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Illusion Resozialisierung? - Ethos und Organisation

Ethos und Organisation

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Vielleicht kennen auch Sie solche Kolleginnen und Kollegen, die die Welt nicht in Frage stellen. Die sind scheinbar eins mit der Organisation, in der sie arbeiten, beschäftigen sich sehr gerne mit Fragen der Zuständigkeit, wobei sie charakteristischerweise dazu neigen, sich nicht zuständig zu fühlen. Die Normen der Organisation sind ihre eigenen, außer sie sind zu anstrengend. Das Eigene, das leben sie in ihrem Privatleben aus. Naja, meinen sie halt. Aber über das Privatleben wollen wir hier ja nicht sprechen, sondern über das berufliche Leben, darüber, wie man in unserem Beruf mit sich selbst eins sein kann.

Vorweg: Es gelingt nicht dadurch, dass man den Widersprüchen unserer beruflichen Rolle aus dem Weg geht, nicht dadurch, dass man seine professionelle Rolle reduziert. Wenn wir unsere professionelle Rolle ausfüllen, das heißt auch, sie zu einer existenziell befriedigenden ausgestalten wollen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als mit Widersprüchen zu leben. Und der allererste, der für die professionelle Rolle konstituierende Widerspruch, das ist unsere doppelte Verpflichtung. Und jetzt kommt nicht, wie Sie vielleicht erwarten mögen, das bekannte sogenannte doppelte Mandat. Nicht die Verpflichtung den KlientInnen einerseits und dem Staat, der Gesellschaft gegenüber.

Ich meine eine andere doppelte Verpflichtung:

Wir sind unserer Profession verpflichtet: Über unsere Entscheidung für dieses Studium, für diese Praxisgemeinschaft der Profis in der Sozialen Arbeit. Das hat etwas mit unserer selbstgebastelten Identität zu tun, ist eine Entscheidung, hier dazuzugehören. Eine Entscheidung, die wir mit der Wahl des Studiums getroffen haben, die wir mit unserem Berufseintritt bekräftigt haben und die uns begleitet, ob wir wollen oder nicht. Denn sobald wir jemandem erzählen, was wir so tun, sind wir konfrontiert mit all den Zuschreibungen und den Erwartungen, die so an VertreterInnen unserer Profession gerichtet sind. Sozialarbeiterin, Sozialpädagoge ist man nicht einfach so wie man Briefträgerin ist. Wegen der Zuschreibungen, wegen dem, wofür wir stehen, ob wir nun dafür stehen wollen oder nicht, müssen wir uns in unserer Identitätsbildung mit unserer professionellen Existenz auseinandersetzen, es sei denn, wir verheimlichen sie, auch das soll es geben.

Den deutlichsten Ausdruck findet diese professionelle Identität im beruflichen Habitus. Der wird ja oft karikiert. In einem frühen Tocotronic-Song ist dieser Habitus gut dargestellt. Im Refrain heißt es da, die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit. Da schwingt schon jene Enttäuschung mit, die auch aus Ihren Fragen für diesen Fachtag spricht.

Das Berufsethos ist ein zweites Merkmal der professionellen Identität. Ethos, das klingt wie Pathos. Und tatsächlich hat das berufliche Ethos von Professionen stets etwas – nein, nix pathologisches – aber etwas pathetisches an sich. Das ist ein Bekenntnis, eine feierliche Verpflichtung. In der Sozialen Arbeit wird sie nicht zelebriert, gibt es kein Ritual, in dem man irgendwelche heiligen Verpflichtungen eingeht. Das würde auch nicht wirklich helfen. Was es gibt, ist das Berufsethos, das Teil des beruflichen Habitus ist. Und wenn Sie eine pathetische Formulierung dafür suchen, dann finden Sie sie in der Präambel zum Code of Ethics der amerikanischen National Association of Social Workers:

"The primary mission of the social work profession is to enhance human well-being and help meet the basic human needs of all people, with particular attention to the needs and empowerment of people who are vulnerable, oppressed, and living in poverty. A historic and defining feature of social work is the profession's focus on individual well-being in a social context and the well-being of society. Fundamental to social work is attention to the environmental forces that create, contribute to, and address problems in living.
Social workers promote social justice and social change with and on behalf of clients. "Clients" is used inclusively to refer to individuals, families, groups, organizations, and communities. Social workers are sensitive to cultural and ethnic diversity and strive to end discrimination, oppression, poverty, and other forms of social injustice. These activities may be in the form of direct practice, community organizing, supervision, consultation, administration, advocacy, social and political action, policy development and implementation, education, and research and evaluation.
Social workers seek to enhance the capacity of people to address their own needs. Social workers also seek to promote the responsiveness of organizations, communities, and other social institutions to individuals' needs and social problems."

Ich halte diese Formulierung der Mission der Sozialarbeit bei all ihrem leichten Hang zum Großsprecherischen immer noch für die präziseste am Markt.

Das ist die eine Seite des Widerspruchs. Die andere Seite, das ist die Organisation, für die wir arbeiten, das ist das gesellschaftliche Programm, das die Rahmenbedingungen unserer Arbeit definiert. Das gesellschaftliche Programm – ich habe darüber im ersten Referat gesprochen – das ist das Set an Maßnahmen, mit denen die Politik auf soziale Probleme reagiert. Diese Programme sind meist eine Kombination aus politischen, juridischen, ökonomischen und „weichen“ beraterischen Maßnahmen. Im Rahmen solcher Programme lukrieren die Trägerorganisationen der Sozialen Arbeit ihre Mittel. Diese zweite Seite liegt nicht völlig quer zur Professionalität, aber hier findet sich immer schon alles vorinterpretiert. Vorinterpretiert von der Politik, die die Programme beschlossen, die Mittel zugeteilt und damit auch beschränkt hat, die einen Auftrag formuliert hat. Vorinterpretiert von der Organisation, die pragmatisch auf die Bedürfnisse der Geldgeber reagiert, die administrative Erfordernisse hinzufügt, ihre eigene Geschichte, Spezialinteressen. Und als Organisation will sie auch immer ihr eigenes Funktionieren sichern. Organisationen neigen zur Schematisierung von Abläufen, zu Herstellung vermeintlicher Übersichtlichkeit und Planbarkeit. Für Organisationen ist der Einzelfall wie für staatliche Programme nicht als Einzelfall interessant, sondern als gewöhnlicher Fall.

Das berufliche Ethos ist auf den Einzelfall ausgerichtet, dem mit den Mitteln der Sozialarbeit gerecht zu werden ist. Aus der Sicht der Profession interessiert die Organisation als Instrument. Ein Instrument, das den einzelnen Profis soziales, symbolisches Kapital und Kapital im engeren Sinne, also materielle Mittel zur Verfügung stellt. Ohne die Organisation geht nichts, aber nur nach den Vorgaben der Organisation geht es auch nicht, zumindest nicht gut.

Es ist ein Balancieren erforderlich, will man gute professionelle Arbeit machen. Mit der Organisation, aber immer wieder in Distanz zu ihr, das eigene Berufsethos auf den Fall anwendend, im Fall ausbuchstabierend, was das denn da eigentlich heißen soll: die „human needs“, das „individual well-being in a social context“, und dazu noch das „well-being of society“.

Ich mag diesen Begriff des „well-being in a social context“, weil er so unbestimmt ist. Er bedarf im Fall und am Fall immer erst der Konkretisierung. Er versteht sich keineswegs von selbst. Was kann unter den gegebenen Umständen wohl das Wohlergehen sein?

Seit einiger Zeit verfolge ich den Weg einer nun 15-jährigen Jugendlichen, nennen wir sie Anna. Sie ist mit 13 in der Drogenszene gelandet, von zu Hause ausgerissen, vielleicht eine Geschichte des sexuellen Missbrauchs hinter sich habend, so genau wissen wir das nicht. Zuerst waren die anderen Klienten zu den Streetworkern gekommen und haben gesagt: „Um Gottes willen, macht´s was, das kann doch nicht sein, dass so ein Kind schon auf der Straße ist.“ Das war eine interessante Reaktion. Es zeigt, dass sie ihre eigene Lebensweise keinem Kind empfehlen würden. Mitgesagt wurde hier: Es gibt doch andere Optionen, vielleicht nicht mehr für mich, aber für eine 13-jährige muss es doch noch andere Optionen geben.

Anna war nur manchmal überhaupt einem Gespräch zugänglich. Meist zugedröhnt, sehr arg zugedröhnt. Nur abfälliges Gerede über ihre Mutter, über einige andere Personen ihres familiären Umfelds. Und wie es so ist, bald in der Abhängigkeit nicht nur von diversem Stoff, sondern auch von Männern aus der Szene. Einer kristallisierte sich dann als Dauerpartner heraus. Einer, der sie eifersüchtig verfolgte, schlug, vergewaltigte. Wahrscheinlich tut er das alles, wir erahnen es nur. Es wird von Anna einmal erzählt, dann wieder widerrufen. Wir sehen ihre Verletzungen. Sie hängt an ihm, er ist ihr Anker in der Welt. Wie es scheint, der einzige Mensch, dem sie etwas wert ist. So sieht sie es.

Eine Sozialarbeiterin kümmert sich um Anna, über das Maß hinaus, das üblicherweise Klienten an Aufmerksamkeit geboten wird. Sie erlaubt ihr, auch außerhalb der Beratungszeiten zu kommen, ist froh, Anna wenigstens hin und wieder in halbwegs klarem Zustand sprechen zu können. Macht mit ihr einmal einen Kinotermin aus. Anna freut sich auf diesen Luxus, auf die Zuwendung, die sie hier erfährt, auf das Abenteuer eines normalen Kinobesuchs – und erscheint dann natürlich nicht am vereinbarten Treffpunkt. Ich denke, Sie kennen solche Klientinnen, solche Klienten.

Die Sozialarbeiterin versucht, Kontakt mit der Mutter aufzunehmen, die ist abweisend, will nichts mehr von ihrer Tochter wissen. Eine große Kälte geht von dieser Mutter aus, sagt sie. Und doch nimmt die Mutter für einige Tage ihre Tochter bei sich auf, bis die wieder flüchtet zu ihrem Freund. Der schlägt sie und sie läuft ihm nach. Und so weiter, immer das Gleiche.

Er prügelt sie öffentlich, einige Junkies sehen das und kommen aufgeregt zu den Sozialarbeiterinnen, man müsse den doch anzeigen, man könne doch kein Mädchen so prügeln. Sie ist benommen, aber zur Polizei, da geht sie sicher nicht hin, und schon gar nicht, um gegen den einzigen Menschen auszusagen, dem sie etwas bedeutet. Kurz darauf wieder ein Streit, vor einigen Zeugen, darunter zwei Sozialarbeiterinnen, und Anna schlägt dem Angreifer eine Platzwunde. Der tobt, die Sozialarbeiterinnen rufen die Polizei, der es gelingt, die Streitenden zu trennen.

Und nun ist es die Polizei, die den Sozialarbeiterinnen den Ball zuspielt. Werden sie als Zeuginnen aussagen? Sie können das selbst entscheiden, die Organisation gab ihnen zu verstehen, dass sie in jedem Fall Rückendeckung bekommen, bei einer Aussage ebenso wie bei einer Entschlagung von der Aussage.

Vielleicht noch einiges zur Situation der Sozialarbeiterin, die sich in den letzten beiden Jahren besonders um Anna gekümmert hatte. Sie wurde deshalb mehrfach im Team kritisiert: So eine teils nachgehende Betreuung passe nicht zum Konzept. Man könne nicht außerhalb der Sprechstunden Klienten empfangen, das hätte eine üble Beispielwirkung. Die Kollegin liefere sich allzu sehr Anna aus. Unmut erregte auch, dass Anna gezielt nach ihrer Sozialarbeiterin gefragt habe und nicht mit anderen sprechen wollte, wenn ihre Vertrauensperson nicht Dienst hatte. Solche persönlichen Beziehungen passen auch nicht zum Konzept.

Und das Schlimmste: Die Kollegin hatte Anna ihre Handynummer gegeben. Für den Fall der Fälle, als eine Sicherung für Notfälle. Anna hat diese Nummer zwar bisher kaum benutzt, aber das Team sah bereits die notwendige professionelle Distanz gefährdet.

Wieso erzähle ich Ihnen diesen Fall? Mich interessiert vor allem das Vorgehen der Kollegin, und mich interessiert die Reaktion des Teams. Man könnte hier von einem Konflikt sprechen zwischen den Regeln der Organisation, repräsentiert durch das Team, und einer intensiven Sorge der Kollegin um eine Klientin. Eine Sorge, die nicht einmal durch besondere Erfolge legitimiert ist. Oberflächlich betrachtet ist nichts weitergegangen in dieser Sache. Anna ist immer noch in der Drogenszene, ist zwar derzeit substituiert, befleißigt sich aber eines kräftigen Beikonsums, sie ist immer noch von ihrem wahnsinnigen Lover abhängig. Es ist, so scheint es, nichts weitergegangen. Trotz der, gemessen am üblichen Angebot der Einrichtung, intensiven Unterstützung.

Wenn Sie mich fragen, hat die Kollegin nichts falsch gemacht, sondern immer alles richtig. Sie hat Anna jene Aufmerksamkeit zukommen lassen, die eine Jugendliche benötigt, und in einem Ausmaß, das wahrlich nicht übertrieben ist. Und sie hat Professionalität richtig inszeniert, nämlich immer wieder auch formale Abstinenzregeln fallbezogen uminterpretiert.

Das Team hat eine seltsame Rolle gespielt. Es hat stets mit dem Konzept argumentiert, es hat sich stets auf die Aufgaben berufen, die diese Organisation hat: Beobachtung der Szene, einfache Hilfen wie Spritzentausch und kurze Beratungen, aber keine individualisierten Prozesse der Begleitung. Keine Begleitung im umfassenden Sinne, auch keine kleinen Begleitungen. Man geht nicht mehr mit KlientInnen aufs Amt oder zum Arzt. Es soll auch keine persönliche Beziehungsarbeit gemacht werden. Keine Zeit dafür, und schließlich sei es ja Teil von Professionalität, sich abzugrenzen. So auch der Vorwurf an die Kollegin: sie sei zu stark involviert, sie könne sich nicht abgrenzen.

Ich will mit diesem Fall meinen zweiten Input abschließen. Er lässt einige Fragen offen, und das ist, denke ich, gut so. Wir haben es mit einem Fall zu tun, der offen bleibt, mit einem wenig erfolgreichen Fall, und mit der Frage nach der Professionalität.


National Association of Social Workers - NASW (1996): Code of Ethics. Washington D.C.

Rosenfeld, Jona / Sykes, Israel J. (1998): Toward `good enough´ services for inaptly served families and children: barriers and opportunities. In: European Journal of Social Work Vol.1, No. 3. S. 285 - 300.