Texte

Forschung, Entwicklung, Innovation.

Probleme der Verbindung von aktiver methodischer Innovation und Forschung. März 2004.

 

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

Wir konnten an der FH St.Pölten im vergangenen Jahr mit Unterstützung der Diakonie Österreich und der ORF-Hochwasserhilfe ein Gemeinwesenprojekt konzipieren und in drei niederösterreichischen Gemeinden durchführen, das wir auch als Projekt kontrollierter Methodenentwicklung verstanden und inszeniert haben. Ich stelle Ihnen dieses Projekt kurz vor, um dann davon ausgehend einige Überlegungen zum Problem der Verbindung von Praxisprojekten mit wissenschaftlicher Methodenentwicklung zu diskutieren.

Als sich Ende 2002 die Diakonie mit dem Ersuchen an uns wandte, ein Gemeinwesenprojekt für hochwasserbetroffene Gemeinden zu konzipieren, stellten wir eine Reihe von Überlegungen an. Ausgangspunkt unseres Nachdenkens war eine Erfahrung, die wir von anderen, teils wesentlich schlimmeren, Katastrophen kannten. Die tragische Erfahrung des Unglücks produziert zuerst Solidarität, das Gefühl gemeinsamer Betroffenheit. Der massive Einsatz von nicht lokal verankerten Hilfsorganisationen produziert mittelfristig allerdings einige unerwünschte Nebeneffekte. Die Betroffenen werden zu Empfängern von Hilfeleistungen, lokale Autonomie wird eher beschädigt. Konflikte kommen an die Oberfläche. Von vielen wird die Verteilung der Hilfe als ungerecht empfunden, einige werden der Bereicherung beschuldigt. Die Frage, wer denn nun am Unglück schuld gewesen sei, wird teils erbittert diskutiert. Das Gemeinwesen ist beschädigt, es hat mit den Nachwirkungen der Katastrophe zu kämpfen.

Unser Ziel war, ein halbes Jahr nach dem Hochwasser, das die Gemeinden Grafenwörth, Kirchberg und Königsbrunn schwer getroffen hatte, zu einer Rekonstruktion bzw. Reparatur des Zusammenlebens beizutragen. Wir erwarteten Konflikte, wir erwarteten Verbitterung bei manchen, wir erwarteten Diskussionen über Schuld und über Ungerechtigkeiten bei der Hilfe. Unser Konzept war, in der begrenzten Zeit von wenigen Monaten an der Historisierung der Geschehnisse zu arbeiten. Aufhänger für unseren Gang in die Gemeinden war, mit den Betroffenen zum Jahrestag des Hochwassers eine Ausstellung und Gemeindekonferenzen über die Katastrophe zu veranstalten. Das Ritual sollte einen symbolischen Schlusspunkt hinter all den Ärger setzen, den die Katastrophe im Zusammenleben in den Gemeinden verursacht und nach sich gezogen hatte. Später kam dann noch der Plan dazu, zur Ausstellung einen umfangreichen Katalog zu produzieren, der den Betroffenen in die Hand gegeben werden kann.

Trotz vieler Widerstände gelang es, Mittel aus der ORF-Hochwasserhilfe für dieses Konzept zu mobilisieren. Die Diakonie stand hinter dem Projekt und stellte zusätzliche Mittel zur Verfügung. Gertraud Pantucek wurde Projektleiterin und arbeitete mit 3 Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, einer Psychologin und 2 Studenten der FH 10 Monate vor Ort.

Ohne den Projektablauf nun im Detail darstellen zu können: Trotz mannigfacher Schwierigkeiten ging das Konzept schließlich voll auf. Der Aufhänger „Ausstellungsgestaltung“ ermöglichte einen Zugang zu den Bürgerinnen und Bürgern, der sie nicht pathologisierte, sie nicht als arme Traumatisierte, ansprach. Sie kamen in die Sprechstunden, erzählten und erzählten, brachten unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über 10000 Fotos, einige Videofilme, Diavorträge, Gedichte, eigene kommentierte Fotoalben. Sie erzählten die Abläufe in ihrem Ort, ihre Ideen zu einem besseren Hochwasserschutz. Schließlich wurde die Ausstellung in feierlichem Rahmen eröffnet. Das Eröffnungsritual, obwohl relativ lang geraten, wurde von den Bürgerinnen und Bürgern in feierlichem Ernst zelebriert. Zwei Monate später präsentierten wir in den 3 Gemeinden die Bildchronik. Zu unserer Überraschung kamen die Betroffenen zu hunderten zur Präsentation, um sich ihr Exemplar abzuholen, um das Team zu verabschieden, und um zu feiern, dass das Hochwasser nun Geschichte ist.

Das Glanzstück des Projekts war allerdings die Bearbeitung der besonders tragischen Situation eines kleinen, extrem betroffenen Ortes. Die lokale freiwillige Feuerwehr war an einem Streit zerbrochen, die Schuld am schlimmen Ausmaß der Schäden wurde nicht ganz zu unrecht regionalen Entscheidungsträgern gegeben, die Bewohner isolierten sich vom Rest der Gemeinde. Von außen wurden sie als verrückt bezeichnet. Ihnen und dem Konflikt mit ihrem Umfeld galt die besondere Aufmerksamkeit der Projektmitarbeiter. Das Projekt gab den Bewohnern des Ortes die Gelegenheit, ihre Sicht der Dinge gleichberechtigt neben anderen Sichten einzubringen, ja es konnte ihnen besondere Aufmerksamkeit zugeteilt werden. Sie wurden von uns nicht als Schwertraumatisierte behandelt, sondern als besonders kompetente ExpertInnen. Es gelang, Isolation und Verbitterung aufzulösen. Auch hierbei erwies es sich als Königsweg, nicht Trauma und Traumatisierung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen, sondern den Anspruch des Schreibens / Konstruierens einer gemeinsamen Geschichte. Da wurde ausführlich an Formulierungen gefeilt. Die Texte zur Ausstellung und zur Bildchronik sollten die Sichten aller Beteiligten beinhalten, aber auch zu einer gemeinsamen Darstellung integrieren. Die Arbeit an dieser Darstellung war eine Arbeit an der Bewältigung, an der Zähmung und Historisierung von Konflikten.

Soweit zum Gemeinwesenprojekt Hochwasserhilfe. Aber was hat das mit Forschung zu tun?

Ich muss eine grundsätzliche Überlegung vorausschicken:

Ich gehe davon aus, dass gute Praxis der Sozialarbeit immer schon einen Forschungsanteil hat. Dort, wo Sozialarbeit sich mit einer Lebenssituation zu beschäftigen hat, haben Alltagsroutinen versagt, ist das Leben zumindest ausschnittweise zu einem „Problem“ geworden und verlangt daher eine neue Deutung. Um zu dieser neuen Deutung zu kommen, sind Schritte erforderlich, die charakteristisch für einen Forschungsprozess sind. Die Sozialarbeiterin nähert sich dem Fall, sammelt Informationen über eine Lebenssituation und über Lebenswelten, versucht sie kooperativ mit den Betroffenen zu deuten. Ein Ausgangspunkt – das präsentierte Problem – ist kritisch zu erweitern, an einer Reformulierung ist zu arbeiten, es ist zu beobachten, „was Sache ist“.

Allerdings gibt es auch wesentliche Unterschiede zur klassischen wissenschaftlichen Forschung:

  • Praktische Sozialarbeit muss handeln, sie kann vom Handlungsdruck der Praxis nicht oder nur kurzfristig absehen.
  • Nicht die Falldeutung der PraktikerInnen ist das wichtigste Element des Prozesses, sondern die Situationsdeutung durch die eigentlichen Akteure, die KlientInnen und ihr soziales Umfeld.

Wollen wir Praxisprojekte für wissenschaftliche Sozialarbeitsforschung nützen, geht es um eine Verbreiterung und Formalisierung der Forschungsanteile der Praxis: Praxis begibt sich als kontrollierte Praxis auf den Weg zur Wissenschaft.

Dabei ergeben sich Gefahren. Die erste Gefahr ist, dass Handlungsanforderungen zu lange zurückgewiesen, aufgeschoben werden. Dokumentation und Reflexion verlangsamen. Es gehört zwar auch zur Technik professioneller Praxis, Handlungsaufforderungen vorerst nicht wahrzunehmen, zu verschieben, bis die Voraussetzungen für kluges Handeln erfüllt sind – zu diesen Voraussetzungen gehört auch ein hinreichendes Verständnis des Falles. Diese Verlangsamung kann ohne Schaden jedoch nicht zu weit getrieben werden. Schlimmstenfalls würde das auf die Verweigerung der hilfreichen Intervention hinauslaufen.

Die zweite Gefahr besteht darin, dass das Situationsverstehen durch die Forscherinnen für wichtiger genommen wird, als das Situationsverstehen durch die KlientInnen. Um einen Fall erfolgreich bearbeiten zu können, benötigt man Vertrauen in ein Wissen der KlientInnen, das uns nicht zugänglich ist und auch nicht zugänglich sein muss. Es ist nicht erforderlich, es abzuschöpfen.

Forschung verbunden mit dem Fall, Praxisforschung in der Sozialarbeitswissenschaft, benötigt also Respekt vor der Dynamik und Eigenart des Unterstützungsprozesses, kann ihm nicht ohne Schaden die eigene Logik aufzwingen. Die Dominanz der skizzierten Praxislogik muss gewahrt bleiben.

Dies schränkt logischerweise die Möglichkeiten der Forschung ein. Das Dilemma ist u.E. dadurch zu lösen, dass die praxisnahe Forschung nicht in erster Linie die lebensweltliche Dynamik in den Blick nimmt, sondern den Fall als Interaktionsprozess zwischen der Institution, den einzelnen HelferInnen und der lebensweltlichen Situation versteht. Die Forschung drängt sich nicht vor die SozialarbeiterInnen, um die KlientInnen und ihre Welt näher zu betrachten, sondern steht hinter den professionellen AkteurInnen und blickt ihnen über die Schulter. Wir praktizieren das derzeit auch bei einem Evaluationsauftrag – wie Sie sich denken können nicht immer zur Freude der PraktikerInnen, in diesem Fall Ärzte, TherapeutInnen und SozialarbeiterInnen.

Das, was wir gerne weiterentwickeln wollen, ist allerdings ein Konzept, das ich „Wissenschaftlich kontrollierte Innovation“ nennen möchte. Hier geht es um eine Erweiterung der, wenn man so will, sozialtechnologischen Wissensbasis der Sozialarbeit. Wissenschaftlich kontrollierte Innovation weitet die Forschungsanteile der Praxis aus. Sie geht von empirisch und/oder theoretisch generierten Hypothesen aus, aus denen eine Methodik, eine Technik entwickelt wurde. Diese neue Technologie ist noch nicht erprobt (oder zumindest in ihren neuen Elementen noch nicht erprobt). Kontrollierte Innovation beobachtet die PraktikerInnen bei der Verwendung der vorgeschlagenen Instrumente. Sie bleibt im Dialog mit der Praxis, dokumentiert, stellt Abläufe fest. Es erfordert eine wesentlich intensivere Verschriftlichung, vom Konzept bis zur laufenden Dokumentation. Es erfordert eine umfangreiche Reflexion nach Abschluss des Projekts. Abweichungen vom erwarteten Verlauf sind jedenfalls interessant: Sie können auf die Spezifik des Einzelfalls, aber auch auf Denkfehler bei der Konzeptuierung hinweisen.

Wir haben dieses Konzept der kontrollierten Innovation beim Gemeinwesenprojekt Hochwasserhilfe angewandt, wenn auch nur rudimentär. Eine Schwierigkeit, die wir nicht überwinden konnten, war die unterschiedliche Finanzierungslogik von Praxisprojekten und Forschungsprojekten. Es ist nicht leicht, gleichzeitig für die innovative Praxis und für eine ausführliche wissenschaftliche Begleitung Fördermittel zu bekommen. Die begleitende Beobachtung musste daher dünn bleiben, die nachträgliche Aufarbeitung geschieht weitgehend unfinanziert, als freiwillige Eigenleistung.

Das Gemeinwesenprojekt Hochwasserhilfe ist als Praxisprojekt abgeschlossen. Die Aufarbeitung und Auswertung der Erfahrungen wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen.

Sie sehen: die Projektform mit definiertem Beginn und vordefiniertem Ende ist für solche Vorhaben günstig. Das fixierte Projektende ermöglicht die nötige Distanzierung. Das Bemühen um die Institutionalisierung ist für wissenschaftlich kontrollierte Innovation eine Falle, weil sie die materiellen Interessen zur Erhaltung einmal geschaffener Arbeitsplätze in den Vordergrund stellt und daher eine objektive Auswertung der Daten erschwert. Im vorliegenden Fall halten wir das Projektende nach 10 Monaten übrigens auch methodisch für ein Glück – und das entgegen vielen Stimmen im Diskurs der Gemeinwesenarbeit, die nur eine auf Dauer gestellte Arbeit für sinnvoll finden. Wir versuchen, Sozialarbeit nicht als Dauerkrücke für defizitäre Systeme, sondern als wirkungsvolles Instrument zum Aufbau von selbsttragenden Prozessen zu verstehen und zu propagieren, sowohl im Einzelfall als auch im Umgang mit Betrieben, Organisationen und Gemeinwesen.

Zum Abschluss noch ein kurzer Ausblick auf die Zukunft: Ich hoffe, dass wir in den nächsten Jahren Kooperationen mit Organisationen der Sozialen Arbeit etablieren können, die auf Methodenentwicklung zielen. Mein persönlicher Interessensschwerpunkt ist dabei die Überführung von Methoden der Sozialen Diagnostik in die professionelle Praxis, die Zurückdrängung der Dominanz der administrativen Bedürfnisse bei der Gestaltung von Dokumentations- und Evaluationssystemen in Einrichtungen der Sozialen Arbeit. Wir werden solche Partnerschaften zwischen Hochschule und Praxis brauchen, wenn wir den Schub, den die Etablierung der FH-Studiengänge für die Sozialarbeitsforschung gebracht hat, für die Professionsentwicklung nutzbar machen wollen. Ich bin da optimistisch: Der Sozialen Arbeit steht eine spannende Zukunft bevor.

 

Literatur:

Pantucek, Gertraud / Pantucek, Peter (Hg.) (2003): Hochwasser 2002, Grafenwörth - Kirchberg - Königsbrunn. Eine Text- und Bildchronik. St. Pölten.

Pantucek, Peter (2003): Diagnose in der Sozialarbeit: Von der Persönlichkeits- zur Situationsdiagnostik. Referat im Workshop der Sektion Sozialarbeit am Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie, Wien, 26.11.2003. http://pantucek.com/texte/diagnose_oegs.html

Sommerfeld, Peter (2002): Angewandte Forschung und Entwicklung in der Sozialarbeitswissenschaft – Forschung zwischen Markt, Bedürfnissen der Praxis und dem Aufbau einer eigenständigen Wissensbasis. In: Tagungsbericht: Themen der Sozialarbeitswissenschaft und ihre transdisziplinäre Verknüpfung, Tagung vom 5. März 2002. Solothurn und Zürich.

Thole, Werner (2002): Die Sozialpädagogik und ihre Forschung. Sinn und Kontur einer empirisch informierten Theorie der Sozialpädagogik. Referat, gehalten am Fachkolloquium Soziale Arbeit und ihre Wissenschaften in der Postmoderne. FH Oldenburg/Ostfriesland/Wilhelmshaven, Standort Emden. 22. - 23.11.2002. In: http://www.sozialarbeitswissenschaften.de/ am 22.11.2003.

Wendt, Wolf Rainer (o.J.): In Sozialer Arbeit forschen und für Soziale Arbeit forschen: Überlegungen zu Gegenstand und Methodik. In: http://www.deutsche-gesellschaft-fuer-sozialarbeit.de/wendt.shtml: 1.1.2004.