Der 2020 Krisenblog

Fünfundvierziger bis siebenundvierzigster Tag

Das war jetzt eine Unterbrechung. Zwei Tage ohne Tagebucheintrag. Wegen Müdigkeit, wegen der vollen Abende mit gemeinsamem Filmschauen und mit Einschlafassistenzleistungen.
Unterbrechungen, Pausen sind interessante und hochwirksame Interventionen. Sie sind nicht einfach nichts, sondern betonen das, was vorher war, lassen es nachhallen, und geben Raum für Kommendes, möglicherweise Bedeutungsvolles. Ich erinnere mich an Rollenspiele mit Studierenden, in denen wir Gesprächsführung übten. Eine der ersten Dinge, auf die ich sie zu trainieren versuchte, war, Pausen und Stille auszuhalten. Nicht gleich etwas zu sagen, sondern das Gesagte einmal nachklingen zu lassen. Es geschieht so viel in der Stille, und schon einige Sekunden Stille im Gespräch können viele Räume öffnen. Der Stress, etwas sagen zu müssen, wird gelindert, es gibt Zeit, um Nachzudenken, Entscheidungen vorzubereiten, in sich hineinzuhorchen. Die Pause eröffnet Möglichkeiten für den weiteren Verlauf des Gesprächs, die vorher so noch nicht vorhanden waren.
Ich bin immer wieder verwundert über Menschen, die pausenlos sprechen. Ich begegne ihnen zum Glück nicht in meinem nächsten Umfeld, aber manchmal doch zum Beispiel in Lokalen: Eine Runde an einem der Nachbartische, aber man hört nur eine einzige Person reden, und sie hört nicht auf, gibt den anderen keine Chance, sich ebenso einzubringen. Alle anderen sind leiser, sie scheinen nur die Stichwortgeber zu sein. Noch mehr verwundert mich aber, dass sich das die anderen gefallen lassen. Ich stelle mir vor, dass sie mit ihren Gedanken ganz wo anders sind, eigentlich nur physisch in dieser Runde sitzen, in Wahrheit allein. In eine Isolation getrieben vom Dauerredner. Ja, die männliche Form ist schon angebracht, nur sehr selten sind es Frauen, die die anderen so in eine Isolation treiben.
Die – wie ich vermute – innerlich einsamsten Menschen sind dabei die lautesten. Sie beschallen nicht nur die Runde, die an ihrem Tisch sitzt, sondern raumgreifend gleich die Nachbartische mit, als müssten sie sich von Berggipfel zu Berggipfel verständlich machen.
Aber jetzt, solange Gastronomiebetriebe noch geschlossen sind, haben sie dieses Betätigungsfeld nicht. Ich vermute allerdings, dass sie Kommunikationstechnologien nutzen, so sie denn Menschen haben, die ihnen als Abnehmerinnen oder Abnehmer dafür zur Verfügung stehen. Ich könnte sie bedauern. Oder jene, die die Beschallung ertragen müssen.
Ich überlege mir, dass man Respekt eventuell doch messen könnte: Respektvolle Kommunikation wird wohl auch eine einigermaßen gleiche Aufteilung der Sprechzeit erfordern, und eine gegenseitige Anpassung der Sprechlautstärke.
Heute Vormittag eine Duftorgie: die über Nacht befeuchtete Erde, der Flieder, die vielen anderen Blüher, und der Grundton aus Gras und jungen Blättern. Wie eine Kollegin bemerkte: So intensiv habe sie (und habe ich) den Frühling schon seit sehr langer Zeit nicht mehr wahrgenommen.
Das Entenpaar beschwamm heute unseren winzigen Teich. Wir waren erfreut, fühlten uns ein wenig geehrt und beobachteten sie zu dritt, Schulter an Schulter stehend hinter Glas in unserem Wohnzimmer.
Und weil die Frage kam: Die Nachtigall wechselt den Ort ihres Gesangs jede Nacht. Einmal direkt bei uns, dann wieder in einiger Entfernung. Immer hörbar, manchmal laut und dominant, dann wieder leise, als Beimengung zu den anderen Geräuschen der Nacht – dem Rauschen der Züge der Nordwestbahn, vereinzelten Autos, dem Rascheln des Igels, der seine Runden dreht.
 
2025-11-23 um 17.08.54