Der 2020 Krisenblog

siebenundfünfzigster Tag

In den USA orientiert sich die Haltung zur Pandemie an der politischen Einstellung: Republikaner*innen halten das alles zumindest für übertrieben oder neigen Verschwörungstheorien zu, Demokrat*innen nehmen das ernster. Was allerdings beunruhigend scheint: Dass Leute, die Mund-Nasenschutz tragen, von vielen als Herdenmenschen verunglimpft werden, die das selbständige Denken verweigern, berichtet die Zürcher.
Wir erleben ja schon seit längerer Zeit, dass sich die extreme Rechte Teile des Wordings und der subkulturellen Codes der radikaleren Linken aneignet. Das liegt zum einen daran, dass die ohnehin fragwürdig und unpräzise waren. Das „Widerstands“-Pathos der Bewegung anlässlich der ersten ÖVP-FPÖ Regierung war etwa durchaus fragwürdig, ganz unabhängig von den unappetitlichen Versuchen der damaligen Regierung, vergeblich einen nationalen „Schulterschluss“ gegen das böse Ausland einzufordern. Inzwischen ist diese Pathosform zu den Reichsbürgern und anderen Right-Wingers gewandert. Sogar das mit dem „selbständigen Denken“ haben sie okkupiert, und Orwell´sches „Newspeak“ ist längst nicht mehr Privileg einer Regierung.
Man wird sehen, wie sich die Welt und die Demokratie entwickeln werden. Letztere ist nicht davor gefeit, von autoritären Scharlatanen gekapert zu werden, und die Mehrheit des „Volkes“ kann auch schon einmal schnurstracks in das Elend marschieren. Was ich mir wünsche, ist dass nicht Leute, die sich als links, liberal oder sonst wie der Aufklärung verpflichtet fühlen, unter dem Banner der angeblichen Wahrung der Grundrechte den Totengräbern der Demokratie den Weg bereiten.
Man könnte von nötigem „Augenmaß“ sprechen. Das schließt ein, dass man als Demokrat akzeptiert, dass nicht alles, was eine Regierung macht, meinen eigenen Vorstellungen entsprechen wird. Es spricht nichts gegen Wachsamkeit. Viel jedoch spricht gegen Aufregung um der Aufregung willen. Und alles spricht gegen eine selbstgerechte Kritik, die die Bereitschaft nicht einschließt, sich auch mit den eigenen Haltungen nüchtern und kritisch auseinanderzusetzen, zumindest aber mit der Sache, zu der man eine richtige Haltung zu haben glaubt. Ja, man kann irren.
Zum heutigen Foto: Dieses Schild hat schon einiges gesehen und hat dabei seine Schrammen abbekommen. Seine Grundaussage ist mir jedoch sympathisch: Vorrang fürs Weitergehen, und nicht für den Weg zurück.
 
2025-11-23 um 20.53.50