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Bildet Sozialarbeit, oder repariert sie die Mängel des Bildungswesens? Ein Kommentar.

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Pantuček-Eisenbacher, Peter (2016): Bildet Sozialarbeit, oder repariert sie die Mängel des Bildungswesens?. In: Sozialarbeit in Österreich Ausgabe 3/16.  S. 15-17.

Seit sich mit der vermeintlichen Klärung des Verhältnisses zwischen Sozialarbeit und Sozialpädagogik der Allerweltsbegriff „Soziale Arbeit“ durchgesetzt hat, der beides umfassen soll, ist es schwieriger geworden, über Bildung und Sozialarbeit zu reden und zu schreiben.

Die Sozialpädagogik hat einen genuinen Bildungsauftrag. Die Sozialarbeit nicht. Sie muss ein anderes Verhältnis zu Fragen der Bildung suchen. In aller Kürze sei daher die Unterscheidung definiert: Sozialpädagogik ist Pädagogik, sie beschäftigt sich zuerst mit Fragen des Lernens außerhalb der klassischen Institutionen des Lernens (wie z.B. der Schule, der Familie), und nimmt daher Fragen sozialer Ungleichheit, der Armut etc. unter dieser Perspektive in den Blick. Sozialarbeit beschäftigt sich mit dem sozialen Ausschluss und der Existenzsicherung von Personen. Dabei spielen Fragen von Bildung zweifellos auch eine Rolle (neben vielen anderen). Als erste Aufgabe wird aber Bildung nicht gesehen. 

Ende des aufklärerischen Bildungsideals?

Für die Sozialpädagogik (exemplarisch die Argumentation von Flickinger 2009) liegt es nahe, den Bildungsbegriff in der aufklärerischen Tradition zu vertreten: als umfassende Bildung des Menschen in seinem Verhältnis zur Gemeinschaft – mit einer starken ethischen Komponente. Sie kann sich dabei in ihren nicht-formellen und an der Lebenswelt anknüpfenden Angeboten der verschiedenen Formen der Jugendarbeit als Teil des Bildungswesens verstehen (ebd.).

Die vielfach zu hörende und zu lesende Kritik, dass das Bildungswesen sich heutzutage (war es früher wirklich anders?) nicht an den Idealen des auf die altgriechische Vorstellung einer „Paideia“ oder auf den Humboldt´schen Bildungsbegriff beziehe, sondern auf die Verwertbarkeit von Qualifikationen für den Arbeitsmarkt, wird hier einmal außer Betracht gelassen, um nicht in einen moralisierenden Gestus zu verfallen. Der oben zitierte Flickinger versteht Sozialpädagogik als ergänzendes Teilsystem, das außerhalb der formalen Bildungsinstitutionen genau jene ethisch aufgeladene „eigentliche“ Bildungsarbeit in der Tradition eines aufklärerischen bzw. humanistischen Bildungsideals leistet. Das verkennt m.E. zwei Faktoren: Erstens, dass Sozialpädagogik nur einen sehr kleinen Teil der potenziellen Educandi erreicht. Sind diese die einzigen, die in den Genuss einer umfassenden staatsbürgerlichen Bildung kommen? Zweitens, dass offensichtlich auch im formellen Bildungssystem und in anderen Bereichen als der Sozialpädagogik die Entwicklung einer ganzheitlichen Persönlichkeit unterstützt wird. Das scheint damit zusammen zu hängen, dass heutige Arbeitsprofile nicht nur handwerkliche, sondern auch soziale Fähigkeiten und reflektierte Selbststeuerung erfordern. Daher spielen trotz einer Ausrichtung auf „Employability“ im heutigen Bildungswesen Gehorsam und gewaltförmig erzwungene Anpassung kaum mehr eine Rolle. Die plakative Gegenüberstellung, dass es „früher“ um die ganzheitliche Bildung gegangen sei, „jetzt“ um bloße Verwertbarkeit, ist daher zumindest anzuzweifeln. Und schließlich wäre eine kritische Auseinandersetzung mit dem in dieser Ausprägung nur in Deutschland und Österreich auffindbaren humanistischen Bildungsideal mit Bezug auf die antiken Schriften angebracht. Schließlich hinderte die humanistische Bildung weite Teile der deutschen Intelligenzia nicht an nationalistischen und rassistischen Ausfällen bzw. an einer Kumpanei mit dem Nationalsozialismus. Das inzwischen ziemlich angeknackste Image der Reformpädagogik ergänzt dieses Bild. Dem Ideal steht also eine durchaus problematische Praxis gegenüber, die den vorwiegend anklagenden Gestus gegenüber dem aktuellen Bildungswesen zumindest relativieren sollte.

Bildungswesen als Funktionssystem

Die Sozialarbeit hat ihren Ursprung allerdings nicht im Bildungswesen, sondern in der sozialen Versorgung. Sie ist im Sozialwesen (bzw., bei AutorInnen, die aus der Soziologie kommen, im System der „Sozialen Hilfe“) verankert. Ich will einige Überlegungen dazu präsentieren, inwieweit Bildung – akzeptiert man diese Differenz zwischen Sozialpädagogik und Sozialarbeit – relevant für letztere ist. Die Sozialpädagogik wird in der Folge nur mehr am Rande zu einem Thema werden.

Zuerst ist anzumerken, dass Bildung in jener Gesellschaft, in der wir leben, mit dem Bildungswesen durch ein Funktionssystem repräsentiert ist. Die Teilhabe im Sinne einer Nutzung des Bildungswesens ist möglich, aber nicht für alle selbstverständlich. Die Organisationen, aus denen dieses Funktionssystem besteht, haben Regeln des Zugangs – und damit auch des Ausschlusses – definiert. Sie machen das nicht völlig unabhängig, sondern sind dabei an im politischen System generierte Normen gebunden. Darüber hinaus wirken noch Regeln, die nicht explizit gemacht wurden, nichtsdestotrotz aber wirksam sind. So weisen zum Beispiel Statistiken aus, dass Personen aus sogenannt bildungsfernen Schichten eine markant geringere Chance haben, zu höheren Bildungsabschlüssen zu gelangen. Dafür ist offensichtlich keine explizite gesetzliche Regelung erforderlich. Es reicht, dass die Realität der Bildungsorganisationen so gestaltet ist, dass die Förderung dort am besten ankommt, wo die Grundlagen familiär bereits gelegt sind. Das beginnt bereits in der vorschulischen Bildungsarbeit und setzt sich auf den höheren Stufen nahtlos fort.

Die „soziale Adresse“ bestimmt weitgehend, welche Chancen eine Person im Bildungswesen hat. Konstruiert wird sie von mehreren Beteiligten. Die Datensätze und Beschreibungen der Person (des Schülers, der Studentin etc.) bestehen gerade im Bildungswesen aus zahlreichen Zuschreibungen und Bewertungen – den Zeugnissen, psychologischen Gutachten,  Erzählungen der LehrerInnen etc., wobei es für die weiteren Chancen auch nicht unerheblich ist, wo man welche Ausbildung absolviert hat.

Bildungswesen und soziale Selektion

Das Bildungswesen produziert nicht nur Bildung, sondern ist auch ein umfangreicher Selektionsapparat. Es teilt soziale Chancen zu: über die Zeugnisse, die es zur sozialen Adresse hinzufügt und die die Zugänge zum Beispiel zum Arbeitsmarkt ermöglichen oder einschränken. Aber auch über die sozialen Beziehungen, die innerhalb jener Organisation des Bildungswesens, in der man gelandet ist, knüpfen oder eben nicht knüpfen kann. Organisationen des Bildungswesens ermöglichen oder behindern die Akkumulation von symbolischem Kapital (Abschlüsse) und sozialem Kapital (Beziehungen) im Sinne von Bourdieu (1983). In dem Ausmaß, in dem Sozialarbeit sich als Arbeit an Inklusion versteht, findet sie im Bildungswesen ihren Widerpart: Ein Bildungswesen, dessen Selektionsfunktion groß ist, erscheint als Gegner. Kein Wunder, dass speziell in Österreich das Verhältnis von Bildungswesen und Sozialarbeit prekär ist.

Wir betrachten den Versuch, soziale Adressen zu reparieren, als eine der wichtigsten Funktionen der Sozialarbeit. Wenn dadurch Inklusion nicht erreicht werden kann, organisiert sie den Zugang zu Surrogaten für die „echte“ Inklusion. Das Bildungswesen hält zahlreiche solche Organisationen der „stellvertretenden Inklusion“ bereit. Sonderschulen, überbetriebliche Lehrwerkstätten, AMS-Kurse. Sie alle haben gemeinsam, dass deren Besuch in die persönliche soziale Adresse als weiteres Merkmal eingeht, das die Inklusion nicht gerade erleichtert bzw. nur den Zugang zu minderen Formen der Inklusion (z.B. in den Arbeitsmarkt) ermöglicht.

Sozialarbeit, die im Bildungswesen angesiedelt ist (z.B. Schulsozialarbeit), ist damit beschäftigt, Ausschließungsprozesse innerhalb der Organisation zu verhindern oder abzuschwächen. In der Arbeit mit den KlientInnen versucht sie zu verhindern, dass sie die erlebten Abwertungen in ihre Selbstbeschreibungen übernehmen, und sie versucht dabei zu beraten, wie sie mit einer zumindest teilweise als feindlich erlebten Organisation zurechtkommen können. Negative Erfahrungen mit dem Bildungswesen haben lebenslange Folgen. Sie erschweren es Personen, Bildungsangebote nach Ende der Schulpflicht anzunehmen und erfolgreich zu nutzen. In Organisationen der Erwachsenenbildung ist Sozialarbeit unter anderem damit beschäftigt, die lebensweltlichen Rahmenbedingungen in Kooperation mit den KlientInnen zu verbessern, sodass die Wahrscheinlichkeit, hilfreiche Abschlüsse zu erwerben, vergrößert wird.

Investment von Zeit und Energie

Die Besonderheit des Bildungswesens liegt darin, dass von den NutzerInnen ein mitunter sehr beträchtliches Investment an Zeit und Energieeinsatz gefordert wird, ohne das Abschlüsse nicht erreicht werden können. Schon allein deswegen konkurriert es mit anderen alltäglichen Anforderungen. Es bedarf spätestens nach Ende der Schulpflicht jeweils einer strategischen Entscheidung, diese Energie investieren zu wollen und andere Aufgaben und Wünsche für einen absehbaren, aber in der Regel nicht kurzen, Zeitraum hintan zu stellen.

Die Gegenüberstellung von formalem Lernen mit dem Effekt von Bildungsabschlüssen und informellem Lernen mit dem Ergebnis einer besseren Orientierung in der Welt ist dabei nicht hilfreich. Formale Abschlüsse verbessern die Soziale Adresse und erhöhen die Chancen auf Inklusion entscheidend. Informelles Lernen kann das kaum ersetzen, und es findet auch dort statt, wo es nicht pädagogisch gestützt wird. Menschen lernen nämlich auch dann, wenn sie nicht von PädagogInnen dazu angeleitet werden.

Sozialarbeit geht von einem optimistischen Menschenbild aus: Von einer grundsätzlichen Fähigkeit der Menschen zu lernen, von einer von vornherein gegebenen Motivation zum Lernen, unabhängig vom Alter.

Niemand ist bildungsfern

Die Perspektivenentscheidung, die Sozialarbeit zu treffen hat, um selbst handlungsfähig und nicht bloß Hilfskraft der Selektion zu sein, ist: Personen betrachten wir nicht als ungebildet oder „bildungsfern“. Die Organisationen des Bildungswesens sind für manche Personen bildungsbehindernd. Und die Erfahrungen, die Personen bisher mit dem Bildungswesen gemacht haben, können dazu beitragen, dass sie neue Chancen nicht mehr wahrnehmen. Und: das Bildungswesen hat in seiner derzeitigen Ausformung nur unzureichende Instrumentarien zur Verfügung, um außerhalb seiner selbst liegende Behinderungen für das Lernen und für das Erreichen von Bildungsabschlüssen zu minimieren oder zu kompensieren. Immer deutlicher wird in den letzten Jahren, dass vor allem Angebote der vorschulischen Erziehung und Bildung noch am ehesten kompensatorische Funktionen erfüllen und Benachteiligungen der Herkunft oder durch ungünstige familiäre / lebensweltliche Bedingungen ausgleichen können.

 

Literatur 

Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt Sonderband 2. Göttingen. S. 183-198.

Flickinger, Hans-Georg (2009): Zur Dynamik des zeitgenössischen Bildungsbegriffs. Ein unkonventioneller Blick auf Fragen der Bildung aus philosophischer Perspektive. In: Soziale Passagen Nr. 1.  S. 227-240.