Texte

Was wirkt bei der Förderung benachteiligter Kinder?

Peter Pantucek

Kurzreferat beim Projektworkshop "Lebens- und Gefährdungslagen von Kindern in Korneuburg", 9. Juni 2010, Korneuburg. 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich will mich zuerst dafür bedanken, dass Sie unser Institut mit dieser Studie beauftragt haben. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass lokale Akteure die Probleme erkennen, auf Abhilfe drängen und das dann auch noch auf eine solide empirische Basis stellen wollen. Wir haben den Auftrag gerne angenommen. Meine Kolleginnen und Dr. Tom Schmid als Projektleiter werden dann die Ergebnisse unserer Studie präsentieren, und ich glaube, Sie werden Interessantes über Ihre Stadt erfahren.

Meine Aufgabe ist, Ihnen kurz den internationalen Diskurs zu den Fragen, die Sie bewegen, zu skizzieren. Vor über einem Jahr war ich das erste Mal bei einem Meeting des Sozialarbeitskreises in Korneuburg eingeladen. Abgesehen vom allgemeinen Wunsch, eine bessere Unterstützung für Kinder und deren Familien in der Stadt zu erreichen, gab´s da auch eine konkretere Erzählung. Es hieß, dass das Jugendamt nicht mehr so wie früher selbstverständlich bei sogenannten sozial schwachen Familien präsent ist. Vor allem Kinder in den ersten Lebensjahren, bei denen es Schwierigkeiten gibt, werden von einer mobilen Kinderpflegerin besucht. Mit den komplexen Problemstellungen der besuchten Familien ist sie zuweilen überfordert. Und das liegt nicht daran, dass sie nicht gut genug ist, sondern daran, dass sie dafür weder ausgebildet ist, noch den nötigen organisatorisch-institutionellen Hintergrund hat. Ich hörte den Wunsch, eine Sozialarbeiterin einzustellen, die das macht, was früher das Jugendamt gemacht hat: die benachteiligten Familien besuchen, an ihnen dran bleiben, sie unterstützen – und so Gefährdungen der Kinder vorzubeugen.

Diese Beobachtung war von Anfang an glaubhaft, denn sie entspricht einer internationalen und gesamtösterreichischen Entwicklung. Quer durch Österreich haben sich die Jugendämter seit den 1990er-Jahren zunehmend aus der intensiveren und nachgehenden Familienbetreuung zurückgezogen. Das ist zwar nicht gut, aber es hat gute Gründe, die ich aus Zeitgründen hier nicht ausführen will. Heute sind JugendamtssozialarbeiterInnen extrem belastet, sie haben Mühe, den zahlreichen Gefährdungsmeldungen angemessen nachzugehen. Early Intervention, also eine Intervention, bevor es eine manifeste Gefährdung der Kinder gibt, hat da keinen Platz mehr. Ja, das hat auch damit zu tun, dass die Jugendämter angesichts ihrer möglichen und sinnvollen Aufgaben personell unterbesetzt sind. Ja, das hat auch damit zu tun, dass die Politik das Feld der Jugendwohlfahrt durch Jahrzehnte eher nur am Rande behandelt hat. Und ja, das war und ist kurzsichtig. Aber es ist so und scheint kurz-. und mittelfristig auch nicht zu verändern. Also muss man andere Wege suchen, um sinnvolle Unterstützung für tendenziell gefährdete Kinder zu organisieren.

International wird das unter dem Label „Early Childhood Intervention“ diskutiert. Einen Aufschwung gab es in der Forschungstätigkeit und in der Diskussion unter anderem durch den Boom der Gehirnforschung. Die behauptet nämlich, dass wesentliche Gehirnstrukturen in den ersten 3 Jahren herausgebildet werden, und dass bei schlechten Ausgangsbedingungen viel getan werden kann, wenn die Bezugspersonen der Kinder in diesen ersten Lebensjahren adäquat und fördernd mit den Kindern umgehen. Bei benachteiligten Familien kann davon nicht ausgegangen werden. Den Eltern fehlt das Wissen, sie lassen sich durch die entwicklungstypischen Schwierigkeiten, die kleine Kinder im Alltag bereiten – zum Beispiel durch deren Schreien, deren Trotzverhalten etc., verunsichern und reagieren verstört, aggressiv, mit Ablehnung. Viele empfinden das kindliche Verhalten als gegen sich gerichtet. Ihnen fehlt die Sicherheit in einem eigenen funktionierenden Lebenszusammenhang. Ich will Ihnen einige Ergebnisse der Forschungstätigkeit zu Early Childhood Intervention vorstellen: In einer Metastudie hat die kalifornische Wissenschafterin Janet Currie Studien zur Wirkung von verschiedenen Programmen gesichtet. Die wichtigsten Ergebnisse:

  • Die Effekte der Unterstützung sind größer bei Kindern in benachteiligten Familien.
  • Die günstigsten Effekte stellen sich ein, wenn Kinder mindestens 3 Jahre den Kindergarten besuchen.
  • Die Intervention sollte in den ersten 3 Lebensjahren begonnen werden, dann aber zumindest bis Schulanfang fortgesetzt werden.

 

Ihre Empfehlung: Wo die Budgets limitiert sind, ist es sinnvoll, sich auf die am meisten benachteiligten Kinder zu konzentrieren. Zur Auswahl sollte nicht nur oder in erster Linie das Familieneinkommen herangezogen werden, sondern auch solche Faktoren wie das Misshandlungs- bzw. Vernachlässigungsrisiko und beschränkte Deutsch-Kenntnisse.

Eine Leipziger Studie befasst sich unter anderem mit sogenannten Multiproblemfamilien. Das sind Familien, in denen es neben den Erziehungsproblemen eine Serie von anderen Belastungen gibt, das können sein: Streitklima in der elterlichen Beziehung, finanzielle Probleme, Alkoholabusus etcetera.

Auch die Leipziger Studie verweist auf gute Ergebnisse: „Es gilt als gesichert, dass frühe Förderprogramme im Vorschulalter für psychosozial benachteiligte Familien hilfreich und kosteneffizient sind. Diese haben beachtliche Langzeiteffekte bis in das Erwachsenenalter mit signifikant höheren Schulabschlüssen, besserem Einkommen und geringerer Straffälligkeit.“

Die Autoren verweisen darauf, dass es hier vor allem um ein niederschwelliges Angebot geht. Das kann die Situierung in einer Kinderklinik sein oder aber, wie hier angedacht, ein nachgehendes Angebot. Das muss aber durch weitere Vernetzung mit der Jugendwohlfahrt, den Kindergärten und mit gemeindenahen Angeboten ergänzt werden.

Die Evaluation eines Programms in Chicago hat als Erfolgsfaktoren identifiziert: 

  • die Koordination von Angeboten
    • nachgehende Arbeit
    • Elternkonferenzen im Kindergarten
    • Ressourcenaktivierung (das heißt: die eigenen Ressourcen der Eltern, der Verwandtschaft, Nachbarschaft und gemeindenahe Untertsützungen)
  • die Rekrutierung von qualifiziertem Personal, das auch für längere Zeit im Programm tätig sein soll (Kontinuität in der Betreuung wird in mehreren Studien als Erfolgsfaktor erwähnt)
  • die Angebote sollen auf die Bedürfnisse der Familien ausgerichtet sein

 

Daraus ergeben sich Empfehlungen für Ihre Stadt. Zuerst: Es ist sinnvoll, ein Programm früher Intervention zu etablieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass es Erfolge zeitigt, ist groß, wenn es richtig konzipiert ist.

Wie sollte es aussehen? Der Vorschlag, eine Sozialarbeiterin einzustellen und sie mit nachgehender Arbeit zu beauftragen, ist angemessen.

  • Die Unterstützung sollte in den ersten 3 Lebensjahren der Kinder beginnen. Je früher der Kontakt mir den Eltern hergestellt wird, desto besser.
  • Die Unterstützung sollte auf wenige, besonders belastete Familien konzentriert sein. Kriterien für die Auswahl sind: finanzielle Probleme, Vernachlässigungs- oder Misshandlungsgefahr, mangelhafte sprachliche Förderung, weitere Belastungsfaktoren.
  • Die Unterstützung sollte kontinuierlich sein, mindestens bis zum Schuleintritt der Kinder fortgesetzt werden.
  • Die Unterstützung sollte nachgehend sein: Hausbesuche, Besuche im Kindergarten etc.
  • Die Unterstützung sollte sich nicht nur auf die Kind er fokussieren, sondern auch die Bedürfnisse der Eltern berücksichtigen.
  • Die erweiterte Familie und ggf. nachbarschaftliche Ressourcen sollten einbezogen werden.
  • Die Koordination mit anderen HelferInnen muss gewährleistet sein: mit dem Jugendamt, dem Kinderarzt, dem Kindergarten, ggf. der Schule.
  • Den Eltern sollte geholfen werden, damit sie auf die Bedürfnisse der Kinder adäquat reagieren können.
  • Um auch Väter und ältere Geschwister zu erreichen, ist es sinnvoll, die Arbeitszeiten in die Abendstunden auszudehnen.
  • Die Unterstützung sollte ressourcenaktivierend sein. D.h. sie sucht nach Personen in der erweiterten Familie, in Kindergärten, Schulen und der Nachbarschaft, die die Familie unterstützen können. Man organisiert soziale Aufmerksamkeit für die Familie und das Kind.
  • Ideal ist die Bereitstellung von Mitteln, um lebensweltliche HelferInnen mit Incentives anzuerkennen. Ihr Einsatz ist unbezahlbar, aber z.B. kann man ihnen als Anerkennung ein Wochenende in einem We llnesshotel spendieren.
  • Besonders wichtig: Man muss gut ausgebildetes Personal finden und halten. Ideal wäre eine Sozialarbeiterin mit Jugendwohlfahrtserfahrung, die fortbildungswillig ist.

 

Für die Sozialarbeiterin sollte Unterstützung organisiert werden (Fachsupervision, Weiterbildung, Studienreisen).

Wenn es Ihnen gelingt, ein solches Programm zu installieren, dann könnte Korneuburg bald selbst zu einem Good Practice Beispiel werden. Es wird nicht so sein, dass Sie keine Probleme mehr mit frühtraumatisierten, schlecht ausgebildeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben. Diese Probleme, das kann man auf Basis der empirischen Untersuchungen sagen, werden aber erkennbar geringer sein.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrem Vorhaben. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Literatur:

Currie, Janet (2000): “Early Childhood Intervention Programs: What Do We Know?.”

Hensen, Gregor und Reinhold Schone (2009): “"Guten Tag, wie geht´s dem Baby?". Hausbesuche im Kontext Früher Hilfen als Dienstleistung?,” Forum Erziehungshilfen 1, S. 18-23.

Hiermann, P. (2005): “Regulationsstörungen in der frühen Kindheit: Ergebnisse der Leipziger Beratungsstelle für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern,” Klinische Pädiatrie 217, S. 61-67.

Karoly LA, Greenwood PW, Susan M, Sohler-Everingham SM, Hoube J, Kilburn MR, Rydell CP, Sanders MR, Chiesa JR (1998): Investing in Our Children: What We Know and Don't Know About the Costs and Benefits of Early Childhood Interventions. Rand Documents

Reynolds, Arthur C. and others (2003): Prevention and Cost-Effectiveness in the Chicago Child-Parent Centers.