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Haus Meldemannstraße, kein Jahrhundert.

Rede bei der Buchpräsentation Hurnaus/Kerbel/Pantucek/Paterno: Haus Meldemannstraße. Czernin Verlag Wien 2003.

Haus Meldemannstraße, kein Jahrhundert.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wenn das Haus Meldemannstraße abgesiedelt sein wird, wird ein Jahrhundert zu seinem Ende gekommen sein. Die logischen Bögen der Geschichte halten sich ja nicht sklavisch an die gefeierten Wenden. So wurde das Haus Meldemannstraße als modernes und attraktives Ledigenheim 1905 errichtet, und jetzt, einige Jahre nach dem Milleniumsrummel, schließt es seine Tore. Dass seinerzeit der junge Adolf Hitler darin gewohnt hatte, verbindet es mit der Geschichte dieses 20. Jahrhunderts mehr als jeden anderen dieser Nicht-Orte, an denen üblicherweise nichts anderes passiert, als dass Menschen ihr Leben leben. Unter dürftigen Bedingungen leben. Tristesse, Banalität, das sind die Worte, die dafür oft gefunden werden. Diese Orte sind trist und banal, wie das Leben selbst ist, wie wir es sind. Sie sind gewöhnliche Orte, Orte eines mühsamen Alltags, Orte an denen sich Mensch-Sein abspielt. Es gibt viele solcher Orte, und die überwiegende Mehrzahl erregt viel weniger Aufmerksamkeit als das Haus Meldemannstraße. Ich grüße jene, die an solchen Orten leben oder arbeiten. In geriatrischen Krankenhäusern, in psychiatrischen Abteilungen, in Heimen für die bösen Kinder oder für die Kinder mit bösen Eltern. Sie alle sind Teil dieser Stadt, dieses Landes, schreiben still seine Geschichte mit. Sie konstituieren diese Gesellschaft ebenso wie die reichen, schönen, erfolgreichen, und wie wir vielen, die unser Leben anscheinend besser leben, als jemals eine Generation zuvor.

Die Wohnungslosen sind diese Stadt. Sie erleben die Stadt auf eine intensivere Weise als wir, die wir uns vor ihr verkriechen können in unseren geräumigen Höhlen. Ich begrüße die Wien-Experten hier im Publikum.

Das Haus Meldemannstraße evoziert bei vielen meiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen bildhafte Erinnerungen, obwohl sie es nie betreten haben. Der Höchstädtplatz, so hat mir ein Schulkollege nach Erhalt der Einladung zu dieser Vernissage geschrieben, das ist die Erinnerung an das Haus des Zentralkomitees der KPÖ, das sind die sichtbaren Wohnungslosen auf den Parkbänken mit den Dopplern, das war die Niederösterreichische Molkerei. In Kürze ist nichts mehr davon da, und was noch da ist, hat seinen Inhalt, seine Bedeutung verändert. Aber die Wohnungslosen verschwinden nur aus der Umgebung des Höchstädtplatzes. Sie bleiben Teil dieser Stadt, bleiben Teil ihrer Seele, bleiben ein unverzichtbares Stück Wien. Ein Stück von dieser Stadt, die wie jede große Stadt ein Platz zum leichten und zum schwierigen Leben ist. Ein kleiner Teil dieses Lebens ist in dem Buch spürbar, das wir hier präsentieren.

Natürlich will ich Ihnen dieses Buch ans Herz legen. Ich bin stolz darauf, an diesem Projekt mitgearbeitet zu haben, und ich freue mich über das Produkt, das hier entstanden ist und über dessen Grundzüge wir uns so leicht und schnell verständigen konnten.

Stellvertretend für die drei Mitherausgeber dieses Buches möchte ich eine kleine Laudatio auf Hertha Hurnaus und ihre Arbeit halten, die Sie in Ausschnitten auch hier bewundern können. Es ist beileibe nicht leicht, prekäre soziale Settings angemessen ins Bild zu bringen. Der Fallstricke, über die man stolpern könnte, sind viele.

Da ist der Voyeurismus, der jeder fotografischen Darstellung eigen ist, der sich allzu leicht gegen die abgebildeten Personen, gegen ihr Lebensumfeld richten kann. Aus der Dokumentation der Erscheinung dieser Personen wird dann eine Freakshow. Die große soziale Distanz, die wir als Besucher von Ausstellungen und Vernissagen zu ihnen haben, erleichtert es uns, sie unter dem Aspekt der Skurrilität zu betrachten. Sie haben dann nichts mit uns zu tun, stellen nicht auch Aspekte unserer eigenen Wirklichkeit, unseres eigenen Lebens dar.

Ähnliches gilt für die Ästhetisierung, auch sie ist unverzichtbarer Teil künstlerischen Ausdrucks. Schön, schaurig schön, hässlich, anklagend hässlich – das sind die Kategorien vereinfachter ästhetisierender Darstellung sozialer Realität. Alle diese Varianten hinterlassen nach der Betrachtung ein Gefühl des Abgeschlossenen, dessen, dass wir ohnehin wissen, wo es langgeht, und die Bilder nichts daran ändern können.

Hertha Hurnaus ist es gelungen, diese Fallen kunstvoll zu vermeiden. Sie drückt ihre eigene Fremdheit in dieser Welt ebenso in ihrer Bildsprache aus, wie ihre Vertrautheit mit der doch gleichen Welt, in der wir leben, wir Buchautorinnen und Buchautoren, und die Männer der Meldemannstraße. Sie zeigt Respekt in ihren Bildern. Respekt vor den abgebildeten Personen, und Respekt vor den Betrachterinnen und Betrachtern. Ihre Bilder stehen nicht am Ende einer Denkbewegung, sie liefern kein Ergebnis, sondern sie können am Anfang eines Denkens über Asyle, über unser Verhältnis zu ihnen, über gescheiterte Männlichkeit und über 3,5 m2 kleine persönliche Welten stehen. Ihr ist das mit einigen Stilmitteln gelungen – mit dem quadratischen Format, mit dem Verzicht auf die Abbildung dramatischer Gesten und Situationen, mit den durch Bewegung verwischten Konturen der Bewohner, mit der Dokumentation von Details, die uns bekannt und doch wieder unbekannt vorkommen. Vor allem aber mit ihrem intelligenten Blick.

Sie bildet eine Welt ab, in der dramatische und tragische persönliche Schicksale auf eine alte, schlampige, und gerade dadurch wieder menschliche Bürokratie treffen. Es sind Bilder einer untergehenden Welt.

Die modernen Bürokratien sind straighter. Sie glauben, genauer zu wissen, was sie tun, sie produzieren umfangreiche Selbstbeschreibungen und glauben, sich dadurch besser im Griff zu haben. Sie sind achtloser und kälter, weil sie so tun, als wäre es nicht mehr Herrschaft, was sie ausüben, sondern Dienstleistung.

Ich hoffe, dass es Hertha Hurnaus gelingen wird, jene neue Welt genauso präzise und anregend darzustellen, wie die sterbende Welt des Hauses Meldemannstraße. Ich empfehle Ihnen, sich auf Andrea Hurnaus´ Bilder einzulassen, mit Ihrem Blick länger auf ihnen zu verweilen. Und ich empfehle Andrea, die schöne neue Welt genauso aufmerksam und intelligent zu dokumentieren, wie die untergehende alte.

Das Haus Meldemannstraße wird abgesiedelt. Wien bleibt eine Stadt, und die Wohnungslosen bleiben in dieser Stadt. Ich wünsche ihnen und uns ein gutes Leben. Und einen guten Blick darauf.

Danke.