Soziale Diagnose

Möglichkeiten und Grenzen eines relativ selbständigen Abschnitts "Diagnose" im Family Casework


Kurzfassung eines Referats von Peter Pantucek auf der Jahrestagung des Bundessozialamtes / Mobile Beratungsdienste in Werfenweng / Salzburg am 19.5.1999.


Soziale Diagnose: ein Konzept an der Wiege der professionellen Sozialarbeit

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als die Sozialarbeit von einer Freizeitbeschäftigung bürgerlicher Frauen zu einer Profession wurde und die Pionierinnen in den USA und später auch im deutschen Sprachraum die ersten Fürsorgeschulen gründeten, schien Eingikeit über das Modell der Professionalisierung zu bestehen. Das übermächtige Modell des Arztberufs galt als Musterbeispiel für die gelungene Positionierung einer Profession in der Gesellschaft - und als Kernstück wurde das zurschaugestellte Expertentum verstanden, das in der ärztlichen Diagnose seine praktische Ausformung fand. Die Vorstellung, dass aufgrund einer präzisen Diagnose auch die Entwicklung zielgerichteter und wirkungsvoller Hilfen bei sparsamem Mitteleinsatz möglich wäre, lenkte das Augenmerk auf eine umfassende Datenerhebung und die Ordnung der Klientendaten als zentrale ExpertInnenleistung der Social Worker.

Nicht zufällig gilt Mary Richmonds Hauptwerk "Social Diagnosis", erschienen in New York 1917, als wichtiger Meilenstein in der Professionsentwicklung. Die Diagnosen, die Mary Richmonds Kolleginnen erstellten, basierten auf den Ergebnissen von "friendly visiting", Hausbesuchen bei hilfebedürftigen Familien. Auf Basis dieser Diagnosen sollte der Hilfebedarf ermittelt und der Einsatz nicht passender Hilfen vermieden werden. Die Optimierung des Mitteleinsatzes der Wohlfahrtsorganisationen war also der Antrieb für die Entwicklung des Sozialarbeitsberufs und eines ersten professionellen Methodeninventars (zu dem übrigens u.a. bereits Fallbesprechungen im Team gehörten).

In Deutschland war es Alice Salomon, Gründerin der ersten Ausbildungsstätten für Sozialarbeit, die mit ihrem Werk "Soziale Diagnose" (1926) diesen Impuls aufnahm und an die deutschen gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen anpasste. An dieser Stelle kommt man aber um eine kritische Anmerkung aus heutiger Sicht nicht herum. Den umfangreich ausgearbeiteten Anamnese- und Diagnoseprogrammen konnte weder von Mary Richmond noch von Alice Salomon ein ähnlich ausgearbeitetes und überzeugendes Handlungskonzept zur Seite gestellt werden. Im Gegensatz zur Medizin fehlte der Sozialarbeit das hilfreiche Konstrukt der "Krankheit", also relativ genau definierter Prozessbeschreibungen von Anormalitäten mit einer gewissen Eigengesetzlichkeit. Ja im Gegenteil scheinen solche Normalitäts-/Abweichungs-Konzepte im Bereich des Sozialen höchst fragwürdig und befördern das, was Sozialarbeit eigentlich abzubauen angetreten ist: Sozialen Ausschluss, Stigmatisierung. Das hat u.a. damit zu tun, dass die Materie, mit der sich Sozialarbeit beschäftigt, um eine Größenordnung komplexer ist als der Gegenstand der Medizin.

Die negativen Auswirkungen einer Konzentration auf Anamnese und Diagnose wurde in der bei den NutzerInnen berüchtigten klassischen Fürsorge sichtbar: Einer peniblen, manchmal investigatorischen, Ermittlungstätigkeit standen wenig präzise oder autoritäre Vorstellungen über Interventionsmöglichkeiten gegenüber. Die FürsorgerInnen waren gut trainierte Erhebungsbeamte, deren diesbezügliche Fertigkeiten auch für antisoziale politische Regimes gut brauchbar waren.

Case Work: Prozess- und Dialogorientierung

Der demokratische Impuls des Case Work, einer dialogisch (und vielfach auch tiefenpsychologisch) orientierten Schule der Sozialarbeit, bestand in einer radikalen Konzentration auf den Klienten als Subjekt, als denkenden, handelnden, eigenberechtigten Menschen und damit auf den Prozess der Zusammenarbeit, auf die Kooperation. Die Erhebungsarbeit wurde dadurch eher in den Hintergrund gedrängt. Kritik am Selektionsmechanismus der Diagnose und an einer Praxis der Kategorisierung statt des Verstehens veränderte den Charakter der Sozialarbeit.

Eine weitere Zuspitzung erfährt dieser Ansatz in der Dialogorientierung. Wie auf philosophischer Ebene Martin Buber ("Vom Ich zum Du") die Anerkennung des anderen als Nicht-Objekt fordert und begründet, bestreitet subjektorientierte Sozialarbeit die Sinnhaftigkeit der Diagnose als reine ExpertInnenleistung. Als gemeinsame Leistung von KlientIn und SozialarbeiterIn sei sie ein prinzipiell unabschließbarer Prozess, stets in Frage zu stellen, zu überprüfen, zu modifizieren. Mit Hilfe der Sozialarbeiterin lerne die Klientin ihre soziale Welt zu verstehen und erfolgreich zu begehen.

Case Management: Die Renaissance der Diagnose als Assessment

Erst im modernen Case-Management wird der Diagnose (neu verstanden) wieder verstärkte Aufmerksamkeit zuteil. Die klare Strukturierung des Prozesses in Assessment - Planung - Implementierung- Monitoring - Evaluation (Reassessment) ermöglicht es, die Diagnose wieder als relativ selbständige Phase des Prozesses zu verstehen. Dabei muss auf die kooperative Ausrichtung nicht verzichtet werden, ebensowenig auf das Verständnis der Diagnose als bloß vorläufiger, veränderbarer Einschätzung. Gleichzeitig wird aber konkret helfendes Handeln ermöglicht. es verwundert nicht, dass das Case-Management dort die stärkste Verbreitung fand, wo praktische Unterstützungsleistungen zu organisieren sind: in der Sozialarbeit mit alten und pflegebedürftigen Menschen, im Gesundheitswesen.

Was sind nun die wichtigsten Charakteristika des Assessments als "neues" Diagnoseverfahren?

Es ist kooperativ angelegt, also als Verhandlung mit den KlientInnen. Trotzdem werden Fremddaten beigezogen. Inhaltlich enthält es eine Bestandsaufnahme und Einschätzung der Problemdefinitionen relevanter problembeteiligter Personen und Institutionen, des Netzwerks und der Ressourcen:

Was kann in der Sozialarbeit diagnostiziert werden?

Wie bereits vorhin angedeutet sind die Vorstellungen von "Normalität" (Gesundheit) und "Problemen" (Krankheiten) in der Sozialarbeit keineswegs so klar und relativ abgrenzbar wie in der Medizin. Was können also die Bezugspunkte für eine diagnostische Herangehensweise sein?

Dimensionen der Sozialen Diagnose Wie kann diagnostiziert werden?

Wenn wir sinnvollerweise von einer dialogischen Orientierung der Sozialarbeit ausgehen, wird auch die Diagnose gemeinsam erstellt werden müssen. Anders gesagt: entscheidend ist nicht das Wissen des Sozialarbeiters / der Sozialarbeiterin über die KlientInnen, sondern das (ev. gemeinsam erarbeitete) anwendbare Wissen der KlientInnen über ihre Lebenssituation und ihre Handlungsmöglichkeiten. Der Prozess der Auseinandersetzung mit den KlientInnen ist also in einer ersten Phase ein kooperativer diagnostischer Prozess. Das Erlangen eines gemeinsamen Verständnisses der Situation bzw. zumindest einer Vereinbarung darüber, was von wem zu tun sei, ist Diagnose und gleichzeitig erste Phase einer konstruktiven Problembewältigung. Die Sozialarbeiterin bzw. der Sozialarbeiter ist also entlastet davon, ganz allein in seinem Kopf die vermeintlich einzig gültige Diagnose erstellen zu müssen. Angesichts der Komplexität der Lebenssituationen wäre dies ohnehin eine heillose Überforderung.

Unter Einbeziehung des Klienten, oft auch seiner "Important Others", sowie anderer bereits engagierter professioneller HelferInnen kann an einer Vereinbarung darüber, "was der Fall ist", gearbeitet werden. Die Leistung der SozialarbeiterInnen wird in drei Phasen erbracht: Eine explorative Bestandsaufnahme der vorhandenen Daten und deren Einschätzung durch die Betroffenen wird gefolgt von gezieltem Komplexitätsgewinn. Einschätzungen müssen in Frage gestellt, andere Optionen in Erwägung gezogen werden, Quellen werden kritisch gewürdigt und Widersprüche thematisiert. Schließlich muss aber in einer dritten Phase nun, da alles vielleicht nicht mehr so eindeutig zu sein scheint, Handlungsfähigkeit erreicht werden, indem mit den Betroffenen eine vorläufige Problembeschreibung und eine Rahmenplan für das künftige Handeln entwickelt wird.

Was ist der (Un-) Sinn einer Diagnose?

Eine Diagnose- oder Assessment-Phase als relativ selbständige Eingangsphase des Unterstützungsprozesses bringt einige Vorteile mit sich:

Mit ihr lässt sich vorerst einmal der Prozess zeitlich strukturieren. Die KlientInnen sollten wissen, wie lange diese Phase dauern wird und wann mit konkreten Entscheidungen oder Vereinbarungen über den weiteren Verlauf zu rechnen ist. So ist es möglich, dass die Kommunikation in der Eingangsphase entstresst wird - und zwar für beide beteiligten Seiten.

Eine gewisse Formalisierung des Abschlusses der Diagnosephase kann Problemeinschätzungen transparenter und damit auch verhandelbar machen. Die bewusste Beteiligung der KlientInnen und ihrer Important Others am Prozess lässt sich dadurch erhöhen. Allerdings sind auch die SozialarbeiterInnen zu größerer Offenheit gezwungen.

Die schriftlich festgehaltene Diagnose, die den KlientInnen grundsätzlich und nicht nur auf Verlangen zugänglich gemacht werden sollte, bedarf einer Überprüfung nach einem angemessenen Zeitraum. Die kritische Einschätzung der früheren Diagnose, der Maßnahmen und deren Wirkung ist ein evaluativer Vorgang, der zu Erkenntnisgewinn und zur Nachbesserung der Unterstützungsleistungen führen kann und soll.

Das Einhalten einer Diagnosephase und deren verbindlicher (vorläufiger) Abschluss mit einer schriftlichen Diagnose und einem Prozessplan erleichtert den Dialog mit anderen beteiligten HelferInnen. Die Vorläufigkeit der Sozialen Diagnose sollte dabei deren Bedeutung keineswegs schmälern. Im Gegenteil kann sie zentrale Hinweise für die Alltagsverträglichkeit von medizinischen und diversen therapeutischen Maßnahmen geben.

Grenzen

Gleichzeitig ist aber davor zu warnen, allzugroße Erwartungen in sozialarbeiterische Diagnosen zu setzen. Eine völlige Planbarkeit und Übersichtlichkeit des Prozesses muss aus strukturellen Gründen Illusion bleiben. Die Gründe dafür liegen in der Eigenart des Alltags, in der Conditio Humana:

Das Gelingen des Lebens der Betroffenen hängt u.a. von einer Reihe relativ unbeeinflussbarer und eigensinniger Faktoren und Prozesse ab, die unabhängig von den Bemühungen der KlientInnen und der SozialarbeiterInnen Eigendynamik entwickeln. Sie ändern sich, ohne dass man sie ändert oder sie bleiben konstant, obwohl man sie zu ändern versucht. Sie verstehen es, zu überraschen. "Richtige" Diagnosen können wirkungslos bleiben, "falsche" Diagnosen können günstige Wirkungen zeigen.

Die Unübersichtlichkeit der Situationen ist unüberwindbar. Es gibt immer mehr Einflussgrößen, als man berücksichtigen kann.

Menschliche und soziale Entwicklungen sind selten linear. Sie verlaufen auf Umwegen, mit Rückschlägen und Rückfällen, drehen sich mehrmals im Kreis, um dann doch voranzukommen. Sie können krisenhaft verlaufen und Probleme rasch zuspitzen oder neue Probleme ins Spiel bringen, die frühere Diagnosen belanglos erscheinen lassen.

Insgesamt lässt sich also sagen, dass Diagnosen gute Hilfsmittel für die Steuerung und Strukturierung des Unterstützungsprozesses sind, allerdings nicht mit der Realität verwechselt werden dürfen. Ihre notwendige Fehlerhaftigkeit sollte bewusst bleiben.

Hilfsmittel

Das Heranziehen geeigneter Diagnoseinstrumente kann die kooperative Diagnoseerstellung erheblich erleichtern. Beispielhaft seien hier einige der brauchbarsten Instrumente genannt:

Sie können an die jeweiligen bedürfnisse der Institution des speziellen Klientels angepasst erstellt werden. In der Phase der Datensammlung bieten sie mitunter eine Stütze für die systematische Strukturierung der Datenerhebung. Die sozialarbeiterische Kunst besteht allerdings im flexiblen Handhaben des Instruments: in der Fähigkeit, es auch beiseitezulegen, um freiere Gesprächs- und Erzählformen zuzulassen.

Eine systematische Erkundung und Diskussion der sozialen Netze, in die KlientInnen eingebunden sind, wird durch die gemeinsame Erstellung einer Netzwerkkarte, die die relevanten sozialen Kontakte in verschiedenen Sektoren (Familie, Beruf, Freunde, professionelle Helfer ...) visualisiert, wesentlich erleichtert.

Die individual- oder familiengeschichtliche Dimension der Lebenssituation der KlientInnen kann durch die Erstellung eines mehrdimensionalen Zeitbalkens (familiäre, Bildungs-, Wohn-, Behandlungs-Geschichte etc.) einer Bearbeitung im Gespräch zugänglich gemacht werden. Den KlientInnen hilft allein die Arbeit an dieser Form der Visualisierung durch die Ordnung der Erinnerungen, durch den Blick auf einen biografischen Zusammenhang.

Zusammenfassung

Ohne der Illusion zu verfallen, die soziale Diagnose könnte in ähnlicher Form für die Allgemeinheit ein Ausweis des ExpertInnentums der sozialarbeiterischen Profession sein, wie dies Diagnosen für die medizinische Profession sind, erscheint sie doch als wertvolles Hilfsmittel für die Soziale Arbeit. Ein für den Mobilen Beratungsdienst geeignetes Grundraster müsste allerdings erst erarbeitet und nach Erprobung justiert werden. Angesichts der zu erwartenden Vorteile scheint die Arbeit daran allerdings lohnend.