Der 2020 Krisenblog

Dreiundfünfzigster bis fünfundfünzigster Tag

Zwei Abende musste mein Tagebuch pausieren, weil anderes zu tun war. Jetzt ist es wieder da.
Was ich bemerke, ist eine sehr unterschiedliche Zeitwahrnehmung der Menschen. Für die einen hat sich alles geändert, ist das meiste auf Anfang gestellt, gibt es ein „Vorher“ und ein „Seither“. Für die anderen ist es eine unangenehme Unterbrechung des Immergleichen, die sie am liebsten gar nicht wahrnehmen würden.
Ich lese nach in meinem nur zu einem Drittel fertigen, trotzdem nunmehr veröffentlichten Möchtegern-Roman „Wieder Au“:
„«Früher», das war nun überhaupt ein Wort, das eine unerwartete Konjunktur erlebte. Walter dachte an seine Jugendzeit. Sein Vater hatte auch gerne von «früher» gesprochen. Eines seiner anderen Lieblingswörter seinerzeit war «ursprünglich». Und «seinerzeit», wenn wir schon dabei sind. Wobei er sorgfältig auswählte: «Früher» und «ursprünglich» waren positiv konnotierte, wenn auch reichlich unbestimmte und vage zeitliche Einordnungen. Sitten der Vergangenheit, Regeln, Werte und Ereignisse, die ihm weniger positiv schienen, wurden anders verortet (verzeitet?): «bei den Nazis», «im Krieg», «damals». Die Verklärung der Vergangenheit wurde nur selektiv angewendet. Walters Vater hätte sich nie zu der Behauptung verstiegen, früher sei alles besser gewesen. Aber: Was besser war, das war «früher» oder «ursprünglich», was schlechter war, war «damals». Beides bezog sich aber auf Vergangenheiten, die schon länger als zehn oder zwanzig Jahre zurücklagen.
Das neue «Früher» hatte eine kürzere Laufzeit, war ein junges Früher. Es bezog sich eindeutig auf die Zeit vor dem Exodus all der Menschen, die irgendwann in ihrem Leben nach Wien gezogen waren oder wurden. Ein so einschneidender Wandel dieser Stadt, dass man danach eine neue Zeitrechnung beginnen könnte. Und wie es so geht bei der Umwandlung von Geschichte in Erzählungen, verwischten sich die zeitlichen Zuordnungen. Alles, was jemals vor dem großen Wandel war, schien gleichzeitig. Auch wenn es schon zu Beginn des großen Wandels nicht mehr existiert hatte, wurde es doch in dieses «früher» eingeschlossen, als wäre es erst durch den großen Wandel zum Verschwinden gebracht worden.“
Heute habe ich Helden gesehen und bewundert. Mittelalterliche Männer mit Bierdosen in der Hand, ohne Mund-Nasen-Schutz und eng bei einander stehend und sitzend in einem geteilten Aerosolnebel. Ein anderer Herr gleichen Alters robbte sich ohne MNS durch den Supermarkt. Es ist gut zu wissen, dass es noch aktive Verteidiger der großen Freiheit gibt.
Die schönsten Wildbienen sind sehr groß, nahezu wie Hornissen, und völlig schwarz. eine hatte sich in unsere Küche verirrt und nahm es dankbar an, dass ich ihr ein Fenster öffnete. Eine andere (oder war es dieselbe?) besuchte mich auf meinem Schreibplatz im Wäldchen.
Das Foto des Tages ist eine Frucht meiner Spaziergänge. Je öfter ich die gleichen Runden ziehe, umso genauer beobachte ich, was sich neben den Wegen mir darbietet.
 
2025-11-23 um 20.38.00