Soziale Diagnose heute
oder: Von der Nützlichkeit, zu wissen, was man tut. |
Referat auf der Tagung "Sozialarbeit im Gesundheitswesen", Salzburg,
15. + 16.11.2004. --> Materialien zur Sozialen Diagnostik |
Peter Pantucek
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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Ich stehe vor der titanischen Aufgabe, hier in einer halben Stunde über, wie das Richard Köppl in seiner Themenvorgabe formuliert hat, heutige Verständnis von Sozialer Diagnose in Theorie und Praxis zu referieren. Da ich mich diesem Anspruch nicht gewachsen fühle, so schnell kann ich nicht reden, werde ich den Auftrag redimensionieren, handlicher machen und nicht den ganzen heutigen Diskurs zur Diagnostik darstellen, sondern nur meine Position. Ich hoffe, die ist für Sie interessant genug. Es hat 80 Jahre gebraucht, bis in der Sozialen Arbeit die Rede von der Sozialen Diagnose wieder Konjunktur hat. Auf den ersten Blick ist das erstaunlich. Erstaunlich ist, dass es so lange still war um eine kontrollierte soziale Diagnostik, erstaunlich ist aber auch die Renaissance des Interesses dafür. Ich werde Ihnen zuerst einige schlechte und einige gute Gründe für dieses Interesse nennen. Dann werde ich skizzieren, welche Anforderungen diagnostische Instrumente für die Sozialarbeitspraxis erfüllen müssen, sollen sie nützlich und anwendbar sein. Dann werde ich einige Verfahren der Sozialen Diagnose vorstellen, um schließlich mit einem Plädoyer für den Einbau dieser und ähnlicher Verfahren in die sozialarbeiterische Fallbearbeitung abzuschließen. A. Beginnen wir mit den schlechten Gründen. Die Träger der Sozialen Arbeit, vor allem die Managementebenen, drängen auf eine bessere Beschreibbarkeit und Steuerbarkeit der Sozialarbeit. Sie müssen zunehmend Leistungsbeschreibungen erstellen, um ihre Finanzierung zu sichern. Dabei ist ihnen eine Orientierung an von der Legislative und dem ministeriellen Beamtenapparat formulierten Zielen und Kennzahlen vorgegeben. Während die Medizin die Definitionsmacht darüber hat, was eine Krankheit ist und was nicht (wobei es in ihrem Interesse liegt, möglichst jede Normabweichung als Krankheit zu definieren), hat die Sozialarbeit nicht die Definitionsmacht darüber, was ein soziales Problem ist. Die Definition eines sozialen Problems ist ein öffentlicher diskursiver Prozess, ein seinem Wesen und letztlich auch seiner Form nach politischer Prozess. Die Träger, denen eine stärkere Flexibilität bei der Erbringung von Dienstleistungen an die Politik abverlangt wird, verlangen diese Flexibilität und bessere Steuerbarkeit zunehmend auch von ihrem Personal. Über Produktbeschreibungen, ausgefeiltere Dokumentationssysteme und die genauere Definition von Abläufen soll die relative Offenheit der sozialarbeiterischen Beratungs- und Betreuungsprozesse besser einer verkaufbaren Darstellung, aber auch einer Steuerung durch Entscheidungen des Managements zugänglich gemacht werden. Definierte und überprüfbare Betreuungsziele, frühzeitige begründete Festlegungen auf einen gewünschten Verlauf des Prozesses und damit auch auf den zu erwartenden Mitteleinsatz sollen die überprüfbare Effizienz des Prozesses erhöhen. Damit wird der Orientierung der Methodik auf ergebnisoffene und wenig vorhersagbare Prozesse der Kampf angesagt. Ergänzend und alternativ dazu ist es ein aus nicht-professionellen Zusammenhängen importiertes Qualitätsverständnis, das ebenfalls auf beschreibbare immergleiche Prozesse und vorweg definierte überprüfbare Zielsetzungen abhebt, das es der Sozialarbeit immer schwerer macht, so weiter zu machen wie bisher. Es gibt ein weiteres neues Schlagwort, das in die gleiche Kerbe schlägt: Evidence Based Practice. Etwas verkürzt dargestellt funktioniert das so: Am Beginn eines Unterstützungsprozesses wird auf Basis eines Assessments eine Diagnose erstellt. Die Entscheidung über Interventionen ist dann weitgehend durch Ergebnisse einer quantitativen Wirkungsforschung vorgegeben. Bei Personen mit der Diagnose X konnte in 70 % der Fälle mit der Intervention Y ein Erfolg erzielt werden, mit der Intervention Z in nur 45 % der untersuchten Fälle. Also ist bei Diagnose X im vorliegenden Fall die Intervention Y anzuwenden. Was der sogenannte Managerialismus will, ist eine überprüfbare, objektivierte routinisierte Soziale Arbeit, planbar und messbar. Nichts gegen Planung, wenn sie der Eigenart der zu planenden Prozesse angemessen ist. Nichts gegen Messbarkeit, wenn messbares gemessen wird. Alles gegen Versuche, die hochintelligente Interventionstechnologie der Sozialarbeit auf eine solche Art auf die mechanische Anwendung von routinisierten Programmen zurückzustutzen. Hier wird versucht, High Tech durch Low Tech zu ersetzen. Ich sage voraus, dass eine Diagnostik, die versucht, solche Wünsche zu bedienen, scheitern wird. B. Doch nun zu den guten Gründen, die für eine Entwicklung sozialarbeiterischer Diagnostik sprechen. Der erste gute Grund: Wir brauchen beschreibbare und nachvollziehbare Verfahren, um zu fachlichen Einschätzungen zu kommen. Auch wenn unser Gspür grade nicht so funktioniert, wie wir es gerne hätten, soll sich unsere Einschätzung einer Fallsituation doch deutlich von der eines Laien unterscheiden. Wir brauchen eine eigene und fachliche Situationseinschätzung, damit wir in den Dialog mit den KlientInnen und mit anderen Fallbeteiligten eintreten können. Der zweite Grund: Wenn wir keine eigene sozialarbeiterische Diagnostik entwickeln, die sich mit den aus unserer fachlichen Sicht relevanten Aspekten eines Falles systematisch beschäftigt, sind wir den medizinischen, psychologischen und psychotherapeutischen Sichtweisen und Diagnosen hilflos ausgeliefert, können ihnen nichts entgegensetzen. Wir werden Hilfskräfte, nicht anerkannt, und unsere Gutachten werden wenig respektiert werden. Der dritte Grund: Unsere KlientInnen verdienen, dass wir wissen, was wir tun und warum wir es tun. Der vierte Grund: Die Managementebenen wollen, wie oben beschrieben, Sozialarbeit steuerbarer machen. Sie verwenden dazu unter anderem Dokumentationssysteme, die eine entfernte Ähnlichkeit mit diagnostischen Verfahren haben, meistens aber nicht gegenstandsangemessen sind. gegen diese Zumutung, gegen die Entprofessionalisierung, benötigen wir eine fachlich begründbare Diagnostik, die dem Gegenstand angemessen ist und unsere Professionalität, damit auch unsere relative Unabhängigkeit von den Zumutungen des Managerialism stärkt. Gründe genug, denke ich, sich anzusehen, ob es eine Diagnostik geben kann, die sozialarbeiterisch ist in ihrer Herangehensweise und in dem, was sie diagnostiziert. Eine Diagnostik, die uns im Fall klüger macht und sicherer in unseren Interventionsentscheidungen. C. Ausgehend von diesen guten Gründen können wir nun einige Anforderungen an diagnostische Verfahren in der Sozialarbeit formulieren: 1) Soziale Diagnostik muss zur Logik, zum Blickwinkel der Sozialarbeit passen Der Blickwinkel der Sozialarbeit ist jener auf die Person in der Situation oder auf Person in Umwelt. Sozialarbeit interessieren die Probleme der Lebensführung der KlientInnen, oder, in anderen Worten, die Probleme der Alltagsgestaltung. Diagnostische Verfahren müssen daher dieses Verhältnis von Person und Umwelt erfassen. Die Logik der Sozialarbeit ist eine Logik der Individualisierung, des Eingehens auf die Subjektivität. Es ist eine Logik des gezielten Beziehungsaufbaus, des Dialogs und der Aufmerksamkeit für die Eigendiagnose der KlientInnen. Die Logik der Sozialarbeit ist eine, die jeden Kontakt bereits als Intervention versteht. Eine säuberliche Trennung zwischen Diagnose und Therapie ist daher nicht möglich. Anamnese und Diagnose sind bereits Intervention, und die Intervention hat diagnostische Anteile. 2) Soziale Diagnostik darf die Selbststeuerung der KlientInnen nicht behindern, sondern soll sie günstigenfalls vorantreiben Sozialarbeiterische Unterstützungsprozesse sind in dem Maße erfolgreich, als es gelingt, dass die KlientInnen ihre Möglichkeiten der Selbststeuerung besser wahrnehmen können. Jedes diagnostische Verfahren, das KlientInnen nur auf einen Objektstatus reduziert, das ihn nur als zu Behandelnden fasst, ist daher fehl am Platz, ungeeignet, kontraproduktiv. 3) Diagnostische Verfahren sollen helfen, Interventionen (und Nicht-Interventionen) fachlich zu begründen Ich meine diesen Satz ganz wörtlich: Diagnostische Verfahren sollen helfen, also nicht die Interventionsplanung vollständig determinieren. Der Dialog, der Prozess und andere Informationen, die in den angewendeten Verfahren nicht erfasst wurden, können den Interventionsplan ebenfalls beeinflussen. Interventionen, das sind in der Sozialarbeit nicht nur sogenannte Maßnahmen, sondern das sind auch Thematisierungsstrategien in der Beratung. Was machen wir als Sozialarbeiter zum Thema, wo agieren wir konfrontativ, wo können wir (vorläufig) auf Konfrontation verzichten. Fachlich, das heißt erkennbar in Übereinstimmung mit Blickwinkel und Wissensstand der Profession. Das heißt: anders als aus dem Bauch heraus oder in einer Alltagslogik. Fachlich, das heißt, dass die Begründung als fachliche Begründung erkennbar ist, auch im Dialog mit anderen Professionen. 4) Soziale Diagnostik muss die Komplexität des Falles erschließen und doch so strukturieren, dass Entscheidungen möglich werden Sozialarbeitsfälle sind tendenziell hochkomplex und dynamisch. Für eine fachliche Interventionsentscheidung müssen wir uns diese Komplexität des Falles aneignen, sie aber auch strukturieren, sodass sie geordnet und aufbereitet wird für eine kluge Einschätzung und für eine Fokussierung der Interventionen auf das Wichtige, Mögliche und Aussichtsreiche. 5) Soziale Diagnostik muss den Dialog mit den KlientInnen unterstützen Und jetzt kommen wir zu einer der wichtigsten Anforderungen an diagnostische Verfahren in der Sozialarbeit: Sozialarbeit ist ein kooperativer Prozess ist, an dem der Klient mitarbeiten muss, soll etwas herauskommen. Die Eigendiagnose der Klienten spielt daher eine hervorragende Rolle in diesem Prozess. Diagnostische Verfahren, die den Dialog behindern oder zu stark formalisieren sind daher schädlich. D. Ich will Ihnen nun einige Verfahren kurz vorstellen, die meines Erachtens die vorhin genannten Anforderungen sehr gut erfüllen und die für die Sozialarbeit außerordentlich brauchbar sind. 1) Netzwerkkarte / P3S Die Netzwerkkarte ist ein Instrument der kooperativen Diagnostik. Kooperative Diagnostik heißt, dass sowohl die Zusammenstellung der Daten als auch deren Interpretation in Kooperation von KlientIn und SozialarbeiterIn erfolgt. Kooperative Diagnostik ist beides gleichzeitig: Ein Mittel, damit die Fachkräfte ein genaueres Bild über die Situation der KlientInnen erhalten; und ein Mittel, damit die KlientInnen ihre eigene Situation strukturiert einschätzen und aus dieser Einschätzung Schlussfolgerungen ziehen können. Kooperative Diagnostik ist damit immer auch Arbeit an der Eigendiagnose der KlientInnen. Bei der Netzwerkkarte wird das unterstützende Soziale Umfeld der KlientInnen grafisch als Netz dargestellt, in dessen Zentrum als sogenannte Ankerperson der Klient steht. Ich empfehle eine fixe Sektoreneinteilung. Um diesen zweiten Schritt bewältigen zu können, ist aber eine Einschulung in die Technik der Netzwerkdiagnostik erforderlich. Werden Netzwerkkarten (oder andere Instrumentarien, wie das später vorgestellte Inklusions-Chart) für die Begutachtung verwendet, ist eine schriftliche Zusammenfassung und Interpretation erforderlich.
Schließlich will ich Ihnen noch einen Typus sozialarbeiterischer Diagnostik vorstellen, der sich besonders gut in den Prozess einfügt und der Instrumente wie die vorgenannten zwar nicht ersetzen, aber hervorragend ergänzen kann. Als Black-Box-Diagnostik bezeichne ich Verfahren, die die Eigendiagnose der KlientInnen unterstützen und strukturieren. Wir als BeraterInnen überlassen den diagnostischen Prozess den KlientInnen selbst, wir erfahren günstigenfalls die Schlussfolgerungen, die die KlientInnen daraus ziehen, und arbeiten dann mit diesen Entscheidungen. Die Rolle der SozialarbeiterInnen ist am ehesten mit der von ModeratorInnen zu vergleichen. Ihr Wissenszuwachs über den Fall bleibt minimal, und trotzdem geht was weiter. Faszinierend, oder? Black Box Diagnostik macht manchen Angst, die glauben, man müsse alles wissen. Das meine ich mit Black-Box-Diagnostik. LiteraturAdler, Helmut (1998): Eine gemeinsame Sprache finden. Klassifikation in der Sozialen Arbeit - Ein Versuch: das Person-In-Environment System (PIE). In: Blätter der Wohlfahrtspflege 7+8. S. 161-164. |