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Professionalität und Ambivalenz. Anmerkungen zu einem Unfall.
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- Erstellt am Sonntag, 14. März 2010 08:59
Jänner 2006.
mit Bezug auf
Margarete Niedermayr: Verurteilung eines Sozialarbeiters. Ein Prozessbericht. Dezember 2005.
1. Der Tod einer Jugendlichen
Am 22. oder 23. Mai 2004 stirbt die 17-jährige Martina. Die Familie bemerkt den Tod erst am 24. Mai. Martina ist im Österreich des beginnenden 21. Jahrhunderts verhungert. Verhungert, so könnte man es dramatisch ausdrücken, unter den Augen von Ärzten und eines Sozialarbeiters, während aufrechter Betreuung durch das Jugendamt. Nicht aus Armut, sondern weil der religiöse Wahn der Mutter, ihre paranoide Angst vor Vergiftung, zu einer dauerhaften Mangel- und Unterernährung der loyalen Tochter führten. Ein extremer Fall, glücklicherweise eine Ausnahme. Mit einem Strafprozess gegen den verantwortlichen Sozialarbeiter und dessen Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung wurde nun ein vorläufiger Schlussstrich unter die Angelegenheit gezogen. Vorläufig, weil auch noch eine Verhandlung gegen den zuständigen Amtsarzt aussteht, vorläufig, weil die Staatsanwaltschaft gegen die Strafhöhe berufen hat.
Mir geht ein Prozessbericht zu, den Kollegin Margarete Niedermayr (2005) verfasste. Sie beobachtete für den Oberösterreichischen Berufsverband der SozialarbeiterInnen den zweitägigen Strafprozess und fasst die Fakten zusammen. Ihr prägnanter Text lässt ihre eigene Erschütterung erahnen: Die Erschütterung über den Tod der Jugendlichen, aber auch über das Ausmaß von Inkompetenz (nennen wir es vorerst einmal so – im Laufe der nun folgenden Überlegungen werde ich versuchen, genauer zu ergründen, was sich denn hier manifestierte) der Akteure. Im Bericht wird deutlich, dass es nicht eine Verkettung unglücklicher Zufälle ist, die zum Tod von Martina führten, sondern dass das Versagen der öffentlichen Aufsicht System hatte.
Ich nehme den Bericht zum Anlass, um mich mit einigen grundlegenden Fragen der Sozialen Arbeit auseinanderzusetzen. Das ist heikel. Besonders dramatische Fälle, die auch die Aufmerksamkeit der Medien erlangen, sind in der Regel nicht „typische“ Fälle. Es sind nicht solche, die man als Muster für das „gewöhnliche“ Funktionieren eines Systems nehmen könnte. Tschernobyl ist nicht charakteristisch für die Energieerzeugung mit Atomenergie, der Untergang der Titanic nicht charakteristisch für die Schifffahrt, ein Flugzeugabsturz nicht charakteristisch für die Luftfahrt. Und der Tod eines Kindes in einer betreuten Familie ist nicht charakteristisch für die Tätigkeit der Jugendwohlfahrt.
Jede der genannten technischen Katastrophen war allerdings Anlass für eine Überprüfung des Systems. Voraussetzung dafür ist eine genaue Erkundung des Ablaufs, eine in jeder Bedeutung des Wortes peinliche Untersuchung der Umstände, die zum größten aller anzunehmenden Unfälle geführt haben. Für die Jugendwohlfahrt ist der Tod eines Kindes in einer betreuten Familie ein solcher GAU.
Die direkte Untersuchung kann ich nicht leisten. Dazu habe ich keinen Auftrag, habe nicht den Zugang zu den Akten, nicht den Zugang zu den handelnden Personen. Ich habe nur einen Prozessbericht. Meine Untersuchung wird also eine distanzierte und bleiben müssen. Eine Voruntersuchung gewissermaßen, eine theoretische Reflexion anhand bruchstückhafter Informationen. Eine, die anknüpft an das, was ich als Gemengelage von Haltungen von StudentInnen und PraktikerInnen der Sozialen Arbeit kenne, was ich an Erinnerungen an Jugendwohlfahrtsarbeit habe (1).
2. Unfälle und große Unfälle der Sozialarbeit
Wie wären Unfälle der Sozialen Arbeit zu untersuchen? Vorweg – wenn mich Soziale Arbeit interessiert, wird die Untersuchung die Aktionen und Nicht-Aktionen der sozialarbeiterischen Profis und ihrer Organisation in den Mittelpunkt zu rücken haben. Diese Vorentscheidung scheint nicht selbstverständlich zu sein. Fremdattribuierungen sind die Regel. So verteidigt sich z.B. der Angeklagte im vorliegenden Prozessbericht damit, dass Amtsarzt, Familienrichter und andere auch nichts getan hätten. Man versteigt sich sogar dazu, die Verantwortung der Mutter anzuführen. Die Kultur einer kritischen Selbstbefragung angesichts von Unfällen ist in dieser Profession nicht sehr weit verbreitet. Eine öffentlich – zumindest fachöffentlich – geführte Auseinandersetzung, die versucht, die Lehren aus Misserfolgen zu ziehen, würde der Profession zwar gut anstehen, aber es gibt sie nicht oder fast nicht. Ich komme nicht umhin, das als bedauerliches Manko der fachlichen Kultur zu sehen.
Damit wäre also benannt, was mit diesem Beitrag jedenfalls erreicht werden soll: Er soll anregen zu fachlichen Nachforschungen, zur Nutzung des Misserfolgs als Quelle der Erkenntnis. Er tut dies auf einer sehr schmalen Datenbasis, zugegeben. Wir bräuchten die Unterstützung der Organisationen, um die Datenbasis zu verbreitern.
Zur Untersuchung wäre vorerst der Ablauf zu rekonstruieren. Anhand dieses Ablaufs wären dann die kritischen Punkte zu bestimmen, also die Zeitpunkte, zu denen rettende Aktionen noch möglich gewesen wären, aber nicht gesetzt wurden. Es zeigt sich i.d.R. eine ganze Serie von kritischen Zeitpunkten, zu denen die tragische Entwicklung der Ereignisse eigentlich schon sichtbar gewesen wäre, von den Akteuren aber ignoriert wurde (vgl. dazu z.B.die Darstellung der Katastrophe von Tschernobyl bei Dörner 1992). Im organisatorischen Alltag gibt es genügend Sicherheitsschleifen, die das Eintreten eines großen Unfalls verhindern. Es müssen schon außergewöhnlich viele Fehlleistungen zusammenkommen, damit nicht nur das gewöhnlich schlechte Ergebnis produziert wird, sondern ein außergewöhnlich schlechtes Ergebnis.
Daher wird der große Unfall von den Akteuren üblicherweise auch als untypisch charakterisiert. Sie wehren sich gegen seine Untersuchung, weil er sich so selten ereignet. Sie argumentieren, dass dabei die gewöhnlich tadellose Leistung der Organisation ignoriert werde. Nun kann man das aber auch anders sehen: Wenn einmal das Unwahrscheinliche eintritt, nämlich die Summierung von vielen Fehlern, dann muss das Auftreten mehrerer Fehler relativ häufig sein. Diese führen dann zwar nicht zum großen Unfall, können allerdings kleinere Unfälle produzieren, die i.d.R. keine besondere Aufmerksamkeit erregen. Die Aufmerksamkeit für den großen Unfall ermöglicht die Überprüfung der Abläufe – etwas, was bei den häufigeren kleineren Unfällen nicht möglich ist, weil kleine Unfälle nicht bekannt werden. Die Untersuchung des großen Unfalls ermöglicht also nicht nur (und gar nicht in erster Linie) die Vermeidung weiterer großer Unfälle, sondern auch eine Verbesserung der „gewöhnlichen“ Tätigkeit der Organisation.
Der Vorteil der Untersuchung von Unfällen, großen wie kleinen, gegenüber einer stets moralisch aufgeladenen „Ethik“-Diskusssion liegt auf der Hand: Untersucht werden nicht in erster Linie die moralischen Qualitäten einer handelnden Person, sondern Ablaufstrukturen in Organisationen und Regeln und Kontexte des Handelns. Die Ergebnisse können in „technische“ (2) Verbesserungen umgestaltet werden, die nicht auf die moralische Qualität einzelner Akteure zielen, sondern auf grundsätzlich unabhängig von der menschlichen und moralischen Größe einzelner Akteure unabhängige Faktoren (3).
3. Autonomie der Professionellen und der Klienten als Karikatur
In ihrem Bericht rekonstruiert Niedermayr eine mehrere Jahre dauernde Geschichte der Beschäftigung verschiedenster Menschen und Institutionen mit dem Fall. Die Familie ist bekannt, den Nachbarn, Ärzten und Ärztinnen, dem Jugendamt und anderen Institutionen. Einige schlagen immerhin Alarm, weil Martina bedrohliches Untergewicht aufweist. Aber niemand macht etwas. Etwas machen im Sinne von Eingreifen, rettende Aktionen setzen. Im günstigsten Fall wird das Jugendamt beauftragt, etwas zu tun. Der Eindruck, den man vom Jugendamt bekommt, ist desaströs: Warnende Meldungen von außen scheinen nicht Aktionen auszulösen, sondern der Apathie nur eine andere Form zu geben. Kommen eine Zeit lang keine Meldungen von außen, dann vermeidet das Jugendamt den Kontakt mit der Familie. Kommt eine Meldung, dann wird in quälender Langsamkeit eine einzelne Aktion gesetzt (ein Hausbesuch, ein Gespräch). Zeigt sich die Mutter unkooperativ (was die Regel ist), dann belässt man es dabei.
In Cristi Puius Film „Der Tod des Herrn Lazarescu“ finden wir eine ähnliche Abfolge. Lazarescu Dante Remus hat Schmerzen und ruft die Rettung. Auf seiner Odissee durch einige Bukarester Spitäler verschlechtert sich sein Zustand, kurz vor der rettenden Operation stirbt er schließlich. Einige Ärzte erkennen die Gefahr, aber die Operation wird jeweils an ein anderes Spital delegiert. Die Sanitäterin, die als erste Kontakt zu ihm hat und ihn die ganze Nacht begleitet, stellt zwar eine falsche Diagnose, aber ihr ist die Dringlichkeit der Hilfe bewusst. Ihre Versuche, die Ärzte zum Handeln zu bewegen, werden mehr oder weniger empört als Anmaßung zurückgewiesen.
Ein ähnlicher Mechanismus ist im Jugendamt zu beobachten: Die Meldung einer Gefährdung durch Dritte löst ambivalente Reaktionen aus. Einerseits ist man gezwungen, darauf zu reagieren, andererseits ist eine solche Handlungsaufforderung immer auch eine Zumutung: Wie können es andere wagen, uns zu sagen, was wir zu tun hätten. Die anderen sind für die Logik des Jugendamtes stets Laien, und es liegen Sätze der Abwertung nahe. Die Meldung kommt immer zu spät, zu unpräzise, die MelderInnen haben selbst Versäumnisse zu verantworten, und wenn sie rechtzeitig das Richtige getan hätten, dann wäre es gar nicht so weit gekommen, und letztlich sind es doch wir Profis, die die Situation gültig einzuschätzen haben.
Im vorletzten Spital im Leben des Herrn Lazarescu spitzt sich ein solches professionelles Ethos karikaturhaft zu: Ärztin und Arzt in der Notaufnahme wenden viel Energie auf, um der Sanitäterin die Unangemessenheit ihrer Einmischung deutlich zu machen. Vom Patienten versucht der Arzt die ausdrückliche und informierte Einwilligung zur Operation zu erhalten. „Er besteht darauf, dass sich der Patient als Subjekt zu erkennen gibt. Der alte Mann ist zu diesem Zeitpunkt schon zu geschwächt und angegriffen, um darauf noch bewusst zu reagieren. Er bedarf dringend der Behandlung, weil er nicht mehr in der Lage ist, deren Implikationen abzuschätzen“ (Rebhandl). Die Ärzte inszenieren zwei Merkmale von Professionalität übertrieben: die professionelle Autonomie, die Verpflichtung, nach den eigenen Regeln zu einer selbstständigen Lageeinschätzung zu kommen – und den Bezug auf den Patienten als Subjekt, als entscheidungsfähiges Individuum. Das Resultat ist dann die Unterlassung der erforderlichen Hilfeleistung.
Beide Elemente – die Verteidigung der eigenen Entscheidungsautonomie gegen Dritte und das Insistieren auf der ausdrücklichen Zustimmung des Patienten bzw. der Klientin – finden sich in einer ähnlich absurden Zuspitzung und jedenfalls mit dem gleichen letalen Resultat im vorliegenden Jugendamtsfall (4). Die Warnungen der Schule, des Hausarztes, weiterer Ärzte und anderer Personen wurden offensichtlich vorerst abgewertet, „zurechtgestutzt“ auf ein Mindestmaß an Relevanz. Sie können eine Hinwendung des Jugendamtes zum Fall kurzfristig veranlassen – auf Meldungen folgte offensichtlich tatsächlich jeweils eine Kontaktaufnahme mit der Familie –, aber es wurde der Eindruck sorgfältig vermieden, dass diese Meldungen darüber hinaus die Vorgangsweise des Jugendamtes bestimmen könnten.
Der Sozialarbeiter versuchte die Zustimmung der Mutter zu Maßnahmen zu erreichen, die das Leben der Tochter retten hätten können. Das ist grundsätzlich ein kunstgerechtes Vorgehen. Das Wissen um die Bedeutung der Mitarbeit der Klienten für die Erfolgsaussichten einer Maßnahme gehört zu den basalen Wissensbeständen der Profession. Weniger kunstgerecht war die Reaktion auf die Nicht-Mitarbeit der Mutter – nämlich der Rückzug.
Ich fand dieses Muster immer wieder bei Jugendamtsfällen, und zwar in 2 Ausprägungen: Die Nicht-Kooperation wird zum Anlass für ein Einstellen der Hilfe genommen, oder wegen der vordergründigen Nicht-Kooperation wird nur mehr mit dem Gericht gedroht, also auf völlige Konfrontation umgeschalten (5). Bei beiden Varianten kann die Fachkraft die nötige Ambivalenz der eigenen Rolle nicht durchhalten: Wie in kaum einem anderen Handlungsfeld der Sozialen Arbeit ist die Ambivalenz zwischen Hilfe und Kontrolle (von Wächteramt und Hilfsauftrag) so ausgeprägt und so konstituierend für die professionelle Rolle wie in der behördlichen Jugendhilfe. Diese Ambivalenz muss inszeniert werden – und zwar tatsächlich als Ambivalenz, und nicht als Alternative, nicht im Sinne von „bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt“. Die Zwangsmaßnahme, auch wenn sie in Erwägung gezogen wird, muss immer in ständige Hilfsangebote eingebettet sein, und der Eingriff schließt zur Schau gestelltes Verständnis für die Stresssituation der Klienten keineswegs aus. In diese Richtung gehen auch die fachlich-methodischen Regeln, wie sie in der Literatur zur Sozialen Arbeit im Zwangskontext zu finden sind (z.B. bei Kähler 2005, Trotter 2001, Gehrmann/Müller 2005).
Die Absurdität, das Verhältnis von KlientIn und SozialarbeiterIn auf ein rein beiderseitig autonomes zu reduzieren, das dann auch noch durch das völlige Absehen von energischerer Einflussnahme gekennzeichnet sein (bzw. seitens der Sozialarbeit an „Professionalität“ gewinnen) soll, findet man nicht nur in fataler Praxis, sondern auch in manchen (professions-)theoretischen Zugängen. So referiert z.B. Becker-Lenz (2005) aufbauend auf Oevermann ein Verständnis von Professionalisierung, das die institutionelle Entflechtung von Hilfe und Kontrolle erfordert. Hilfe wäre dann nur auf der Basis eines freiwilligen Arbeitsbündnisses möglich, das Kontrollaspekte an institutionell (und damit wohl auch personell) andere auslagert. Solche Vorschläge und Vorstellungen, die Funktionentrennung zugunsten einer vermeintlichen Professionalität weiterzutreiben, erscheinen absurd, zumal Hilfe und soziale Kontrolle logisch und sozial untrennbar miteinander verbunden sind, wie auch Fritz-Rüdiger Voltz (2005) in seinen Überlegungen zur Gabe ausführt: „Es handelt sich nicht allein um eine Beziehung zwischen zwei Akteuren, sondern um einen von vornherein sozialen, und das heißt auch Gesellschaft konstituierenden Prozess. In diesem Prozess bilden sich nicht nur soziale Beziehungen, sondern es entstehen auch soziale Bindungen und soziale Verbindlichkeiten. Nichts an diesem Prozess ist (…) von vornherein und nur und immer gut. Auch die Phänomene der Dynamik von Geben, Nehmen und Erwidern der Gabe sind prinzipiell durch eine hohe Ambivalenz gekennzeichnet.“
Der Versuch, sich aus dieser Ambivalenz auszuklinken, ist nicht nur praktisch kontraproduktiv, sondern er verschärft auch noch die ohnehin bereits vorhandene Vereinzelung und Isolierung der KlientInnen Sozialer Arbeit. In den potenziell mächtigen SozialarbeiterInnen des Jugendamtes tritt ihnen die gesellschaftliche Ambivalenz personalisiert gegenüber. Es ist nicht irgendein beliebiger und austauschbarer Experte, der hier vor ihnen steht, sondern eine mit staatlicher Macht ausgestattete Person, die nicht nur für sich selbst als Person spricht, nicht nur als VertreterIn einer wie auch immer begründeten Fachlichkeit, sondern als SprecherIn einer sich um privates Leben kümmernden gesellschaftlichen (hoheitlichen) Organisation. Die Hilfs- und die Kontrollfunktion aufzuspalten, mag institutionell bequem und manchmal sogar prozessual ganz nützlich sein und den professionellen und beamteten Akteuren das Leben erleichtern (die Eingreifenden müssten sich nicht der Mühe der Selbstüberwindung unterziehen, gegen die deklarierten Wünsche eines vertrauten Menschen zu handeln, und die „BeziehungsarbeiterInnen“ könnten ihre Hände in Unschuld waschen und andere zu „Bösen“ erklären), die Situation der KlientInnen wird dadurch verschärft: Die Eingreifenden sind nicht mehr erreichbar, und wer erreichbar ist, ist für nichts verantwortlich (6).
Hinweise, dass die KlientInnen das auch so sehen, findet man z.B. bei Hellmann (2005: 56), der in einer retrospektiven Evaluation KlientInnen zu Wort kommen lässt und konstatiert „... dass die deutlich überwiegende Anzahl der KlientInnen die dem Jugendamt obliegenden Grundfunktionen von Hilfe und Kontrolle als zusammengehörige Seiten einer Medaille realisiert und im Grundsatz akzeptiert bzw. ausdrücklich begrüßt.“
Retrospektiv, also in zeitlichem Abstand zur Krise, wird für die KlientInnen die frühere Situation als eine Phase begrenzter Autonomie sichtbar. Besonders deutlich ist diese Einschränkung der Autonomie bei Personen, die von Isolation (7) betroffen sind, d.h. hier, dass in deren Lebenswelt (8) und deren Lebensfeld (9) die Perspektiven von anderen nicht mehr hinreichend repräsentiert sind. Da menschliche Autonomie aber ohne ständige Bezugnahme auf Andere und auf die Anforderungen des gesellschaftlichen Lebensraums nicht zu erhalten ist, kann Isolation auch nur schwerlich als Autonomie interpretiert werden.
Das Jugendamt als Institution einer funktionell ausdifferenzierten Gesellschaft steht subsidiär zur Verfügung, wenn „natürliche“ soziale Netze nicht ausreichen, um die Hineinentwicklung von Kindern / Jugendlichen in die Gesellschaft zu garantieren. Es schützt so gleichermaßen die individuellen Rechte und Möglichkeiten der Kinder wie das Interesse der Gesellschaft an der Inklusion ihrer Mitglieder.
Die Überwindung der Isolation mancher Individuen kann einige Kraftanstrengung erfordern. Unter rechtsstaatlichen Bedingungen bedarf es entsprechender Regeln für die Bedingungen, unter denen solche Eingriffe stattfinden dürfen – doch kann die aktuelle Unfähigkeit der KlientInnen, ihre Isolation zu überwinden, nie die absolute Schranke sein.
Die Intervention des Jugendamtes zugunsten von Kindern und ihren Entwicklungsmöglichkeiten ist dann gerechtfertigt, wenn sie nicht als Strafaktion, sondern als eingreifende Hilfe organisiert ist. In der Literatur wird der Terminus „Zwang“ bzw. „Zwangskontext“ (Kähler 2005) gerne verwendet – zuletzt auch ein wenig beschönigend oder psychologisierend „aktivierende Sozialarbeit“ (Gehrmann/Müller 2005) oder „Arbeit mit unmotivierten“ bzw. „unfreiwilligen Klienten“ (Trotter 2001). Die Hilfe ist nicht nur das zusätzlich Angebotene, das den Eingriff, oder wenn man so will den „Zwang“ begleitet, sondern die Hilfe besteht schon im Eingriff selbst (weshalb ich den Terminus „eingreifende Hilfe“ bevorzuge), sondern ist dem richtig gesetzten Eingriff immanent. Und dies mitunter im doppelten Sinne: Zum einen kann der Eingriff rettend sein, zum anderen kann die Verantwortungsübernahme durch die Jugendwohlfahrtsbehörde sowohl den Eltern als auch den Kindern ermöglichen, eine Entscheidung nicht selbst treffen zu müssen, die sie im Moment nicht selbst treffen können, weil sie Elementen ihres Selbstkonzepts radikal zuwiderläuft (10).
Wenn wir uns noch einmal auf das vorhin verwendete Bild des Herrn Lazarescu beziehen: Es bedarf der Entscheidung des Arztes, selbst die Verantwortung für die Hilfe – im dortigen Fall die Operation – zu übernehmen. Eine Operation ist zweifellos ein eingreifendes Verfahren. Um sich in einer Gesellschaft sicher und „behaust“ fühlen zu können, müssen Menschen sich auch darauf verlassen können, dass im Falle ihrer eingeschränkten Entscheidungsfähigkeit andere Entscheidungen treffen, die auf Perspektive die Entscheidungsfähigkeit und sozial verankerte Autonomie der Gesellschaftsmitglieder wieder herstellen. Der Eingriff („Zwang“) muss so stets der Hilfe untergeordnet, von unterstützenden Aktionen begleitet oder überformt und auf die raschestmögliche Wiederherstellung der Selbstbestimmung der Klienten gerichtet sein.
Im Jugendamt wird das durch die Triangulierung der Verantwortung noch verschärft: Es handelt sich nicht nur um eine „Sache“ zwischen (in diesem Fall) der Mutter als Klientin und dem Sozialarbeiter (11). Martina, die Jugendliche, mit ihren Lebens- und Entwicklungschancen ist im Zentrum des Auftrags der Jugendhilfe, sie ist Mitspielerin in diesem Verhältnis. Ihr Wohlergehen legitimiert ohnehin schon das aktive Interesse des Sozialarbeiters an der Familiensituation und gegebenenfalls auch eingreifende Maßnahmen.
4. Ablauflogik, Verantwortung und Respekt
Zeichnet man nach den Angaben aus dem Prozessbericht ein Ablaufdiagramm, so wird sichtbar, dass jene Ärztinnen und Ärzte, die mit Martina – bzw. am Beginn des Prozesses auch mit ihrem Bruder – beschäftigt waren, bald wieder den Kontakt zur Familie verloren. Kontinuität gab es nur beim Jugendamt (repräsentiert durch die mittlere horizontale Linie). Den Abschluss bildete jeweils eine Meldung an das Jugendamt: Es bestehe Gefahr. Aus dem Bericht geht nicht hervor, ob das Jugendamt außer geegentlichen Hausbesuchen noch andere Aktivitäten gesetzt hat. Es ist auch nicht ersichtlich, ob eines der Kinder, die Mutter oder der seit 1998 getrennt lebende Vater zu irgend einem Zeitpunkt von sich aus Hilfe gesucht haben.
Abbildung 1: Ablaufdiagramm des Falles Martina (vereinfacht)
Grafik anklicken: vergrößerte Darstellung.
Auch wenn sich der genaue Ablauf anhand dieses Berichtes nicht in allen Details rekonstruieren lässt, ist doch erkennbar, dass außer dem Jugendamt alle anderen Akteure ihr Engagement im Fall begrenzen können. Sie setzen einen Schlusspunkt, weil die Mutter (und mit ihr: Martina) nicht mehr kooperiert. Mit einer Alarmmeldung an das Jugendamt wird diese Beendigung des Engagements abgerundet.
Wir haben es mit einigen parallelen Systemlogiken zu tun, mit relativ selbstständigen Welten. 7 ärztliche Interventionsprozesse, das Pflegschaftsgericht, die Welt des Jugendamts und die Welt der Lebensführung der Familie. Durchgehend, ununterbrochen, konstituierend für diesen Fall sind die Zuständigkeit des Jugendamtes und die Lebensführung der Familie. Alle anderen Welten sind nur für einen je begrenzten Zeitabschnitt Teil des Falles.
Der vorliegende Bericht liefert einige Hinweise auf gravierende Mängel der Organisationskultur, also auf Faktoren, die nicht den einzelnen Akteuren angelastet werden können oder die nicht nur spezifisch in diesem Fall aufgetreten sind. Einfachste Regeln professionellen Arbeitens wurden nicht eingehalten. Man lese die Zusammenfassung der Organisationskultur des Jugendamtes: „Alle drei SozialarbeiterInnen haben übereinstimmend angegeben, dass es kaum Teambesprechungen bis zum verhandelten Fall gegeben hat: ´Manchmal wenn es der Arbeitsanfall zugelassen hat`. Der verurteilte Sozialarbeiter nahm keine Supervision in Anspruch. Akte werden von den Sozialarbeitern im Alleingang aufgenommen und auch geschlossen. Es bedarf keiner Rücksprache mit wem auch immer.“
Eine der wichtigsten (und nächstliegenden) Sicherungsregeln in der behördlichen Jugendwohlfahrt ist das 4-Augen-Prinzip bei einem Verdacht auf Gefährdung von Kindern. Das 4-Augen-Prinzip reagiert auf ein strukturelles Problem: Weitreichende Entscheidungen (z.B. für eine Kindesabnahme) erfordern die gewichtende Einschätzung oft widersprüchlicher Informationen. Diese Informationen können – vor allem bei längerer Arbeit mit einer Familie – stark durch die Geschichte der Beziehung zu den KlientInnen recht subjektiv gefärbt sein. Eine zweite Meinung, ein zweiter Blick auf die Situation ermöglicht den Dialog. Die Fachkraft ist nicht mehr nur auf den belastenden inneren Dialog angewiesen, der auch lähmend sein kann.
Der Eindruck, den der Ablauf erweckt, ist der einer quälenden Apathie. Ein Bild der Vereinzelung, der Nicht-Kommunikation.
Ohne dieses Amt zu kennen, seine spezielle Geschichte und die stillen Tragödien, die zu einer solchen Vereinzelung der Fachkräfte geführt haben, wundert sie mich doch nicht. Ich kenne diese Dynamik. Jugendamtsarbeit überfordert tendenziell. Vor allem junge SozialarbeiterInnen sind laufend mit Familiengeschichten höchster Dramatik konfrontiert. Sie sind dafür nicht gerüstet.
Bis zum 21. April 2004 setzte das Jugendamt keine Schritte gegen den Willen der Mutter. Aus der Ex-post-Perspektive erscheint das natürlich sofort als fataler Fehler. Nehmen wir nun einmal an, Martina hätte diese Situation überlebt. Erschiene die Beschränkung auf gelinde Überredungsversuche dann auch als ethisch fragwürdige Option? Zeigte sie nicht gerade von Respekt für die Klientin, für die selbstgewählte Lebensführung, für die zusammengebastelten Werte, die in dieser Familie gelten?
Tatsächlich findet sich bei vielen Studierenden der Sozialarbeit eine Haltung, die einer solchen Sicht von „Respekt“ entspricht. Sie verstehen es noch nicht, eine fürsorgliche Haltung mit konfrontativen Elementen zu verbinden. Am Beginn ihres Bildungsprozesses an der Hochschule ist das noch kein Problem, in der Folge kann die Unfähigkeit zur tätigen Ambivalenz, zu einer verantwortungsvollen Hinwendung zu den KlientInnen allerdings ein gravierendes Hindernis für die Entwicklung ihrer Professionalität werden. Das oben beschriebene fatale Changieren schlechter Jugendamtssozialarbeit zwischen Laissez-faire und rigid strafendem Zwang ist Ausdruck dieses mangelnden Repertoires an konsequenter Hinwendung zu den KlientInnen.
Im Studium wäre zu fördern, was die Herausbildung der Fähigkeit zur Gestaltung voll entwickelter, verantwortlicher, fürsorglicher und respektvoller Beziehungen ermöglicht. Diese Fähigkeit ist gleichermaßen eine normal menschliche (also nicht berufsspezifische), als auch eine für die Sozialarbeitsprofession zentrale. M.E. sind es neben philosophisch-ethisch ausgerichteten vor allem Methodenlehrveranstaltungen und Praxisseminare, die das leisten könnten. So wertvoll die Orientierung auf die Fähigkeit des Verstehens ist, wird sie doch begleitet sein müssen von einer Bildung der Fähigkeit zur Gestaltung einer eigenen aktiven Rolle und zur Erlangung eines eigenen Urteils als Voraussetzung für Dialog und verantwortliches Handeln auch unter Bedingungen von komplexen und uneindeutigen Situationen.
Die Organisation hätte da aber auch eine Aufgabe: Sie müsste durch Offenheit im Umgang mit Fehlern und Unfällen, mit einer Selbstgestaltung als lernende Organisation den Rahmen für individuelle Lern- und Ermächtigungsprozesse der Fachkräfte zur Verfügung stellen. In Organisationen, die nach offensichtlichen Unfällen die eigene Verantwortung vorneweg leugnen, kann sich individuelles Verantwortungsbewusstsein nur schwer entfalten.
Literatur
Dörner, Dietrich (1992): Die Logik des Missingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek.
Gehrmann, Gerd / Müller, Klaus D. (Hg.) (2005): Aktivierende Soziale Arbeit mit nicht-motivierten Klienten. Regensburg und Berlin.
Hellmann, Wilfried (2005): “Das Eltern-Kind-Haus war für mich die Rettung”. Ein Angebot Sozialer Arbeit in der retrospektiven Evaluation. In: Oelerich, Gertrud / Schaarschuch, Andreas (Hg.): Soziale Dienstleistungen aus Nutzersicht. München. S. 49-64.
Hesser, Karl-Ernst (2000): Soziale Arbeit mit Pflichtklientschaft - methodische Reflexionen. Handout zu einem Seminar an der Akademie für Sozialarbeit Linz im Mai 2000. Linz.
Jantzen, Wolfgang (1987): Allgemeine Behindertenpädagogik Bd.1. Sozialwissenschaftliche und psychologische Grundlagen. Weinheim.
Kähler, Harro Dietrich (2005): Soziale Arbeit in Zwangskontexten. Wie unerwünschte Hilfe erfolgreich sein kann. München.
Kraus, Björn (2004): Lebenswelt und Lebensweltorientierung – eine begriffliche Revision als Angebot an eine systemisch-konstruktivistische Sozialarbeitswissenschaft. In: http//www.sozialarbeitswissenschaften.de am 9.1.2005.
Kron-Klees, Friedhelm (2000): Von der Fremdmeldung zur Hilfe. Über den Umgang mit Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch von Kindern in Familien – Reflexionen aus der Praxis Öffentlicher Jugendhilfe. In: Bayrisches Landesjugendamt Mitteilungsblatt Nr. 3. München.
Niedermayr, Margarete (2005): Verurteilung eines Sozialarbeiters. In: http://pantucek.com/texte/200512niedermayr.html
O´Hagan, Kieran (1997): The problem of engaging men in child protection work. In: British Journal of Social Work Vol. 27. S. 25-42.
Pantucek, Peter (1998): Lebensweltorientierte Individualhilfe. Eine Einführung für Soziale Berufe. Freiburg im Breisgau.
Rebhandl, Bert (2005): Einer weniger. Zum Film „Der Tod des Herrn Lazarescu“ von Cristi Puiu. In: Stadtkino, Nr. 423. Wien.
Trotter, Chris (2001): Soziale Arbeit mit unfreiwilligen KlientInnen. Ein Handbuch für die Praxis. In: Gumpinger, Marianne (Hg.): Soziale Arbeit mit unfreiwilligen KlientInnen. Linz. S. 97-304.
Volz, Fritz-Rüdiger (1993): „Lebensführungshermeneutik“. Zu einigen Aspekten des Verhältnisses von Sozialpädagogik und Ethik. In: neue praxis Nr. 1+2. S. 25-31.
Volz, Fritz Rüdiger (2005): Die verkannte Gabe. Anthropologische, sozialwissenschaftliche und ethische Dimensionen des Fundraisings. In: Andrews, C. / Dalby, P. / Kreuzer, Th. (Hg.): Geben, Schenken, Stiften – theologische und philosophische Perspektiven. Band 1 der Reihe “Fundraising-Studien. Zu Kunst und Kultur der Gabe”.Münster.
Wolff, Reinhart (2005): Inwiefern können Fachkräfte des Sozialen Dienstes durch ihr handeln Kindern schaden bzw. zur Kindeswohlgefährdung beitragen?. In: Kindler, Heinz / Lillig, Susanna / Blüml, Herbert / Werner, Annegret (Hg.): Handbuch Kindeswohlgefährdung, Entwurfsfassung 30.12.2005. München. S. Kapitel 46.
Verweise:
(1) Ich habe selbst 15 Jahre als Jugendamtssozialarbeiter gearbeitet. In dieser Zeit gab es in meinem Amt einen Fall eines Kindes, das bei aufrechter Betreuung von seinen Eltern zu Tode misshandelt wurde, einen weiteren Fall, wo eine jahrelange schwere Vernachlässigung trotz intensiver Betreuung der Familie durch eine Kollegin nicht erkannt worden war. Das Kind überlebte zwar, hatte aber schwere Schädigungen.
(2) Unter „technisch“ verstehe ich hier alle fachlichen und organisatorischen Regeln, die genau beschrieben werden können, sich auf standardisierbare Abläufe beziehen. In einem weiteren Sinne „technologisch“ sind so alle Verfahren, die beschreibbar, erlernbar und überprüfbar sind, die zum Arsenal einer informierten Fachlichkeit gehören und deren umfassende Kenntnis die Mitglieder einer Profession von Laien unterscheiden. Die Kenntnis solcher Regeln scheint mir in der Sozialarbeit im deutschen Sprachraum systematisch unterschätzt zu werden, während Fragen von „Haltung“ und „Moral“ systematisch überschätzt werden. Die Spezifik der Sozialen Arbeit (ein konstanter Topos des Diskurses) erweist sich m.E. eben nicht durch die völlige Unbestimmtheit ihrer Vorgehensweisen, sondern durch die Ausrichtung ihrer Diagnosen und Interventionen auf die alltägliche Einbindung von Personen in ihre soziale Umwelt, oder, um mit Fritz-Rüdiger Volz (2003) zu sprechen, auf die Lebensführung.
(3) Die Fähigkeiten der Akteure – auch deren Fähigkeit, regelentsprechend und verantwortlich zu handeln – bleiben trotzdem ein wesentliches Faktum, das die Angemessenheit und Qualität der Performance im Fall mitbestimmt. Organisatorische Vorkehrungen haben allerdings davon auszugehen, dass den Akteuren menschliche Größe nicht per se zu eigen ist.
(4) Mit einer nicht unbeträchtlichen Variation: Gesucht wird die Zustimmung der Mutter, gefährdet ist das Leben des Kindes.
(5) Auszug aus einer Fallbeschreibung: „ Eine Gesprächseinladung durch mich, wurde von der Familie abgelehnt, da alles wieder in Ordnung gewesen ist und sie keine Hilfe benötigten. Ich teilte den Kindeseltern mit, dass eine Gesprächsverweigerung bei weiteren ähnlichen Vorfällen als nicht kooperativ bewertet werden würde und wir dann den Pflegschaftsrichter einschalten müssten. Hr. Schuster beschwerte sich daraufhin sehr massiv bei mir, da er sich von mir bedroht gefühlt hat.“ Die Kontaktaufnahme durch den Vater wird hier nicht als Kooperationsform gesehen, sondern in der Folge als Begründung für den eigenen Konfrontationskurs und die Nicht-Betreuung herangezogen. Etwas später: „Eine Betreuung war bis daher nicht möglich, da die Kindeseltern sich weiterhin gegen eine Betreuung ausgesprochen hatten.“
(6) Diese Aufsplitterung von Funktionen scheint ein fataler Trend zu sein. Man denke nur an die zugegebenermaßen weniger dramatischen, aber doch extrem lästigen Auswirkungen der Auslagerung des Telefondienstes in Call-Center, die dazu führen, dass Kunden nur mehr GesprächspartnerInnen finden, die von der Sache nichts verstehen bzw. nichts entscheiden können. Diese Strategie der Abschottung von Leistungserbringern vor den Nutzern trägt zur Hilflosigkeit der sogenannten Konsumenten bei, wie wohl jeder bestätigen kann, der sich einmal bei einem Call Center um eine Auskunft bemüht hat.
(7) Für die Behindertenpädagogik hat Jantzen (1987) Isolation als zentralen Begriff entwickelt, m.E. wäre eine Rezeption dieser Erarbeitungen auch für andere Bereiche der Sozialen Arbeit lohnend.
(8) Unter Lebenswelt wird hier mit Kraus (2004:11) „das unhintergehbar subjektive Wirklichkeitskonstrukt eines Menschen (welches dieser unter den Bedingungen seiner Lebenslage bildet)“ verstanden.
(9) Unter Lebensfeld verstehe ich hier die physische und soziale Umgebung einer Person, die wirkliche Welt, in der die Lebensführung und Alltagsorganisation stattzufinden hat, mit der ein Subjekt sich tätig und interpretierend laufend auseinanderzusetzen hat.
(10) Eine von außen getroffene Fremdunterbringungsentscheidung ermöglicht z.B. Eltern, gleichzeitig weiterhin „um ihr Kind zu kämpfen“, sie müssen sich nicht als Rabeneltern sehen, die ihr Kind freiwillig abgeben.
(11) Nicht Thema dieses Beitrags ist die seltsame Ignoranz gegenüber dem Vater von Martina. Es sei hier aber doch darauf verwiesen, dass es Jugendämter häufig – wie anscheinend auch in diesem Fall – versäumen, jene Personen aus dem sozialen Umfeld der Kinder / Jugendlichen einzubeziehen, die neben der Mutter ein Interesse an und eine Verantwortung für ihr Wohlergehen haben. In erster Linie wäre das der Vater – auch wenn er nicht mehr im Haushalt lebt –, in zweiter Linie Großeltern, Onkel, Tanten usw.. O´Hagan (1997) hat dies in Großbritannien untersucht.
Margarete Niedermayr: Verurteilung eines Sozialarbeiters. Ein Prozessbericht. Dezember 2005.
Angeklagt wurde nach § 92 StGb, Vernächlässigung/Quälen einer unmündigen/wehrlosen Person, verurteilt wurde nach § 81 StGb, fahrlässige Tötung. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, die Staatsanwaltschaft hat ob des zu milden Urteiles Berufung eingelegt.
Der Berufsverband hat die Verhandlung am Landesgericht Steyr zwei Tage lang verfolgt.
Das mediale Interesse war groß. Bereits im Vorjahr, nach dem Tod der 17-jährigen Martina, wurde in den Medien ausführlich berichtet. Neben dem Sozialarbeiter wurde der zuständige Amtsarzt und die Mutter angeklagt. Die Mutter wurde damals in die Psychiatrische Klinik Linz eingewiesen, wo sie sich bis heute befindet. Der Prozess gegen den Amtsarzt findet erst statt, der Prozess gegen die Mutter wird im Dezember wiederholt.
Die Anklageschrift der Staatsanwältin war erdrückend. Jahrelang war die missliche Situation des Mädchens bekannt. Zugespitzt hat sich die Situation im November 2003. Das Mädchen wog 31 kg, bei einer Körpergröße von 1,62 cm. Ihr Leidensweg endete am 22. oder 23. Mai 2004. Die Familie hat den Tod erst am 24. Mai bemerkt.
Der angeklagte Sozialarbeiter war zwei Wochen zuvor gemeinsam mit dem Pflegschaftsrichter bei Martina und ihrer Mutter. Die Jugendwohlfahrt hat im April 2004 einen Antrag auf Übertragung der Obsorge in medizinischen Bereichen bei Gericht eingebracht. Mutter und Tochter haben zwei Ladungen keine Folge geleistet, woraufhin der Richter einen Hausbesuch machte. Das Mädchen war nicht bettlägrig, sie konnte der Einvernahme folgen und wurde aufgefordert sich zu wägen Das vom Richter und dem Sozialarbeiter nicht nachkontrollierte Gewicht wurde in bekleidetem Zustand mit 38 kg angegeben. Es wurde vereinbart, dass der Sozialarbeiter sich um eine Aufnahme in der Kinderabteilung des Krankenhauses Steyr kümmern solle. Sollte das Mädchen diesem Termin nicht folgen, würde die Übertragung der Obsorge an die Jugendwohlfahrt angekündigt. Der Sozialarbeiter hat zwei Tage später mit dem zuständigen Arzt im Krankenhaus telefoniert, der eine unmittelbare Aufnahme zusagte. Der kontaktierte Arzt hat nach diesem Telefonat die Station verständigt und um die sofortige Reservierung eines Bettes ersucht. Der Sozialarbeiter hat in der Folge keine Handlungen mehr gesetzt, 12 Tage später war das Mädchen tot. Im Endeffekt führte diese Unterlassung zur Verurteilung des Sozialarbeiters. Die Mutter hat in ihrer Zeugenaussage angegeben, dass sie auf einen Anruf des Sozialarbeiters gewartet und zumindest eine Untersuchung im Krankenhaus nicht vereitelt hätte. Der Richter hat den Akt auf Anfang Juni 04 kalendiert und war der Meinung, dass bis dorthin die Krankenhausbehandlung schon abgeschlossen sein sollte.
Die Staatsanwaltschaft hat die fehlende Betreuung lange vor diesem Zeitpunkt kritisiert. Die Familie wurde bereits von 1995 bis 1997 vom gleichen Sozialarbeiter betreut. Anlass war ein Bericht des Kinderspitals Linz. Der ältere Bruder hatte enorme Essprobleme, hat nur Konserven und alleine gegessen, oft unter dem Bett. Dr. Gerstl hat die Familiensituation der Jugendwohlfahrt gemeldet und um Betreuung ersucht. Die 1995 aufgenommene Betreuung wurde 1997 abgebrochen, da sich der Zustand des Kindes laut Jugendwohlfahrt verbessert habe.
Von 1999 bis 2002 gab es, um die Unterhaltszahlung einzutreiben, lediglich formellen Kontakt mit der Mutter, also keine Betreuung.
Ende 2002 schaltet der Klassenvorstand eine Schulärztin ein, da Martina Ausschläge hat, verändert wirkt, sich auch beim Turnunterricht nicht umzieht und an keinen gemeinsamen Aktivitäten wie Schulschikurs teilnimmt. Sie wiegt 46 kg. Die Ärztin meldet den Fall der Jugendwohlfahrt. Martina bleibt krankheitsbedingt der Schule fern. Der Sozialarbeiter schaltet sich ein und nimmt die Betreuung wieder auf. Beim Hausbesuch Ende 2002 beteuern Mutter und Tochter, dass sie in der folgenden Woche wieder zur Schule gehen würde. Sie ist nie wieder zur Schule gegangen. Die Mutter hat die Tochter zwei Monate später von der Schule abgemeldet, der Klassenvorstand hat sich damit nicht zufrieden gegeben und Mutter und Tochter einen Brief geschrieben. Martina ist anschließend, wie verlangt, alleine zur Lehrerin gekommen und hat dabei erklärt, dass sie die Schule nicht mehr besuchen wolle. Das Mädchen wirkte laut der Lehrerin extrem von der Mutter beeinflusst. Da Martina nicht mehr schulpflichtig war, hatte die Schule keine Eingriffsmöglichkeiten.
Der Sozialarbeiter glaubte den Zusicherungen von Mutter und Tochter, dass sie die Schule wieder besuchen würde. Der nächste Hausbesuch erfolgte erst Monate später, nachdem es wieder Meldungen an die Jugendwohlfahrt gab. Von Ende 2002 bis Mai 2004 sind sieben Hausbesuche des Sozialarbeiters dokumentiert. Das Mädchen hat von Ende 2002 bis zu ihrem Tod keine Schule mehr besucht, keine Lehre angestrebt und völlig isoliert zu Hause gelebt.
Mehrere Ärzte, die beim Prozess aussagten, haben Meldungen an die Jugendwohlfahrt gemacht und auf die Dringlichkeit einer Intervention hingewiesen (laut § 54 Ärztegesetz sind Ärzte verpflichtet, Missstände an die Behörde zu melden). Der Vater und die Nachbarin haben mehrmals die Behörde um ein Einschreiten ersucht.
Der Hausarzt bricht die Betreuung Mitte 2003 ab, da die Mutter uneinsichtig und unkooperativ ist. Der Arzt teilt dies der Jugendwohlfahrt mit und fordert eine sofortige Intervention.
Im November 2003 fährt die Mutter mit Martina und einem Bruder zu einer Untersuchung zum Bundessozialamt, da sie die erhöhte Familienbeihilfe für diese beiden Kinder beantragt hat (es gibt noch drei weitere Brüder). Die Ärztin des Bundessozialamtes meldet ihre Bedenken dem zuständigen Amtsarzt und weist auf die Dringlichkeit einer Intervention hin. Der Amtsarzt schickt das Mädchen zu einer Ärztin. Die Mutter begleitet die Tochter, die nur mehr 31 kg wiegt, in die Ordination. Eine stationäre Behandlung wird von beiden strikt abgelehnt. Die Ärztin versucht, eine ambulante Behandlung zu starten und verlangt einen Ernährungsplan. Die Mutter macht penibel Aufzeichnungen. Laut Ärztin ist die Ernährung einseitig und viel zu kalorienarm. Vier kurz aufeinander folgende Termine werden von den beiden wahrgenommen, die anschließenden Termine nicht mehr eingehalten. Die Ärztin telefoniert Mitte Jänner 2004 und Mitte Februar 2004 mit dem Sozialarbeiter und weist auf eine unumgängliche Intervention hin: ´ansonsten werde es schlecht ausgehen`.
Der Gemeindearzt schaltet sich über Ersuchen der Mutter im Februar 2004 ein. Er sieht keine Lebensbedrohung, es ist ihm aber klar, dass das Mädchen nicht in der Familie bleiben kann. Er nimmt daraufhin mit der Jugendwohlfahrt Kontakt auf. Der Sozialarbeiter versucht erfolglos, die Mutter zu einem Krankenhausaufenthalt der Tochter zu überreden. Erst am 21.04.05 wird der Antrag auf Übertragung der Obsorge bei Gericht eingebracht. Für den Pflegschaftsrichter ist dies der erste Kontakt mit diesem Fall.
Insgesamt 17 Zeugen wurden während den zwei Verhandlungstagen einvernommen. sich der Der zuständige Amtsarzt hat sich der Aussage entschlagen, da gegen ihn selbst ein Prozess geführt werden wird. Ausgesagt haben der Bezirkshauptmann als Abteilungsleiter der Jugendwohlfahrt, zwei Sozialarbeiterinnen (Kolleginnen des Verurteilten), der Kindesvater, die Kindesmutter, drei Geschwister, eine Nachbarin, eine Lehrerin, der Pflegschaftsrichter und sechs involvierte Ärzte.
Arbeitsabläufe in der betroffenen Dienststelle:
Alle drei SozialarbeiterInnen haben übereinstimmend angegeben, dass es kaum Teambesprechungen bis zum verhandelten Fall gegeben hat: ´Manchmal wenn es der Arbeitsanfall zugelassen hat`. Der verurteilte Sozialarbeiter nahm keine Supervision in Anspruch. Akte werden von den Sozialarbeitern im Alleingang aufgenommen und auch geschlossen. Es bedarf keiner Rücksprache mit wem auch immer. Diese Vorgehensweise wurde von der Staatsanwältin und dem Richter mit Befremden aufgenommen.
Die mündliche Gutachtenserörterung des Sachverständigen Dr. Haller:
Die Familie war nach dem Auszug des Vaters 1998 und der Scheidung im Jahr 2000 unvollständig, die Mutter mit den fünf Kindern überfordert. Die Wahnerkrankung der Mutter hat sich schleichend entwickelt, war aber schon im Jahr 2002 manifest. Es gab keine Korrekturen von außen, eine Selbstkorrektur war nicht möglich, es wird in dieses Fällen von einer wahnhaften Wehrlosigkeit gesprochen.
Befragt durch den Richter, wie und wer in diesem Fall handeln hätte müssen, gibt der SV an: Das Überleben aller ist zu sichern, die Abkapselung ist zu durchbrechen, die Mutter ist aus dem System herauszunehmen, damit die Kinder der Induktion der Mutter entkommen. Die Familie hätte eine durchgehende professionelle Betreuung gebraucht. Da es sich um einen chronischen Prozess handelt, bedarf es mehr und nicht weniger an Betreuung.
Jeder, der von Amts wegen oder behördlich in diesem Fall involviert war, hätte etwas tun müssen. Für einen Sozialarbeiter hätte zumindest ab Juli 2003 erkennbar sein müssen, dass eine Intervention nötig ist und die Mutter unter einer starken psychischen Beeinträchtigung leidet. Dr. Haller verweist auf die psychiatrischen Vorlesungen in den Sozialakademien.
Der Sozialarbeiter müsse zwar nicht den Grad der Beeinträchtigung erkennen, aber die Brisanz der Situation. Jedenfalls ab Juli 2003 hätten Schritte gesetzt werden müssen: die Mutter einer psychiatrischen Behandlung zugeführt werden müssen (Zwangseinweisung), die Tochter in ein Kinderkrankenhaus eingewiesen gehört. Auch für die restlichen drei Geschwister wäre eine Trennung von der Mutter unerlässlich gewesen.
Die Beeinträchtigung der Mutter wird von mehreren Zeugen geschildert, auch in ihrer eigenen Zeugeneinvernahme nimmt sie dazu Stellung:
Die Mutter lässt sich von Gott lenken, meint mit viel beten, würde sich der Zustand der Tochter verbessern, Jesus rede mit ihr. Zudem leide sie unter Vergiftungsgedanken, die auch die Kinder übernehmen. Die Familie ernährt sich streng biologisch, vorwiegend vom eigenen überdimensionierten Hausgarten. Die Kinder nehmen von Nachbarn kein Essen an. Die Familie ist überzeugt, dass Martina im Falle eines Krankenhausaufenthaltes aufgrund der vergifteten Nahrung sterben müsse.
Der Sozialarbeiter gibt gegenüber dem Gericht an, dass das Wahngeschehen für ihn nicht ersichtlich war.
Zur Verteidigung des Sozialarbeiters:
Von der Behörde wurde dem Angeklagten ein Verteidiger zur Verfügung gestellt. Bemerkenswert war, dass der Anwalt nicht 1 mal das Wort Sozialarbeiter verwendet hat. Er hat sich in seiner Verteidigungsrede lediglich auf den Zeitraum zwischen dem 21.04.04 (Antrag einstweilige Verfügung) und dem Tod des Mädchens bezogen und darauf verwiesen, dass auch ein versierter Pflegschaftsrichter den Ernst der Situation nicht erkannt habe. In seinem Plädoyer hat er auf die Verantwortlichkeit der Ärzte und die Verantwortung der Eltern hingewiesen, aber kein Wort zur Arbeitssituation des Sozialarbeiters, seinen Bemühungen und Handlungen verloren. Kein Wort dazu, warum der Sozialarbeiter die Zeit zwischen dem 11.05.04 und dem 23.05.04 untätig verstreichen ließ.
Zur Verhandlungsführung durch den zuständigen Richter:
Der Richter reagierte teilweise sehr emotional und drängte den Sozialarbeiter, die Unterlassungen zu erklären. Der Richter wollte die Vorgänge verstehen, die Anforderungen an den Beruf eines Sozialarbeiters erklärt haben und wissen, wann Handlungsbedarf entsteht. Der Richter hat den Sozialarbeiter fast angefleht, etwas zur Rolle und Aufgabe eines Sozialarbeiters auszusagen. ´Warum gab es keine Alarmglocken bei einem Gewicht von 31 kg?... Es war doch offensichtlich, dass die Mutter geisteskrank ist... Die Mutter hat Sie doch die ganze Zeit gepflanzt und vertröstet... Haben Sie vor dem Zustand der Mutter die Augen zugemacht?... Die Kinder fehlen immer wieder einmal in der Schule und am Lehrplatz. Warum nimmt man diese Hinweise nicht auf?`
Meine Einschätzung als anwesende Prozessbeobachterin:
Es war schrecklich zuzuhören, welcher Druck in der Fallführung nötig war, um den Sozialarbeiter zu Handlungen zu bewegen. Diese dramatische Passivität macht das Urteil verständlich.
Zu wenig Unterstützung? Zu sicher, dass er nicht zur Verantwortung (der Betroffene leitet die Dienststelle) gezogen werden kann? Ist es die weit verbreitete Konfliktscheu, die in letzter Konsequenz tödlich enden kann?
Es war geradezu schmerzhaft der schlechten Verteidigungsführung durch den Anwalt zuzuhören. Der betroffene Sozialarbeiter jedoch war mit seiner Vertretung zufrieden, wie er mir selbst versichert hat. Mehrere Verhandlungspausen gaben mir Gelegenheit, mit anderen Zuhörern zu sprechen. Alle kritisierten die Verteidigung. Der Sozialarbeiter selbst hat äußerst vage ausgesagt, wobei dies auf Grund der Belastung durch die Anklage nicht überbewertet werden soll. In einer derartigen Situation müsste man sich aber umso mehr um eine gute anwaltliche Vertretung bemühen.
Dem Anwalt habe ich vor der Verhandlung angeboten, dass der Berufsverband einen Sachverständigen nominieren könne, was er kurzer Hand abgelehnt hat: ´Das werden wir nicht brauchen`. So einsam wie die Fallführung erfolgte, so einsam stand der Sozialarbeiter vor Gericht. Er konnte die ihm angebotene Hilfe nicht aufnehmen - eine Wehrlosigkeit, wie sie auch bei der Mutter festzustellen war.