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Das Wissen der Sozialarbeit – über Struktur und Funktion sozialarbeiterischen Wissens.
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- Erstellt am Sonntag, 14. März 2010 08:03
Referat auf der Tagung Justizsozialarbeit, Windischgarsten, am 20.10.2005.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Was soll denn das sein, DAS Wissen DER Sozialarbeit? Wissen Sozialarbeiterinnen überhaupt irgendetwas? Ist es nicht ihre grenzenlose Geduld gegenüber seltsamen Figuren, die sie für ihren Beruf qualifiziert? Ist es nicht ihre Bereitschat zu kontinuierlicher Naivität?
Sind sie nicht selbst seltsame Figuren, die in einer Welt der harten und illusionslosen Männer zuallererst dadurch irritieren, dass sie sogar durch fortwährende Enttäuschungen nicht von ihrem Glauben an das Gute im Menschen abzubringen sind?
Ja doch, da gibt es auch den anderen Typus: Jene SozialarbeiterInnen, die die Illusionslosigkeit der guten alten Fürsorgerin in das 21. Jahrhundert herübergerettet haben. Sie identifizieren sich mit der Organisation, in der sie arbeiten. Und sie bekommen einen leicht zynischen oder harten Zug um den Mund, wenn sie den Verlierern begegnen. Den kratzenden und beißenden, sich selbst betrügenden Armen, AußenseiterInnen und Außenseitern, denen die Gesellschaft keine Chance gibt und die sich selbst keine Chance mehr geben.
Vielleicht ist ja die Ausbildung nur die Verfestigung dessen, was schon bei der Wahl des Studienfaches angelegt war an Haltung zur Welt und zu den Menschen. Die Sozialarbeiter werden hineinsozialisiert in eine Berufsgemeinschaft, die das Abweichende normal erscheinen lässt. Nicht nur das Abweichende des Klientels, sondern auch das Abweichende der Profis: die Naivität, den Optimismus, die Bereitschaft, sich bescheißen zu lassen von den Underdogs dieser Gesellschaft.
Diese Sicht hört man, wenn man jene keineswegs nur männlichen jungen Erwachsenen befragt, die sich für andere Studiengänge beworben haben. Technische, oder solche, die ein „Management“ im Titel führen. Jene also, die sich zwar auch bescheißen lassen, aber sicher nicht von Underdogs.
Nun denn, da sitzen sie, die künftigen SozialarbeiterInnen, früher in den Akademien und jetzt an den Fachhochschulen, und jene, die das Auswahlverfahren nicht überstehen, studieren Psychologie und werden dadurch normaler, können dann wenigstens Gutachten schreiben, die sich einordnen lassen in die Welt des Vernünftigen.
Wer Sozialarbeit studierte, bewies Unbelehrbarkeit. War bereit, auf Sozialprestige und Status und angemessene Bezahlung zu verzichten, obwohl ihm / ihr ein universitäres Studium offengestanden wäre. Da muss Trotz sein bei diesen Leuten, oder Sendungsbewusstsein. Ein starkes Sendungsbewusstsein, denn die meisten bleiben tatsächlich bei diesem Beruf und üben ihn lange Jahre aus.
Das ist wahrscheinlich nicht wirklich dumm, aber es zeigt von Haltung. Und von Haltung ist viel die Rede in der Literatur der Profession. Und über Haltung werde ich auch noch reden hier. Aber was hat das mit Wissen zu tun? Wie kommt man nur auf die Idee, von Wissen zu sprechen im Zusammenhang mit dieser Profession und ihrer Wissenschaft?
Ich werde dem hier und jetzt nachzugehen versuchen, und zwar auf verschiedenen Wegen.
Zuerst werde ich versuchen zu rekonstruieren, aus welchen wesentlichen Elementen sozialarbeiterisches Wissen besteht.
Dann werde ich Beispiele für die Erweiterung sozialarbeiterischen Wissens nennen, um auch zu zeigen, dass sich der Beruf ausdifferenzieren wird.
Schließen werde ich dann mit einer Prognose, einem kurzen und pathetischen Ausblick in die lichte Zukunft der Sozialarbeit. Mit einem Blick auf Sozialarbeit als wissensbasiertes Kunsthandwerk, auf Sozialarbeit als Sozialtechnologie, und auf Sozialarbeit als wissenschaftliche Disziplin.
Element 1: Die Haltung
Jetzt aber, jetzt stehen wir erst am Anfang. Und was steht in der Sozialarbeit stets am Anfang? Natürlich das PROBLEM. Nicht irgendein Problem, sondern i.d.R. ein Problem der Lebensführung, ein Problem der Alltagsbewältigung. Andere Berufe versuchen sich an der Lösung anderer Probleme. Architekten versuchen ein Entwurfsproblem zu lösen, auch das ist ein komplexes Ding. Ingineure versuchen Konstruktionsprobleme zu lösen, Manager Organisationsprobleme. Wir versuchen Alltagsprobleme zu lösen, also jene Probleme, die eigentlich jeder selber lösen können sollte. In einer komplizierten Gesellschaft wie der unseren brauchen viele Menschen aber zur Lösung von Alltagsproblemen Experten für die Lösung von Alltagsproblemen. Uns zum Beispiel. Weil manche Alltagsprobleme mit dem Wissen nicht mehr zu bewältigen sind, das Menschen sich im Laufe ihrer Lebensführung angeeignet haben. Alltagswissen reicht für die Lösung mancher Alltagsprobleme nicht aus, nicht mehr aus.
Weil es keinen allgemeinen Konsens mehr darüber gibt, wie man leben soll. Darüber, ob es noch normal ist, was man tut und fühlt. Weil selbst die Existenz als Kleinkrimineller nicht mehr ohne spezialisierte Kenntnisse über Sozialversicherungsrecht umstandslos zu bewältigen ist. Weil die Institutionen für Laien undurchschaubar geworden sind und deren Ratschlüsse unergründlich. Weil die natürlichen Ratgeber ganz offensichtlich auch zu wenig wissen. Weil heute die Eltern oder gar die Großeltern sich nicht mehr richtig auskennen in dieser Welt, weil deren Leben nicht mehr Modell sein kann für je mein Leben.
Drum braucht es ExpertInnen für die Gesetze des gesellschaftlichen Dschungels, und diese ExpertInnen müssen gelassen sein und tolerant. Sie müssen ein großes Herz haben und dürfen nicht auf eine Lebensweise festgelegt sein. Vielleicht für sich selbst, denn tolerant sein und liberal ist auch eine Lebensweise. Aber ihnen muss vieles am Lebensformen als möglich und denkbar erscheinen, und ihr eigenes moralisches Urteil darf nicht zu hart sein. Sie müssen zuhören können und dürfen nicht erschrecken, wenn man sie mit den eignen seltsamen Taten und Gedanken konfrontiert, und sie müssen die Gesetze wissen, und wie man sich in ihnen bewegen kann, und sie müssen die Wege kennen zum Geld, die Wege zu anderen Dingen, die man so braucht für ein seltsames Leben.
Damit hätten wir bereits eine Beschreibung sozialarbeiterischen Wissens: Es ist ein gelassenes Wissen über die Vielfalt der Welt, und es ist eine Haltung. Die Haltung, dass diese Vielfalt an Lebensweisen vorhanden ist, dass es nicht unsere Aufgabe ist, diese Vielfalt auf eine Norm zurechtzustutzen. Und idealerweise wissen Sozialarbeiter nicht nur, wie man als Angehöriger der Mittelschicht mit fixem Job ein gutes Leben führt, sondern auch, wie man das als Kleinkrimineller, als unausgebildete Frau mit schwierigen Beziehungen zu alkoholischen Männern, als psychisch Kranker oder als überforderter Vater eines ständig brüllenden Säuglings tut. Zumindest aber wissen wir, dass wir bereit sein müssen, das jetzt zu lernen, wenn wir einen solchen Klienten vor uns sitzen haben.
Sozialarbeiterisches Wissen ist also (zumindest auch) ein Wissen um die nötige Haltung. Diese Haltung muss erlernt werden, muss als beruflicher Habitus gefestigt werden. Das geschieht an der Hochschule, nicht nur durch das, was die Studierenden in den Lehreveranstaltungen von den Lehrenden hören, sondern auch und vor allem dadurch, dass sie sich hineinsozialisieren in eine berufliche Kultur. Dass sie eine bestimmte Art, über sich und die Welt zu reden, kultivieren mit ihren Kolleginnen und dass sie diese Art auch bei ihren Exkursionen in die berufliche Praxis wahrnehmen, dass sie Erzählungen von PraktikerInnen hören und aufnehmen und in ihr eigenes Bid von dem integrieren, wie SozialarbeiterInnen so sind. Sie lernen zu sein, wie Sozialarbeiterinnen eben sind. Das ist Wissen.
Andersrum gesagt: Sozialarbeit als Profession ist ein junger Beruf, entstanden erst im 20. Jahrhundert – aus guten Gründen. Erst in der Moderne hat sich jene ausdifferenzierte, komplizierte Gesellschaft herausgebildet, die Sozialarbeit als Beruf nötig und möglich gemacht hat. Vormoderne Sozialarbeit ist nicht denkbar. Sie hat als Voraussetzung jene Anforderung an das Individuum, seine Lebensweise aus freien Stücken zu wählen und zu gestalten, und sei es eine schwierige und prekäre Lebensweise; diesen Anspruch, selbst immer weiter zu tun auch in schwierigen und schwierigsten Situationen, selbst Auswege zu suchen. Diesen immer wieder überfordernden Anspruch, der sich erst im 20. Jahrhundert Stück für Stück ausgeweitet hat auf alle Bereiche der Gesellschaft, auf alle Individuen.
Element 2: Die Orientierung
Und nun können wir einen Schritt weiter gehen. Ich habe zu zeigen versucht, dass die Haltung zu den Möglichkeiten des Lebens wesentlicher Bestandteil der sozialarbeiterischen Professionalität ist, die Haltung allein macht aber noch keinen Profi (obwohl der Profi ohne die Haltung ein schlechter Profi wäre).
Wenn Sozialarbeit grundsätzlich wissen sollte, wie sich erfolgreiche Lebensführung und Alltagsgestaltung auch abseits majoritärer Lebensweisen gestalten kann, dann muss sie nicht nur über Menschen, sondern auch über gesellschaftliche Verhältnisse Bescheid wissen. Über die Fallen und Möglichkeiten, über Gesetze und Hilfsprogramme, über soziale Dynamiken und über Schleichwege durch den Dschungel der Vorschriften. Damit sage ich Ihnen nichts Neues, dieses Wissen gehört ja zu ihrem täglichen Handwerkszeug, das erwirbt man sich rudimentär im Studium, und man baut es sukzessive im Laufe der beruflichen Praxis aus. Es ist ein trickreiches Wissen, geerdet durch den Fallbezug.
Sie kennen das ja, in den Akademien und nicht weniger in den Diplomstudiengängen der FHs ist es repräsentiert durch die zahlreichen Lehrveranstaltungen in den Bezugswissenschaften Recht, Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie, Pädagogik, Sozialmedizin etc.; diese Curricula erweckten mitunter den Eindruck, dass Sozialarbeit als solches kaum existent sei, sondern sozialarbeiterisches Wissen vorrangig aus einer schlechtverdauten Melange der anderen, der „richtigen“ Wissenschaften bestehe, die wir alle nicht richtig gelernt, sondern in die wir nur hineingeschnuppert haben. Vielleicht ist dieser Patchworkcharakter der Sozialarbeitsstudiengänge auch ein wesentlicher Grund, weshalb es immer noch dieses mangelnde Selbstvertrauen vieler Kolleginnen und Kollegen gibt, die meinen, die anderen hätten wenigstens irgendetwas richtig gelernt, und wir, wir seien halt die Praktiker, nicht die Wissenden.
Der Eindruck ist falsch, denn dieses Patchwork dient nur zur Orientierung in der Gesellschaft, den eigentlichen Kern sozialarbeiterischen Wissens macht es nicht aus. Zu diesem gehören neben der – zuerst erwähnten – Haltung und der – von mir als zweitem Punkt genannten – Orientierung in der Gesellschaft noch zwei weitere Komponenten.
Elemente 3 + 4: Technik und Methodik
Da ist noch etwas, das vielleicht das Wichtigste ist, nämlich das Wissen über die Möglichkeiten der erfolgreichen Gestaltung von Hilfsprozessen. Dieses Wissen ist technisch und es ist methodisch. Technisch heißt vor allem kommunikationstechnisch. Wie gestalte ich die Annäherung an die Klienten, was sage ich wann, welche Gesprächstechniken kann ich anwenden, wie behalte ich in einem Gespräch die Kontrolle, mit welchen Gesprächstechniken kann ich die Entscheidungsfähigkeit der Klienten fördern, wie verhandle ich mit Insitutionen, mit Personen aus dem sozialen Umfeld der Klienten, wie gestalte ich Vereinbarungen usw. usf. Auch hier geschieht die Grundlegung im Studium, die Perfektionierung in der Praxis, und die Ausweitung des Repertoires im Lernen an den Kolleginnen und Kollegen bzw. in der Weiterbildung.
Methodisches Wissen geht darüber hinaus und umfasst die Steuerung der Hilfsprozesse insgesamt. Die klassischen Methoden der Sozialarbeit haben Sie alle gelernt, heute beobachten wir eine Entwicklung, die weit über diese klassischen Formen sozialarbeiterischer Methodik hinausgeht. Und damit komme ich auch zum nächsten Abschnitt meines Referats:
Entwicklungen, Vermehrung von Wissen
Ich will nun ausführen, wie sich die Soziale Arbeit derzeit entwickelt, in welche Richtungen sie ihre Kompetenzen ausdehnt und wie sie sich als moderne Profession entfaltet und unentbehrlich macht.
Beispiel 1:
Karin Goger hat Ihnen vorgestern Case Management vorgestellt. Im heutigen Verständnis ist Case Management eine Methode der punktgenauen Konzertierung von Unterstützungsleistungen am Fall, aber auch eine Form der Systemsteuerung. Gestern war ich in der Steiermark und habe mit den Kolleginnen einer Einrichtung an so einer Systemsteuerung gearbeitet: Wir sind ausgegangen von den spezialisierten Leistungen ihrer Stelle, haben uns angeschaut, wie die Gesamtpopulation aussieht, für die diese Leistungen gedacht sind, haben die Wege verschiedener Typen von KlientInnen durch die Organisationen rekonstruiert und erste Vorstellungen entwickelt, wie diese Wege bedürfnisgerecht organisiert werden könnten. Resultat war ein erster Entwurf für ein Modell, das die Arbeitsteilung und die Kooperation zwischen verschiedensten Einrichtungen verändern und sinnvoll regeln könnte. Der Prozess der Implementierung dauert natürlich noch seine Zeit, und zahlreiche Verhandlungen werden zu führen sein. Warum nenne ich ihnen dieses Beispiel? Weil solche umfassenden Überlegungen und das Verständnis, dass es sich dabei um genuin sozialarbeiterische Aufgaben handeln könnte, relativ neu sind. Relativ neu als sozialarbeiterisch methodische Überlegungen, nicht als sozialpolitische oder verwaltungstechnische Überlegungen. Die Sozialarbeit hat in den letzten Jahren ein Verständnis ihrer eigenen Aufgaben entwickelt, das weit über die Arbeit an Einzelfällen hinausgeht, und hat für diese erweiterten Aufgaben auch ein methodisches Repertoire, ein Handwerkszeug. Case Management bietet dieses Handwerkszeug und das theoretische Verständnis. Wir werden nächstes Jahr an der FH St.Pölten einen Master-Studiengang Case Management starten.
Beispiel 2:
Ihre Kollegin Manuela Brandstetter arbeitet nun an unserer Fachhochschule an der Weiterentwicklung von Sozialarbeit als Beratung für Kommunalpolitik und Organisationen. Unter dem Titel „Sozialraumorientierung“ sollen diese institutionellen Kunden lernen, soziale Netze zu fördern, natürliche und zivilgesellschaftliche soziale Netze. Wenn man so will, soll das, was Putnam das Sozialkapital einer Gesellschaft nennt, systematisch gestützt und erweitert werden. Sozialarbeit versteht sich hier nicht mehr als Nischenpraxis, sondern als Profession, die mit ihrem Wissen bei Fragen des konkreten Designs der Gesellschaft und von Institutionen mitredet und Lösungen anzubieten hat.
Beispiel 3:
Gleichzeitig artbeitet die Sozialarbeit an einer weiteren Professionalisierung ihrer Arbeit am Fall. Ich habe Ihnen bei einer Ihrer Tagungen etwas über soziale Diagnostik erzählt. Inzwischen häufen sich die Publikationen zum Thema und es steht zu erwarten, dass sozialarbeiterische Situationseinschätzungen in Zukunft systematischer sein werden, dass Sozialarbeit genauer lernt, ihren eigenen Beitrag zu formulieren, abgegrenzt von den diagnostischen Leistungen der Nachbarberufe. Und es kann sogar schon über mögliche Standards sozialarbeiterischer Diagnostik gesprochen werden.
Wozu führe ich diese Beispiele an? Sie sollen zeigen, dass das Wissen der Profession in Bewegung ist, dass es sich ausweitet, sich neue Felder erobert, und dass Sozialarbeit eine noch vielfältigere Profession werden wird, als sie ohnehin schon ist. Und sie sollen zeigen, dass Voraussetzungen für eine größere Rolle sozialarbeiterischen Wissens im stetig wachsenden Sektor des Sozial- und Gesundheitswesens geschaffen werden.
Ausdifferenzierung des Berufs
Die Vermehrung sozialarbeiterischen Wissens führt auch zu einer Ausdifferenzierung des Berufs. Sie werden in den nächsten Jahren erleben, dass auf dem Arbeitsmarkt SozialarbeiterInnen mit recht unterschiedlichen Abschlüssen auftauchen werden. Die Entwicklung hat mit der Einführung der Diplomstudiengänge an den Fachhochschulen begonnen, das war aber erst der Anfang.
Einer der Gründe dafür ist die europäische Hochschulpolitik, vor allem die europaweite Umgestaltung der Hochschulabschlüsse, bekannt unter dem Stichwort „Bologna-Prozess“. Dieser in der gesamten Union stattfindende Prozess hat eine Reihe von Komponenten, von denen die Vereinheitlichung der Abschlüsse nur ein Teil ist. Es ist Ihnen bekannt, dass eine der gravierendsten Änderungen die Einführung eines Bakkalaureats- bzw. Bachelor-Abschlusses als ersten Abschluss ist, auf diesen Bachelor setzt dann ein Master-Studium auf. Zum Master kommt man nach 5 Studienjahren – immer vorausgesetzt, man schafft das Studium in der Mindeststudienzeit. An Fachhochschulen ist das ja die Regel.
Sehen wir uns also einmal an, welche Bildungsgänge jene Kolleginnen und Kollegen absolviert haben werden, die sich in ca. 10 Jahren als SozialarbeiterInnen im Berufsfeld tummeln werden.
Im Vergleich zu früheren Verhältnissen mag das unübersichtlich sein. Über die AbsolventInnen der Diplomstudiengänge haben wir bereits gesprochen, sie sind in Kürze auf dem Arbeitsmarkt, und da strömen in den nächsten 5 Jahren noch einige nach. Lauter Magistri (FH). Dazu wird auch noch eine gewisse Anzahl an Akademie-AbsolventInnen kommen, die einen berufsbegleitenden Magisterstudiengang, einen sogenannten Nachgraduierungsstudiengang besucht haben werden. Es sieht so aus, als würden das nicht allzuviele werden. Das liegt nicht am mangelnden Interesse der KollegInnen, sondern an der bloß tröpfelnden Finanzierung durch das Bildungsministerium. Zumindest vorerst wird das ein Abschluss auf dem Niveau der Diplomstudiengänge sein. Sie sehen, das ist noch nicht Bologna-konform, denn das sind nur 4 Jahre Studium.
Nächstes Jahr, also im Herbst 2006, werden an einigen Standorten, u.a. in St.Pölten, aber noch nicht in Wien, die ersten Bakkalaureats-Studiengänge starten. Auf den ersten Blick scheint das zu heißen „zurück an den Start“, zurück zu den 3 Jahren der alten Akademie. Das kann man so sehen, und doch wird es etwas anderes sein. Die künftigen Bakkalaureats-Studiengänge werden immer noch SozialarbeiterInnen heranbilden, sie werden praxisbezogen sein, sie werden auf eine soziale Berufstätigkeit vorbereiten. Aber sie werden – das lässt sich jetzt bereits voraussagen – intensiver sein, als es die Akademien waren. Das liegt an der Entwicklung des Berufs, darüber werde ich später noch sprechen, das liegt aber auch an ihrer neuen Einbindung in das Hochschulsystem. Die künftigen Bachelor werden fit für den Beruf sein, und es ist anzunehmen, dass tatsächlich ein guter Teil der AbsolventInnen dann vorerst einmal in den Beruf geht, praktische Sozialarbeit macht, „Front Line Social Work“. Ein Teil aber wird auf der Hochschule bleiben oder möglichst rasch auf sie zurückkehren wollen. Das sind jene, die ich schon vorhin erwähnt habe: Jene, die wissenschaftliche Neugier haben, die im Feld des Sozialwesens forschen wollen, die sich spezialisieren wollen. Sie können weitere 2 Jahre studieren, und dieses Studium wird an den Fachhochschulen weiterhin eine berufspraktische Ausrichtung haben müssen. Von einem völligen Abtriften jener Studierenden in den Elfenbeinturm akademischer Präpotenz kann also keine Rede sein. Sehr wohl aber von einer intensiveren Aneignung von Fähigkeiten der strukturierten Reflexion, wie sie für wissenschaftlich grundgelegte Berufe Standard ist.
Wie diese künftigen Magisterstudiengänge aufgebaut sein werden, darüber lässt sich heute noch wenig sagen. Die FHs haben noch einige Jahre Zeit, bevor sie die Curricula konzipieren müssen. Vorüberlegungen gibt es allerdings schon. Die ersten AbsolventInnen werden spätestens 2011 am Arbeitsmarkt erscheinen. Dann hätten wir die neue professionelle Landschaft der Sozialarbeit komplett. In den Jahren darauf (ich spreche von 2011 bis 2020 und später) wird sich langsam der Anteil der DSAs verringern, der Anteil der Bachelor und Master erhöhen. Sie sehen, das ist ein langfristiger Prozess. Und der wäre sogar noch einigermaßen überschaubar, wenn, ja wenn es nicht auch noch den oberen Teil dieser Grafik gäbe.
Eine professionelle Berufskarriere wird in Zukunft – nicht nur in der Sozialarbeit – nicht mit dem Erwerb eines berufsqualifizierenden Diploms, Bakkalaureats oder Master-Titels auf Dauer garantiert sein. Längst sind es nicht nur die naturwissenschaftlichen Fächer, die ihren Wissensstand rasant vergrößern, sondern auch die Professionen, die mit Sozialtechnologie zu tun haben. Auch hier geht die Spezialisierung munter voran, und die Techniken der Fallbearbeitung, der Organisation von Hilfen, des Gesprächs etc. entwickeln sich zügig weiter. Für die Tätigkeit in Spezialgebieten braucht man spezielle Kenntnisse, und um auf dem gleichen Niveau zu bleiben, muss man ständig weiterlernen. Dieses Weiterlernen wird auch im Sozial- und Gesundheitswesen zum Standard werden, und 3-tägige durch den Dienstgeber organisierte Fortbildungen jährlich werden nicht reichen.
Eine Option, die wir den Kolleginnen und Kollegen eröffnen wollen, ist die eines Doktoratsstudiengangs. Das wird nicht für viele eine Möglichkeit sein, aber es soll doch für einige möglich sein. Für jene, die sich auf einem sehr hohen Niveau mit Sozialarbeit beschäftigen wollen. Wir als Profession brauchen solche Leute. Sie sollen – in Übereinstimmung mit ihrer sozialarbeiterischen Identität – an der wissenschaftlichen Grundierung des Berufs arbeiten. Sie sollen die Möglichkeit haben, zu forschen und als akademische ExpertInnen aufzutreten, als sozialarbeiterische akademische ExpertInnen. Und wir brauchen jene künftigen Kolleginnen und Kollegen auch als Lehrende an den Fachhochschulen. Momentan gibt es noch große, ja geradezu unüberwindliche Hürden beim Zugang zu einem Doktoratsstudium als SozialarbeiterIn. Wir hoffen, dass sich diese Hürden sukzessive abbauen lassen, das Team der FH St.Pölten arbeitet daran, aber ich bin sicher, es wird da nicht allein bleiben.
In größerem Ausmaß werden allerdings die bereits bestehenden und die künftigen berufsbegleitenden Master-Studiengänge, die sogenannten Weiterbildungsmaster die Landschaft verändern. Zuletzt waren es fast ausschließlich Sozialmanagement-Master, die im Berufsfeld eine Rolle gespielt haben, in Zukunft werden einige weitere Felder hinzukommen. Nun können auch die Fachhochschulen Hochschullehrgänge, auch mit Master-Abschluss, anbieten, und während die Hochkonjunktur des Sozialmanagements vorbei sein dürfte, werden neue Angebote entstehen.
Diese Weiterbildungsmaster sind teuer. Derzeit muss man mit mindestens ca. 9000 Euro für ein 4-semestriges Studium rechnen. Im günstigen Fall erhält man Unterstützung vom Arbeitgeber. Ein oder mehrere solche Studien werden in Zukunft wohl für manche zur berufsbezogenen Bildungslaufbahn gehören.
Weiterhin werden natürlich Zusatzausbildungen ohne akademischem Abschluss eine Rolle spielen, seien es jetzt Supervisions-, Mediations-, Suchtberater-, Therapie- Ausbildungen oder was es noch so relevantes auf diesem Markt gibt. Abzusehen ist allerdings, dass die seriöseren (und leider auch die unseriöseren) dieser Angebote versuchen, sich in das System der Hochschulabschlüsse einzuklinken.
Etwas anderes zeigt sich hier auch, sie sehen´s auf der Grafik: In diesem Feld der Zusatzausbildungen und sozialwesenbezogenen Master-Studiengänge sind die Sozialarbeiterinnen nicht mehr allein: Auch Leute, die aus ganz anderen beruflichen Bildungskarrieren kommen, machen diese Kurse, und sie erwerben dadurch Wissen, das sozialarbeitstypisch ist. Sie treten dann gestärkt als KonkurrentInnen auf dem Arbeitsmarkt auf.
Man kann das aber auch positiv sehen: Sozialarbeiterisches Wissen wird nachgefragt – auch von Personen, die ursprünglich eine andere Ausbildung absolviert haben. Es gewinnt damit an Wert.
Eine letzte Frage zum Abschluss:
Ist Sozialarbeit auch eine eigene Wissenschaft?
Im Gegensatz zu vielen Kolleginnen und Kollegen lese ich gerne Fachliteratur. Sie ist spannend und anregend – na gut, nur ein Teil davon. Ich kann berufsbedingt auch schon recht schnell lesen, man entwickelt so seine Techniken des Querlesens, des Diagonallesens, und des Lesens von Inhaltsverzeichnissen und von halben Kapiteln. Trotzdem gelingt es mir auch nicht annähernd, das Feld der deutschsprachigen Publikationen abzugrasen. Ich weiß, dass ein Vielfaches dessen, was ich wahrnehme, meiner Aufmerksamkeit entgeht. Ich sehe auch, dass ziemlich klar zu unterscheiden ist, welche Publikationen man einer Sozialarbeitswissenschaft zurechnen kann, und welche der Soziologie, Psychologie, Sozialpsychologie, Politikwissenschaft, Sozialanthropologie etc. Aus dieser praktischen Erfahrung heraus tendiere ich zur Auffassung, dass Sozialarbeitswissenschaft tatsächlich eine eigene, unterscheidbare Disziplin darstellt. Wenn ich es unterscheiden kann, werden´s andere wohl auch unterscheiden können. Eine Disziplin, zu der es interessante Beiträge auch aus den benachbarten Disziplinen gibt, und die selbst notwendigerweise hinüberschauen muss in die Welten der Soziologie, Pädagogik etc. – aber doch: eine Disziplin mit eigenem wissenschaftlichen Diskurs, und das nicht zu knapp.
In Deutschland ist es fast so weit, ist die Anerkennung nahezu vollzogen. Hier ist bereits von einer Fachwissenschaft Soziale Arbeit die Rede. Und das ist auch gut so. Die sich etablierende Forschung an den FH-Studiengängen kennzeichnet auch in Österreich Anfänge der Etablierung von Sozialarbeit als Wissenschaft.
Denn: Sozialarbeit generiert nicht nur Lehrbücher des „how to do“, also Praxisanleitungen, ganz im Gegenteil. Sie ist wissenschaftlich nicht nur im Sinne dessen, dass man untersuchen kann, wie sie wirkt, sondern auch in dem Sinne, dass sie auf Basis ihres eigenen Wissens und Selbstverständnisses eine Debatte führt unter Einbeziehung philosophischer, erkenntnistheoretischer, gesellschaftswissenschaftlicher, kulturwissenschaftlicher Positionen. Sozialarbeit ist reflexiv, wie es eben nur eine recht ausgewachsene Profession sein kann. Und indem sie über sich selbst wissenschaftsförmig nachdenkt, denkt sie auch über die Gesellschaft, über prekären Alltag usw. nach, also über all das, für dessen Bearbeitung sie gesellschaftlich beauftragt ist.
Andersrum gesehen, von außen, von der Gesellschaft her: Eine reflexive Moderne, eine entwickelte Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts, braucht offensichtlich die Sozialarbeit, und braucht die Art, wie Sozialarbeit und Sozialarbeitswissenschaft über Probleme der Lebensführung und der Gesellschaft nachdenkt. Wir werden ihr das liefern, auf der Ebene der Fallbearbeitung, auf der Ebene der Organisation, auf der Ebene des Diskurses. Mit unserer gerne karikierten, aber wissenden Haltung, mit unserem Orientierungswissen, und mit unserem technischen und methodischen Wissen.