Der 2020 Krisenblog

Vierter Tag

Es ist warm, es ist sonnig, der Frühling ist da. Ich mache meinen Mittagsspaziergang am Marchfeldkanal, so wie andere auch. Väter mit ihren Kindern, Mütter desgleichen, viele sind allein unterwegs auf dem Fahrrad, laufend, gehend. So gut wie alle achten sorgfältig darauf, großen Abstand einzuhalten. Es macht nicht den Eindruck, als wären diese Menschen leichtsinnig.

 

Immer wieder gehe ich durch Duftwolken, mit denen die blühenden Sträucher ihre Existenz anzeigen, Bienen sind unterwegs, eine erste Hummel habe ich auch schon gehört. Eine Joggerin läuft mit Respektabstand an mir vorbei und zieht Maiblümchenduft hinter sich her. Amseln, Meisen, Spatzen, Türkentauben, Elstern sehe ich, eine Frau Schwan, die ihr Nest baut. Den Gesang der Vögel hört man besser, da das Hintergrundgeräusch des Verkehrs leiser ist als auch schon.

 

Mich hat schon vor langer Zeit diese mögliche Gleichzeitigkeit des Schönen, Idyllischen, mit dem Schrecken beschäftigt. Tiere, Pflanzen, Wetter sind gleichgültig gegenüber menschlichem Elend, so lange sie können. Aber jetzt und hier ist noch kein Schrecken da.

 

Maurizio Ferraris, Philosoph an der Universität Turin, schreibt heute in der NZZ: „Wenn uns das Virus beschäftigt – was durchaus richtig ist –, dann deshalb, weil wir über ein fortschrittliches Gesundheitssystem verfügen. Dieses System kann in eine Krise geraten – noch vor fünfzig Jahren hätte sich das Problem gar nicht gestellt, und wir hätten die Pandemie wie ein Schicksal ertragen. Das Virus hätte ein brutales Blutbad angerichtet, wenn auch nicht ein solches wie vor hundert Jahren die Spanische Grippe, weil das Coronavirus trotz allem viel weniger aggressiv ist. Unsere Sorgen sind also – recht bedacht – ein unwiderlegbarer Beweis für die Tatsache, dass die Menschheit sich zum Guten entwickelt, dass die Wissenschaft laufend Fortschritte macht und dass die Medizin ein Wissen ist, dem wir huldigen sollten, statt dahinter das Komplott böser multinationaler Firmen zu vermuten.“

 

Wir leben als privilegierte Menschen an einem privilegierten Ort in einer privilegierten Zeit. Das bewahrt uns nicht vor jedem möglichen Tod, und es bewahrt uns nicht vor seltsamer Empörung, zum Beispiel jener über „Freiheitseinschränkungen“. Vielleicht bin ich naiv, wenn ich mich darüber freue, dass ein demokratischer Staat soeben seine Handlungsfähigkeit beweist.

 

Diese Naivität gönne ich mir. An einzelnen Personen in der Regierung oder an einzelnen Maßnahmen herumzumäkeln erspare ich mir. Ich will geistig gesund bleiben. Irgendwann brauche ich ja vielleicht noch meine Kraft für jene Zeiten, in denen sehr wohl die Freiheit verteidigt werden muss.

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