Dabei geht es um mehrere differenzierbare Aufgabenstellungen

Jugendamt als OBSORGE innehabend (zum Beispiel Volle Obsorge wie bei Markus, oder nur Teile der Obsorge).

Ich denke auch an Kooperation bei „laufendem Betrieb“ wie Beurlaubungen, Wochenendkontakte…
Kann das ein Amt? Es geht hier um Entscheidungen, wie sie sonst Eltern laufend für ihre Kinder treffen müssen, allerdings bei Kindern in einem Heim oft gerade um Eltern, die mit ein Grund dafür waren, dass die Kinder jetzt im Heim sind.

Jugendamt als Servicestelle, das zu rechtlichen, sozialen aber auch einer Fülle von anderen Fragen kompetente Auskünfte bieten oder vermitteln soll.

Jugendamt als Mitfinanzier von Therapien, das einspringen muss, weil die Behandlungskosten auch von „willigen“ Eltern nicht oder jedenfalls nicht für längere Zeit getragen werden können.

Damit kommen wir auch ganz elegant zum Thema: „Jugendamt als ZAHLER“.
In jüngster Zeit wurde wieder ein bedeutsames Motto für wirtschaftliche Vereinbarungen in Erinnerung gerufen, das da lautet: Wer zahlt, schafft an!
Die Kosten der vollen Erziehung trägt zunächst die öffentliche Hand (Land und Gemeinden), dann wird versucht einen Regress auf Unterhaltspflichtige zu machen, um wenigstens einen Teil wieder herein zu bekommen.
Allerdings meine ich, dass zahlen allein noch nicht ausreicht um Entscheidungen über wichtige Weichenstellungen im Leben eines Kindes/Jugendlichen treffen zu können. Vielmehr sollten hier diejenigen, die ein Expertenwissen über das Kind haben und diejenigen, die ein Expertenwissen über die Eltern haben, sich unter bestmöglicher Einbindung von Kind/Jugendlichen und Familie um eine konstruktive Einigung bemühen. Dann würde nämlich der Satz gelten: Wer weiß, schafft an!

Wenn der Begriff Jugendamt ins Gespräch kommt, dann oft auch Jugendwohlfahrt allgemein und dann die Fachabteilung beim Amt der Landesregierung: Hier geht es nicht nur um Geld und um Vertragsverhandlungen sondern auch um Rahmenbedingungen, Aufsicht und Kontrolle.
Das ist notwendig um Qualitätssicherung zu betreiben und die wieder ist kein abstrakter Begriff: Kindern/Jugendlichen darf es in einem Heim/einer WG jedenfalls nicht schlechter gehen, als zuvor in der Familie! Das Ziel muss selbstverständlich lauten, dass es dem jungen Menschen in der Institution besser ergehen soll, als zuvor im familiären – aber aus unterschiedlichen Gründen eben nicht (ausreichend) funktionalen Familiensystem.
Wenn also ein Kind wegen massiver Gewalterfahrungen in der Familie zu seinem Schutz in eine Einrichtung der vollen Erziehung kommt und dort wieder Gewalterfahrungen in Form körperlicher Übergriffe erleben muss, dann ist das sofort abzustellen und in der Folge zu untersuchen, ob u.a. auch strukturelle Vorkehrungen gegen eine Wiederholungsgefahr zu treffen sind!
Wir gehen davon aus, dass alle MitarbeiterInnen in den Institutionen für volle Erziehung in bester Absicht handeln, was aber leider nicht mit Sicherheit ausreicht um Fehler unmöglich zu machen.


Abschließend nach einmal zurück zu Markus: es war notwendig eine Entscheidung für die unmittelbare Zukunft des Burschen herbeizuführen, wobei altersbedingt eine weitere Pflegestelle nicht mehr in Betracht kam. Markus wurde die Unterbringung in einer sozialpädagogischen WG angeboten, was er eher Schulter zuckend und mit wenig Optimismus zur Kenntnis nahm.
Wichtig war aber damals wie auch derzeit bei anderen Anfragen: es geht immer auch um längerfristige Überlegungen, über die konkrete Entscheidung hinaus, um Perspektiven, auch unter Einbindung einer bisher wenig „erfolgreichen“ Familie.

Es geht um Überlegungen zum künftigen Lebensweg des Kindes, um rechtzeitige und möglichst wenige systembedingte zusätzliche Hürden und um das Wissen, dass eines Tages kein „Amt“ mehr an der Seite (oder im Weg) von Markus stehen wird, wenn er als Erwachsener sein Leben selbst meistern soll.

Jugendwohlfahrt, das ist nicht nur das Jugendamt an irgendeiner Bezirkshauptmannschaft oder die Fachabteilung in St. Pölten, das sind auch die Einrichtungen der vollen Erziehung, ob öffentlich oder privat oder die Sozialen Dienste der freien Jugendwohlfahrt, kurz – wenn ich mich im Saal so umschaue – Jugendwohlfahrt: das sind wir alle!


Referent:
Dr. phil. Reinhard Neumayer
Klinischer und Gesundheitspsychologe
Stv. des Leiters der Abteilung Jugendwohlfahrt und Leiter des Bereichs Psychologie
Amt der NÖ Landesregierung
Psychotherapeut (Individualpsychologie) in freier Praxis

Korrespondenz:
Landhausplatz 1
3109 St. Pölten
02742/9005/16435
e-mail: reinhard.neumayer@noel.gv.at