Peter Pantucek
Referat auf der Tagung ãStŸckzahlenÒ in der sozialen und pŠdagogischen Arbeit. QualitŠt versus QuantitŠt. Veranstaltet von der Gesellschaft Rettet das Kind. 13.11.2003, Eisenstadt.
Sehr
geehrte Damen und Herren,
liebe
Kolleginnen und Kollegen.
1547,
das war am Beginn der Neuzeit. Es scheint sich seither nicht viel verŠndert zu
haben. Das ZŠhlen und Messen galt damals schon als der Weg der Erkenntnis, und
heute ist es immer noch so. Der anonyme Autor dieses Spruchs, der sich auf
einem Haus in Eggenburg findet, war nicht sehr optimistisch Ÿber die
Mšglichkeit, der Weisheit Gottes nŠher zu kommen. Heute haben wir Menschen zwar
immer noch nicht die Sandkšrner und Regentropfen gezŠhlt, aber ob uns das
irgendeiner Weisheit nŠher bringen wŸrde, mag wohl bezweifelt werden. Leichter
ist es, die Zeit zu messen, Ÿber die Hšhe des Himmels gibt«s schon einigerma§en
profunde Vermutungen. Die Breite der Erde und die Tiefe der Wasser, das ist
lŠngst kein Problem mehr, die wissen wir (oder kšnnen sie zumindest in einem
Lexikon nachschlagen).
ˆ
Ungebrochen
ist der Glaube, wir verstŸnden die Welt besser, wenn wir sie in Zahlen ausdrŸcken
kšnnen. Der Zauber des Wissens umweht alles, was diese abstrakte Form annimmt.
Es scheint etwas Mystisches an sich zu haben, das ZŠhlen und Messen. Es scheint
eine Ersatzreligion zu sein, der man sich verschreiben kann. Kein Wunder, dass
die ZahlenglŠubigkeit auch mannigfacher Kritik ausgesetzt ist, durchaus
rationaler Kritik, aber nicht nur der.
Bedenklich
scheint mir etwa, wenn zahlreiche Bewerberinnen und Bewerber um einen
Studienplatz an einem Sozialarbeitsstudiengang stolz berichten, Mathematik sei
das einzige Fach gewesen, in dem sie im Gymnasium Schwierigkeiten gehabt
hŠtten. Als ob sie das fŸr Soziale Arbeit besonders qualifizieren wŸrde. Ich
gehe da gerne auf Distanz. Abstraktionsvermšgen und die in der Mathematik
geforderte Genauigkeit des Denkens sind meines Erachtens auch in der
Sozialarbeit keine Hindernisse fŸr gute Arbeit, ganz im Gegenteil.
TatsŠchlich
helfen Zahlen, unsere Vorstellungen konkreter zu machen. Es hat schon seinen
Sinn, wenn die Wissenschaften kategorisieren, messen und zŠhlen. Die
Treffsicherheit von Entscheidungen kann dadurch deutlich erhšht werden. Schauen
Sie sich doch diese Grafik an:
Ich
habe sie einem BŸchlein mit gro§em praktischen Nutzen entnommen. Es hei§t
ãTruppenvermessungsdienstÒ, dient also einem Handwerk, dem Kriegshandwerk in
diesem Fall. Auch dieses Handwerk benštigt Wissen Ÿber die Welt und hat
frŸhzeitig die Notwendigkeit des Messens und der Genauigkeit erkannt. Die
Artillerie kann erst treffen, wenn das Ziel genau erfasst ist. Und zur genauen
Erfassung ist Messen und Rechnen unabdingbar. Die Kriegskunst hat mit der
Sozialarbeit auch sonst einiges gemeinsam und steht vor Šhnlichen Problemen:
Auch sie hat es mit einem lebendigen GegenŸber zu tun, dessen Aktionen nicht
mit Sicherheit voraussehbar, ja oft Ÿberraschend sind. Das schafft mannigfache
Planungsprobleme.
Unser
heutiges Thema ist die Hoffnung, mit ZŠhlen und Messen zu Genauigkeit kommen zu
kšnnen, mit ZŠhlen die QualitŠt der Sozialen Arbeit feststellen zu kšnnen. Ich
werde mich mit Versuchen beschŠftigen, Sozialarbeit in Zahlen zu fassen. Zuerst
wird es um die Skalierung qualitativer Daten gehen, wie wir sie immer šfter in
Assessmentformularen finden. Dann beschŠftige ich mich mit mathematischen
Problemen der Wirkungsforschung, als Drittes mit den Versuchen zur Normierung
der Arbeitszeit, um schlie§lich auch noch den sinnvollen Einsatz des ZŠhlens
und Messens zu diskutieren.
Skalen
machten Karriere. Sie zwingen zur Verengung, zur Abbildung von Sachverhalten
auf einer Zahlenreihe. Damit verbindet sich die Hoffnung auf Vergleichbarkeit,
weil Zahlen als Zahlen eben vergleichbar sind. Sehr gerne werden die Skalen bei
Assessments eingesetzt Ð hier zeige ich Ihnen ein Beispiel aus der Arbeit mit
SuchtmittelabhŠngigen:
Zu
diesem System gibt es ein Handbuch. Assessment und Evaluation: 16 von 17
Seiten. Eigentliche Hilfe: eine halbe Seite. Und sagen Sie bitte nicht, das sei
nicht bedeutend. Nach den Kriterien der ZŠhlerinnen und ZŠhler ist so etwas
sehr bedeutend Ð und in diesem Fall schlie§e ich mich ihnen an. Die Autorinnen
sind stolz auf ihre Formulare, und die sind auch das wichtigste Instrument, um
die Kolleginnen an das neue Arbeitssystem zu gewšhnen.
Formulare
sind ein Zwangsinstrument. Sie zwingen dazu, auf eine bestimmte Art zu denken.
Sie machen ein Denken, das nicht in diese Formulare passt, im besten Fall zu
einem privaten Luxus, einem kontraproduktiven Luxus. Formulare sind ein
Instrument der BŸrokratisierung, und sie produzieren BŸrokratie und bŸrokratisches
Denken. Je strukturierter und detaillierter die Formulare sind, desto mehr
freuen sie die BŸrokratinnen und BŸrokraten. Und Formulare verleiten die
FachkrŠfte dazu, aus GrŸnden der Arbeitsškonomie so vorzugehen, wie das
Formular es vorgibt.
Die
Leitungsebene will damit etwas in den Griff bekommen, die will ihr Problem
lšsen. Ihr Problem ist, dass sie nicht wei§, was die MitarbeiterInnen tun. Das
ist nicht ihre Schuld, dieses Problem ist grundlegender Natur, und es ist
unlšsbar. Die Leitungsebene wird nachher nicht besser wissen, was die
MitarbeiterInnen tun, aber sie wird Ÿber das, was sie nicht kennt, mehr Daten
zur VerfŸgung haben. Es entsteht die Illusion der Kontrollierbarkeit, und doch
kann nur die Disziplin beim AusfŸllen der Formulare kontrolliert werden.
Mein
Vorschlag: FŸllen Sie diese Skala fŸr sich selbst aus. Vielleicht haben Sie das
ja auch schon in Gedanken getan. Sind Sie eine Null in allen diesen Bereichen?
Gratuliere!
Ein
deutscher Kollege beschreibt einen 13-jŠhrigen Buben, nun in einer
Wohngemeinschaft lebend. Er wird gefragt, wie sein VerhŠltnis zu seinem Vater
ist, zu seiner Mutter, zu seinem Stiefvater, zu seiner Schwester, wie es ihm in
der Schule geht und so weiter. Er antwortet auf alles: ãgeht soÒ. Das ãgeht soÒ
scheint eine konsequente Verweigerung. Er verweigert eine EinschŠtzung, eine
Skalierung. Er kšnnte auch sagen: Es IST wie es IST. Wie wir durch Erich Frieds
berŸhmtes Gedicht wissen, ist das der Satz der Liebe.
Die
Skalen sagen: Es IST nicht so, wie es sein SOLL. Sie konstruieren ein
VerŠnderungsprogramm, und sie laden es dem Klienten auf, legen es ihm vor. Und,
nicht zu unterschŠtzen, sie legen es auch der Sozialarbeit vor. Der konkrete
VerŠnderungswunsch der KlientInnen, der am Anfang des Prozesses steht, droht
entwertet zu werden durch die Gesamtschau. Der Bub mit seinem ãgehtsoÒ
verweigerte dieses VerŠnderungsprogramm, zumindest vorerst. Er bestand darauf,
seine WŸnsche selbst zu formulieren, und sich auch nicht vorgeben zu lassen,
dass seine WŸnsche auf die Beziehung zu seinem Vater bezogen sein mŸssen. Er
verteidigte seine Autonomie, die Autonomie seines WŸnschens.
Ich
mšchte noch einmal auf die Problematik der Bezugsnorm zurŸckkommen:
defizitorientierte Skalierungen beziehen sich explizit oder implizit auf eine
Norm, auf ein SOLL. Die Existenz und die Berechtigung einer generell gŸltigen
Norm des guten Lebens muss aber ernsthaft bezweifelt werden.
Lucien
Sve, marxistischer Sozialpsychologe in den 1970er-Jahren, sprach von
ãIndividualitŠtsformenÒ. Er meinte damit, dass unsere Gesellschaft ein Set von
Bedingungen zur VerfŸgung stellt, unter denen Leben gelebt werden kšnnen. In
Grenzen sind diese Formen wŠhlbar. Man kann sich in einem Leben als
Kleinkrimineller einrichten, hat dann allerdings auch typische Mšglichkeiten
und Schwierigkeiten zu gewŠrtigen, die ein Leben als Kleinkrimineller eben mit
sich bringt. Teils ist es Schicksal, teils ist es Wahl was jeden Menschen an
eine bestimmte Position der Gesellschaft bringt. Ohne Bezug auf diese Position,
ohne BerŸcksichtigung des subjektiven Anteils von Wahl geraten Skalierungen wie
die obigen zu einer Hitparade einer fragwŸrdigen Fitness. Den KlientInnen wird
ein Programm der Perfektionierung vorgelegt, das fŸr sie illusorisch ist. Sie
sollen einen Lebensplan entwickeln. Was diese Skalen sichtbar machen, sind
Defizite, immer nur Defizite.
Johnnie
Cash singt in seinem Song ãCountry TrashÒ von einem SŸdstaaten-Landarbeiter. Es
ist wahrlich kein prŠchtiges Leben, das er da besingt. Ein grobes Leben, an dem
viel auszusetzen wŠre. Aber: ãI«m doin« alright for country trashÒ. In der
letzten Strophe singt er: ãGod«s got a heaven for country trashÒ. Ein schšnes
Lied, vor allem wegen dieser Vorstellung von Himmel. FŸr Menschen wie ihn
gelten andere Kriterien, und er wird wohl auch anders belohnt als die anderen.
Wahrscheinlich hat er nirgends eine Null. Er hat ein Recht darauf, dass wir ihn
in Ruhe lassen, und dass er sein Leben als hart, aber richtig versteht.
Die
Erfassung komplexer qualitativer Daten durch einen Zahlenausdruck hat den
Vorteil der Verdichtung. Wenn ich einen Klienten ersuche, sein VerhŠltnis zu
seinen Eltern auf einer Skala zwischen 1 und 10 zu verorten, wobei 1
katastrophal und 10 prŠchtig sein soll, so wird er die Kontaktfrequenz, die
HŠufigkeit und IntensitŠt von Streits, das Ausma§ an erfahrener Liebe, an
UnterstŸtzung, seine GefŸhle beim Gedanken an seine Eltern Ÿberlegen, wird mit
frŸheren Phasen dieser Beziehung vergleichen und mit anderen ihm bekannten
Eltern-Kind-Beziehungen, mit seinen Vorstellungen von einer guten
Eltern-Kind-Beziehung und seinen WŸnschen an seine Eltern. All das wird er
einflie§en lassen in seine Entscheidung. Sagen wird er: 5. In diese
Entscheidung gingen all die ambivalenten GefŸhle ein, die wir normalerweise
unseren Eltern gegenŸber haben. Im Beratungsprozess kann so eine Verdichtung
sinnvoll sein, wir kennen die Skalierung als ein Mittel, um die Gedanken zu
strukturieren und zu fokussieren. Wir kšnnten zum Beispiel dann den Klienten
auffordern, sich zu Ÿberlegen, wie er auf einen Wert von 7 kommen kšnnte. Was
mŸsste er dafŸr tun? Er wird auf die †berlegungen zurŸckgreifen, die er vorher
angestellt hat. Er hat sie ja noch zur Hand, sie sind nicht verschwunden.
Betrachten
wir allerdings diese Zahl 5 von au§en, wissen wir nicht, welche †berlegungen
und Informationen in sie eingeflossen sind, kšnnen wir die auch nicht wieder
herausholen. Die 5 sagt fast nichts. All die Ambivalenzen sind verschwunden,
die vorher im Kopf des Klienten waren. Vor allem aber ist festzuhalten, dass
sich dieser Wert nicht mit den Werten vergleichen lŠsst, die von anderen
Klientinnen und Klienten gewŠhlt wurden. Er ist kein Ma§. Er ist ein
qualitatives Datum, ein Symbol fŸr ein BŸndel an Erfahrungen, GefŸhlen und
WŸnschen, und dieses Symbol kann nur entziffern, wer es selbst
niedergeschrieben hat.
Raster
und Zahlen suggerieren Wissenschaftlichkeit, dabei sind sie oft nur BŸrokratie.
Der Unterschied zwischen Wissenschaft und BŸrokratie kšnnte grš§er nicht sein.
Wissenschaft versucht Neues zu entdecken, BŸrokratie versucht alles, auch das
Neue, in eine standardisierte Form zu bringen, in die des Akts.
Robert
Castel beschreibt eine Entwicklung im Gesundheits- und Sozialwesen, die er als
Entmachtung der Expertinnen und Experten durch die Verwaltung sieht. Das Mittel
dieser Entmachtung ist die durch die Computerisierung mšglich gewordene
gigantische AnhŠufung von Daten und deren leicht gewordene Auswertung. Der
Fokus der Aufmerksamkeit liegt nicht mehr auf der Krankheit, auf dem gesetzten
Delikt, auf dem Problem. Was fŸr die Verwaltung interessant ist, ist die
Identifizierung von Risikofaktoren und Risikogruppen. Eine umfassende Ideologie
der Vorsorge ermšglicht die Zuweisung von Personen zu Programmen auf Basis
bestimmter Daten. Sie mŸssen nicht wirklich manifest krank, delinquent, in
einer schwierigen Lebenssituation sein, sondern es reicht, dass sie aufgrund
der Daten Ÿber ihre LebensumstŠnde, ihre Kšrper etc. einer Gruppe zugeordnet
werden kšnnen, der man eine erhšhte AnfŠlligkeit fŸr Krankheit usw. nachsagen
kann. Um diese Zuordnung zu treffen, muss man mit der Person keinen Kontakt
mehr aufnehmen. Die Zuordnung kann automatisch aufgrund eines Datensatzes
geschehen, ist automatisierbar.
Darin
liegt auch die Entmachtung des Experten, und sie reicht Ÿber die VorsorgekalkŸle
hinaus. Standardisierte Diagnostik macht den personalisierten Kontakt der
€rztin zur Patientin ŸberflŸssig. Entscheidungen Ÿber den Einsatz von
Heilmethoden kšnnen allein aufgrund der Aktenlage getroffen werden, werden also
zu Verwaltungsentscheidungen. Und die Verwaltung muss nicht mehr
personenbezogen entscheiden, sondern entscheidet Ÿber Zahlenplantagen. Zum
Beispiel kann entschieden werden, dass ein bestimmtes Medikament erst ab einem
Cholesterinspiegel von X eingesetzt werden darf, ab einem Cholesterinspiegel
von X+20 eingesetzt werden muss. In diesem Beispiel bleibt dem Arzt noch ein
kleiner Entscheidungsspielraum, doch auch der kšnnte eliminiert werden. Sie
sehen, worauf das hinauslŠuft: Der Arzt wird zum Sammler von Daten, die in ein
automatisiertes und von der Verwaltung kalibriertes Entscheidungssystem
eingegeben werden. Er fŸhrt dann ein standardisiertes Behandlungsprogramm durch
Ð wird zum subalternen Mitarbeiter, weitgehend machtlos und stark eingeschrŠnkt
in seinen Mšglichkeiten, personenbezogen Entscheidungen zu treffen. Die
Patientinnen und Patienten stehen keinem verantwortlichen Menschen mehr
gegenŸber, sondern einem ausfŸhrenden Organ. Sie haben keinen Adressaten mehr
fŸr ihre EinwŠnde, WŸnsche. Und ihre eigene Wahrnehmung ihres Kšrpers, ihrer
Gesundheit wird nur mehr im engen Rahmen des Datenerhebungssystems zugelassen.
Tendenziell
wŸnscht die Verwaltung die Eliminierung des Einzelfalles, der immer komplex,
Ÿberraschend ist und sich strikter Planung und Standardisierung entzieht. Im
Gesundheitssystem entspricht diese Tendenz der Utopie planbarer Kosten und
einer total verwaltbaren Gesellschaft. Die Kontrolle Ÿber die Gesellschaft muss
nicht mehr personalisiert ausgeŸbt werden, sondern kann Ÿber die Steuerung von
Parametern der datenbasierten Entscheidungen geschehen.
Von
der Realisierung einer solchen Utopie sind wir im System der Jugendwohlfahrt
noch weit entfernt. Hier steuern Verwaltungen noch recht grob Ÿber die
Zuteilung von Budgets. Die Entscheidungen zum Beispiel Ÿber
Fremdunterbringungen sind noch wenig normiert und die Entscheidungsparameter
sind noch zu schwierig in Zahlen zu fassen, um eine standardisierte Diagnostik
und eine automatisierte Entscheidungsproduktion einzufŸhren. Au§erdem ist die
Jugendwohlfahrt technologisch um Welten hinter dem Gesundheitssystem zurŸck.
Aber der Wunsch nach sogenannten gesicherten Daten Ÿber die Prognose bei
verschiedenen Ma§nahmen ist schon zu vernehmen.
Dagegen
ist vorerst nichts zu sagen. TatsŠchlich wŠre es erfreulich, wenn wir genauer
wŸssten, was aus den Familien, den Kindern und Jugendlichen wird, die von der
sozialpŠdagogischen Familienhilfe, in Heimen und Wohngemeinschaften betreut,
von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern beraten werden.
Die
Wirksamkeit von speziellen Ma§nahmen Ÿber die klassischen Formen der
Wirkungsforschung zu erfassen und daraus RŸckschlŸsse auf die beste
Vorgangsweise im aktuell vorliegenden Einzelfall zu ziehen, stš§t allerdings
nicht nur auf ethisch-moralische, sondern auch auf mathematische
Schwierigkeiten ungeahnten Ausma§es.
Bitte
folgen Sie mir auf einen kurzen Ausflug in die Welt der Variablen, also der
Bedingungen, die ein Ergebnis beeinflussen. Rudolf Sponsel hat das fŸr die
Psychotherapieforschung argumentiert, ich wandle seine Argumentation nur leicht
ab fŸr unsere Arbeitsfelder. In den Betreuungsprozess spielen viele Faktoren
hinein. Selbst wenn man nur wenig differenziert, nur oberflŠchlich hinsieht,
verfŠllt man in das, was er ãdie kombinatorische Explosion der
Variablenvielfalt in der wirklichen WeltÒ nennt. Die wenigsten zu
berŸcksichtigenden Variablenklassen bei der Beurteilung eines
Betreuungsergebnissen seien folgende:
1. Kontext sozial und situativ
2. KlientIn
3. Probleme
4. Angewandte Methoden
5. technische Realisation der Methoden
6. AnwenderIn
7. Kriterien, nach denen der Erfolg beurteilt wird
8. BeurteilerInnen-Quellen
9. Evaluationsmethoden
10. X (sonstige EinflŸsse)
Schon
wenn wir je Klasse nur 3 Variablen berŸcksichtigen (zum Beispiel beim Punkt 1
Kontext sozial und situativ die Familiengrš§e, die Schichtzugehšrigkeit und die
QualitŠt des sozialen Netzes) Ð und Sie wissen dass das eher lŠcherlich wenig
wŠre Ð kommen wir auf 59.049 mšgliche Kombinationen. Etwas realistischer, aber
immer noch nicht differenziert genug gedacht, kšnnten wir je Klasse 10
Variablen berŸcksichtigen. Das wŠren dann 10 hoch 10, also 10 Milliarden
Kombinationen. Nun scheint klar zu sein, was mit Explosion der
Variablenvielfalt gemeint ist. Es ist všllig illusorisch, auf diesem
klassischen Weg eine Wirkungsforschung zu betreiben, die relevante Ergebnisse
fŸr fallbezogene Entscheidungen bringen kšnnte.
NatŸrlich
gibt es Wege, zu hilfreichen wissenschaftlichen Aussagen Ÿber
erfolgversprechende und weniger erfolgversprechende Strategien der Betreuung
und Beratung zu kommen. Die wissenschaftlichen Verfahren mŸssen aber den
Eigenarten des Prozesses entsprechen. Man nennt das die
Gegenstandsangemessenheit von Untersuchungsverfahren. Die Eigenarten von
UnterstŸtzungsprozessen sind in der Literatur zur Sozialen Arbeit hinreichend
beschrieben. Eine dieser Eigenarten ist die Absenz von so etwas wie
ãKrankheitÒ, von einem abgrenzbaren und identifizierbaren ãGegnerÒ, der
bekŠmpft werden kšnnte, den man gut kennenlernen und gegen den man Strategien
entwickeln kšnnte. Ich behaupte, dass es nicht Aufgabe der Sozialen Arbeit ist,
Gegner wie ãObdachlosigkeitÒ zu bekŠmpfen, sondern das ist Aufgabe der Politik
und von Sozialprogrammen.
Die
professionelle Kernkompetenz von Sozialer Arbeit, also von Sozialarbeit und
SozialpŠdagogik, ist die hochindividualisierte Behandlung des Falles bzw. jener
FŠlle, bei denen standardisierte Sozialprogramme eben nicht greifen. Die
Bearbeitung jener Aspekte und Probleme, die nicht standardisierbar sind, und
der Probleme, die erst durch die Standardisierung entstehen.
DafŸr
hat sie eine Technologie der Individualisierung entwickelt, eine Konzentration
auf den Prozess der Bearbeitung, auf die Beziehung, das GesprŠch, auf den
Anschluss an die subjektiven EinschŠtzungen und GefŸhle der Klienten. Alles,
was ihr helfen soll, diese Arbeit besser zu machen, muss bezogen auf diesen
Prozess sinnvoll, muss an den Prozess anschlussfŠhig sein. Es darf den Prozess
grob strukturieren, ihm aber nicht die FlexibilitŠt nehmen, muss Umwege
erlauben. Das Begehen dieser Umwege ist kein Zeichen des Misserfolgs, sondern
des notwendigen und manchmal aufwŠndigen Suchens nach mšglichen Wegen des
Erfolgs.
Wir
erleben heute die paradoxe Situation, dass manche der gro§en Arbeitgeber
Sozialer Arbeit den Traum der Standardisierung trŠumen und ihn durchzusetzen
versuchen. Dieser Versuch ist geeignet, die Kernkompetenz der Sozialen Arbeit
zu zerstšren, die Individualisierung. Sie betrachten das, was die Soziale
Arbeit an professionellem Wissen in den letzten hundert Jahren erarbeitet hat,
als Irrweg.
Wir
kommen nun zur zweiten gelŠufigen Form, in der Quantifizierung versucht wird.
Es begann 1983 noch mit einem unschuldigen BŸchlein von Ruth Brack Ÿber die
Arbeitspensen in der Sozialarbeit. Richtzahlen fŸr den Anteil an unmittelbarer
KlientInnenarbeit, mittelbarer Fallarbeit, organisationsbezogener und
reflektierend genutzter Arbeitszeit wurden hier entwickelt. So weit ist das
noch sinnvoll und nachvollziehbar. Wenn die FachkrŠfte mit 50%
organisationsbezogener und administrativer Arbeit belastet sind, scheint
wirklich eine €nderung der Arbeitsverteilung anzustehen.
Inzwischen
laufen aber Vorarbeiten ganz anderer Art. Es werden sogenannte
Produktbeschreibungen verfasst. Die Tendenz der Entwicklung kšnnen wir dort
beobachten, wo die BemŸhungen schon weiter gediehen sind. Das abschreckende
Beispiel liefern hier die Pflegedienste. Bernhard Haupert hat bei einer Tagung
in Innsbruck skizziert, worauf die Versuche einer differenzierten
Leistungsverrechnung hinauslaufen:
ãIn
der Pflege werden fŸr einzelne ãLeistungskomplexeÓ Punktzahlen vergeben, deren
Sinn alleine darin zu sehen ist, die bŸrokratisch-finanzielle Abwicklung a) zu
gewŠhrleisten und b) zu standardisieren. und dies c) immer zu Lasten des
PflegebedŸrftigen. So beinhaltet die ãKleine Morgen-/Abendtoilette IÓ in der
ãGrundpflegeÓ z.B. auch das ãTeilwaschenÓ (Empfehlungen 1996, S. 3), jedoch
nicht den ãdamit verbundenen Gang zur Toilette einschlie§lich der ggf.
notwendigen UnterstŸtzung bei der physiologischen Blasen- und DarmentleerungÓ.
Letztere kšnnen nicht ãgesondert abgerechnet werdenÓ (ebd.). FŸr die gesamte
ãToiletteÓ kšnnen maximal 180 Punkte vergeben werden.
Den
Verfechtern dieser Pseudo-Effizienzsteigerungsverfahren unterlaufen mehrere
IrrtŸmer, denn durch die EinfŸhrung von škonomischen Kontrollstrategien wird in
Wahrheit ja nicht die Effizienz der sog. ãDienstleistungÓ gesteigert, sondern
lediglich die Mšglichkeit letztere nach bŸrokratischen, d.h. im vorliegenden Fall
nach mathematischen Kriterien, zu ŸberprŸfen.Ò
Hier
wird versucht, eine atomisiert betrachtete Leistung, das was tatsŠchlich noch
gemessen werden kann, als die eigentliche Arbeit zu verstehen. Bei
professionalisierten Leistungen ist das absurd. Ihre QualitŠt besteht vielfach
darin, solche Leistungen nicht erbringen zu mŸssen. Zum Beispiel wŸrde die
professionelle QualitŠt der Arbeit der Pflegerin im Fall A dadurch gesteigert,
dass sie den Klienten dazu bringt, manche der Verrichtungen selbst durchzufŸhren.
Im Fall B wŠre hingegen die Begleitung beim Gang zur Toilette erforderlich.
Der
Versuch der verspŠteten Taylorisierung sozialer Dienstleistungen fŸhrt nicht
nur zu einer Entprofessionalisierung des Bereichs Ð viel schlimmer: Er fŸhrt zu
einer Entmenschlichung. Er sichert nicht QualitŠt, wie von den Propagandisten
der Standardisierung vorgegeben wird, sondern er vernichtet QualitŠt in gro§em
Ma§stab.
Es
gibt Fragestellungen, bei denen uns Zahlen sehr hilfreich sein kšnnen, ja wo
wir ohne sie nicht auskommen. Derzeit arbeite ich mit einem Team an der
Evaluation von Beratungsstellen. Wir sind geradezu hungrig nach Zahlen, und
nerven die Kolleginnen mit unseren Nachfragen nach ihren Aufzeichnungen. Was wollen
wir wissen? Wo bilden Zahlen tatsŠchliche VerhŠltnisse objektiv ab?
Da
sind zum Beispiel die KlientInnenzahlen, der sogenannte ãCaseloadÒ. Als
Kennzahl fŸr das Arbeitsausma§ viel geschmŠht, aber immer noch unersetzbar. Was
an der Fallzahl als Ma§zahl fŸr Arbeitsbelastung kritisiert wird, ist
gleichzeitig die StŠrke dieses Ma§es. Alle wissen, dass der Arbeitsanfall je
Fall extrem unterschiedlich sein kann. Alle wissen aber auch, dass sich bei
einer grš§eren Zahl von FŠllen die durchschnittliche Arbeitsbelastung auf einen
Mittelwert einpendelt. Das ergibt Gestaltungsmšglichkeiten fŸr die FachkrŠfte,
und ermšglicht doch eine Aufteilung der FŠlle, die nicht ausschlie§lich auf die
von den FachkrŠften behauptete Belastung angewiesen ist. Der ãCaseloadÒ ist konkret
und gleichzeitig unbestimmt. Als Zahl unumstš§lich und objektiv, aber offen fŸr
Verhandlungen, was diese Zahlen bedeuten.
Diese
Charakteristik finden wir bei vielen Kennzahlen, die in der Sozialen Arbeit
sinnvoll erhoben werden kšnnen.
Bei
unserem Evaluationsprojekt wollen wir u.a. wissen, woher die KlientInnen
kommen. Erreichen die Beratungsstellen wirklich die Zielgruppe, fŸr deren
Versorgung sie finanziert werden?
Es
interessieren uns die Eckdaten des Beratungsprozesses: Wie hŠufig sind die Sitzungen
mit den KlientInnen, kontaktieren sie die Sozialarbeiterinnen oder die €rzte
und €rztinnen? Werden die Klientinnen weiterverwiesen und landen sie dann auch
dort, wohin sie geschickt wurden?
All
diese zu erhebenden Zahlen haben den Vorteil, dass sie weitgehend objektiv
sind, und dass sie ihre Bedeutung in Verbindung mit einer Betrachtung des
Falles und des Prozesses erhalten. Sie geben nicht vor, den Prozess
determinieren zu kšnnen.
Diese
Zahlen sind bescheiden, und trotzdem kšnnen sie ziemlich lŠstig sein. Ich mag
solche Zahlen.
Wenn
wir das ZŠhlbare zŠhlen, dann ist das ein RealitŠtstest fŸr die Selbstbilder
der Akteure.
Ich
erinnere mich zum Beispiel an eine einfache ZŠhlung, die ich vor langer Zeit in
dem Jugendamt machte, in dem ich arbeitete. Ich habe alle BeratungsgesprŠche,
auch die kurzen beim Journaldienst, auch die telefonischen, gezŠhlt, und die
Namen der KlientInnen aufgeschrieben. So konnten wir feststellen, mit wem wie
oft gesprochen wurde.
Das
Ÿberraschende Ergebnis war, dass von 100 Personen, die sich an das Jugendamt
wendeten, nur 3 in einen Beratungsprozess eingebunden wurden, der lŠnger als 3
GesprŠche dauerte. Unsere Schlussfolgerung: Die Breitenwirkung erhŠlt das
Jugendamt durch die Kurzberatungen. Wenn wir denen mehr Aufmerksamkeit widmen
und sie professionell gestalten, kšnnen wir gro§e Wirkung entfalten.
†berraschend waren diese Zahlen, weil die wenigen sehr aufwŠndigen FŠlle das
Bild, das wir von unserer Arbeit hatten, viel stŠrker prŠgten. Der gut
gepflegte Mythos, wir hŠtten immer erst viel zu spŠt mit den FŠllen zu tun,
lie§ sich nicht mehr aufrecht erhalten. Erst in Konfrontation mit diesen Zahlen
lernten wir, den Kurzberatungen als prŠventiven Interventionen mehr Sorgfalt zu
widmen.
Ich
habe mich in diesem Referat zuerst mit der Faszination von Zahlen beschŠftigt,
um dann auf verschiedene Arten quantitativer Herangehensweisen an Soziale
Arbeit einzugehen. AusfŸhrlich beschŠftigte ich mich mit den
Skalierungsmodellen in Assessment und Diagnostik. Naive Wirkungsforschung war
ein Thema. Dann bin ich auf die Versuche zur Taylorisierung sozialer
Dienstleistungen eingegangen, um abschlie§end noch die segensreichen Potenziale
eines intelligenten und bescheidenen ZŠhlens und Messens anzudeuten.
Sie
werden bemerkt haben, dass es vor allem die Mythologisierung des ZŠhlbaren ist,
die ich zu bekŠmpfen versuche. Wichtiger als die Zahlen sind immer noch die
Fragen, was ich da eigentlich messe und zŠhle, und ob das wichtig ist, was
gezŠhlt wird. Das sind Fragestellungen au§erhalb der Mathematik, auch wenn die
Mathematik selbst manchmal die Grenzen aufzeigt, wie wir am Beispiel der
kombinatorischen Variablenexplosion gesehen haben. Anders gesagt: Was zŠhlbar
ist, ist nicht immer wichtig, und was wichtig ist, ist nicht immer zŠhlbar.
Soziale
Arbeit ist allerdings eine Profession, die auf Genauigkeit angewiesen ist. Auf
jene Genauigkeit, die erst mšglich wird durch die besondere QualitŠt der
menschlichen Sprache. Die Sprache kann gerade dadurch genau sein, dass ihre
zentralen Elemente, die Begriffe, nicht so genau sind. Linguisten sagen, dass
diese tendenzielle Vieldeutigkeit der Sprache sie offen macht fŸr das Erfassen
von Neuem. Es macht sie zu einem universell anwendbaren Zeichensystem. Soziale
Arbeit nutzt die Sprache im Arbeitsprozess und in der Reflexion. Sie ist eine
Profession des Dialogs. Sie entzieht sich der Taylorisierung, und sie wird sich
der Normierung entziehen. Gerade dadurch behŠlt sie ihre Faszination Ð und
sichert ihre QualitŠt.
Herzlichen
Dank fŸr Ihre Aufmerksamkeit.
Literatur
Brack, Ruth (1994): Das Arbeitspensum in der Sozialarbeit. Ein
Beitrag zur KlŠrung der Arbeitsbelastung. Bern. (Erstauflage 1983)
Castel, Robert (2001): Von der GefŠhrlichkeit zum Risiko. Auf dem
Weg in eine post-disziplinŠre Ordnung?. In: episteme. Online-Magazin fŸr
Philosophie und Praxis: http://www.episteme.de/htmls/Castel.html
Haupert, Bernhard (2002): Soziale Arbeit zwischen Dienstleistung
und Profession Ð Mensch und Kunde, Markt und Moral. In: Vortrag auf der
Bundestagung diplomierter SozialarbeiterInnen, 16. Oktober 2002 in Innsbruck:
Manuskript.
Larmore, Charles (2002): Der Begriff des Lebensplans. In: Neue
Rundschau 113. S. 41-61.
Sponsel, Rudolf (1999): Psychotherapieforschung, Evaluation und
QualitŠtssicherung in der GIPT-Praxis. In: Petzold, H. / MŠrtens, M. (Hg.):
Wege zu effektiven Psychotherapien Bd. 1. Paderborn.