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Soziale Kohäsion durch Netzwerkarbeit?
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- Erstellt am Samstag, 17. Dezember 2016 15:36
Pantuček-Eisenbacher, Peter (2016): Soziale Kohäsion durch Netzwerkarbeit?. In: sozialmagazin 11-12. S. 66-72.
Peter Pantuček-Eisenbacher
Die Global Definition of Social Work (IFSW 2014) zählt soziale Kohäsion zu den zentralen Zielen der Profession. Zu überlegen wäre, wie die Soziale Arbeit mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu Sozialer Kohäsion beitragen kann.
Auf der Ebene der Einmischung in den politischen Meinungsbildungsprozesses scheint das ziemlich klar zu sein: Einsatz für sozialstaatliche Sicherungen, gegen Diskriminierungen, für Inklusion. Weniger eindeutig ist, wie dieser Aufgabe auf den Ebenen der Gemeinwesenarbeit und der Einzelfallarbeit entsprochen werden kann. Es bietet sich an, hier vor allem die Arbeit an Beziehungsnetzwerken in den Blick zu nehmen.
Soziale Arbeit, vor allem in ihren gemeinwesen- und sozialraumorientierten Handlungsformen, versucht Begegnungen und sozialen Austausch zwischen Bevölkerungsgruppen, die miteinander sonst kaum in einen Dialog kommen, wahrscheinlicher zu machen. Die Motivation dafür liegt vorerst einmal dabei, benachteiligten Populationen Zugang zu neuen Ressourcen zu erschließen. Wenn dadurch soziale Kohäsion gefördert wird, ist das ein nicht unerwünschter Nebeneffekt.
Der bevorzugte Handlungsraum, in dem Soziale Arbeit dabei agiert, ist die „Nachbarschaft“ (Neighbourhood), der Stadtteil bzw. die Gemeinde. Hier findet sich ein geteilter öffentlicher Raum, finden sich Organisationen der wohnortnahen Versorgung, Formen der bürgerschaftlichen Selbstorganisation und der nachbarschaftlichen Hilfe. Die Schaffung und Stärkung sozialer Beziehungsnetzwerke und Organisationsformen in diesem Nahraum wird allerdings einen umso geringeren Effekt auf die gesellschaftliche Kohäsion haben, je sozial homogener die Bevölkerung in dieser Nachbarschaft ist, und je weniger die netzwerkaufbauende Arbeit über die sozialen und territorialen Begrenzungen hinausgreift.
Auf den ersten flüchtigen Blick scheint die Förderung des Entstehens von Beziehungsnetzwerken unproblematisch mit der Förderung sozialer Kohäsion verbunden zu sein. Wie anders als durch die Kooperation und den Austausch mit anderen Menschen soll sozialer Zusammenhalt beschrieben und erreicht werden können? Auf den zweiten Blick ist es allerdings nicht so einfach. Die Vorstellung von sozialer Kohäsion auf der Ebene der Gesellschaft umfasst die Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens und des Zusammenhalts von großen Populationen. So großen Populationen, dass sie durch die begrenzte Reichweite persönlicher Beziehungsnetze nicht abgedeckt werden können. Sie benötigt also vermittelnde, ggf. symbolische Repräsentationen, die über Person-Person-Beziehungen hinausgehen
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen: gefährdete Kohäsion
Konstruktionen des WIR benötigen immer eine Abgrenzung – und die kann variieren. Die Abgrenzung ist nötig, um ein handlungsfähiges fiktionales Subjekt zu konstituieren, dem man sich zugehörig fühlen kann. Was keine Grenzen hat, kann nicht handeln. Es kann nicht zwischen Eigenem und Umwelt unterscheiden, daher auch keine Strategien für den Umgang mit der Umwelt denken/vorschlagen. Die Europäisierung und die Globalisierung als grundsätzlich erfreuliche Prozesse auf dem Weg zu einer Weltgesellschaft bringen das Problem mit sich, dass für die Individuen die Möglichkeiten der Identifikation mit einem kollektiven Subjekt erschwert werden. „Die Menschheit“ ist doch etwas zu groß angesetzt und gibt vor allem kaum eine Orientierung für das Verständnis der Rahmenbedingungen des Alltags, der nicht unwesentlich durch Interessenskonflikte mit anderen Gruppen von Menschen geprägt ist. Es bedarf einer Referenz, innerhalb derer sich Personen in den Machtverhältnissen einordnen und eine Perspektive auf Machtgewinn entwickeln können. Auf der Ebene der Personen scheint es vorerst die Frage der Identität zu klären, wenn man sich einem fiktionalen kollektiven Subjekt als zugehörig definiert.
Die Europäische Union hat bisher zu wenig Narrative geliefert, die eine individuelle Identifikation mit „Europa“ grundieren könnten. Sie hat Programme (Erasmus, Sokrates) entwickelt, die den internationalen Austausch und damit das Entstehen von internationalen persönlichen Netzwerken anregen und fördern sollen. Damit könnte eine europäische Identität entstehen – aber diese Programme sind bisher fast ausschließlich für die Bildungseliten zugänglich bzw. von ihnen genutzt worden.
Kontrafaktisch bieten sich die nationalen Regierungen als mögliches handelndes Subjekt und damit die „Nation“ als Referenzrahmen für die Herstellung kollektiver Handlungsfähigkeit an. Die Rechte greift diese Möglichkeit auf und formuliert sie aggressiv, angereichert mit ethnischen Ausgrenzungen und einer aggressiven Rhetorik gegen die Eliten und die „Gutmenschen“. Dadurch wird sie selbst zur größten Gefahr und untergräbt die Basis sozialer Kohäsion im nationalen Rahmen. Selbst unter den Staatsbürger/innen, die ja per definitionem das „Staatsvolk“ sind, finden sich ja zahlreiche Personen, die anhand ethnischer Zuschreibungen und anderer Feindkonstruktionen aus dem so konstruierten WIR ausgeschlossen werden. „Starke Männer“ wie Orban, Putin, Erdogan nähren zumindest kurzfristig Illusionen über die Handlungsfähigkeit nationaler Regierungen und einen dominanten „Volkswillen“ auf Kosten der Schwächeren.
Die Aggressivität als Modus der Abgrenzung und damit der Verdeutlichung, was Referenzsystem und was Umwelt ist, ist kein Unfall, ist nicht in erster Linie ein moralisches Problem. Sie ist ein Versuch, ein Subjekt kollektiver Handlungsfähigkeit in einer komplexen und diversifizierten Gesellschaft zu finden, dem man sich anschließen kann. Die Alternativen dazu scheinen beschränkt. Historisch ist zu beobachten, dass der internationalistische Zugang des Marxismus, dessen zentrales Unterscheidungskriterium jenes zwischen den „Klassen“ ist, auf Dauer nur wenig erfolgreich war und die sich aufdrängenden Unterscheidungen entlang offensichtlichen Merkmalen wie Sprache, Hautfärbung, Herkunft etc. nur temporär verdrängen konnte. Nach dem Zusammenbruch des sogenannten sozialistischen Weltsystems mutierte die Mehrzahl der vormals herrschenden kommunistischen in kürzester Zeit zu nationalistischen Parteien. Der Nationalstaat scheint trotz seiner inzwischen durch die Europäisierung und Globalisierung begrenzten Souveränität immer noch die realistischste Perspektive zu bieten, durch kollektives Handeln Einfluss auf Machtverhältnisse zu erlangen. Die Perspektive auf die Wiederherstellung einer notwendigerweise fiktiven kollektiven Handlungsfähigkeit obsiegt dabei gegen rationale Überlegungen zur Nützlichkeit – siehe zum Beispiel die Diskussionen zum „Brexit“. Die lauten Warnungen vor wirtschaftlichen Nachteilen hinderten sogar jene, die darunter wohl am meisten zu leiden hätten, nicht daran, leidenschaftlich für einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union Stellung zu beziehen.
Es gibt mehrere Entwicklungen, die um die soziale Kohäsion zuletzt fürchten lassen, zum Beispiel das Aufkommen „fremden“-feindlicher Stimmungen weit über den rechten Rand hinaus, die relative Perspektivlosigkeit unterprivilegierter Gruppen, der zu lange dauernde Ausschluss der neu zugewanderten Menschen aus dem Arbeitsmarkt. Sorge bereitet das Entstehen immer größerer, weitgehend rechtloser, Bevölkerungsgruppen ohne legalen Zugang zu Mitteln der Lebenssicherung. Dazu gehören unter anderen die Personen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Es entsteht ein Teufelskreis: Die Exklusion macht Kleinkriminalität wahrscheinlicher, jene wird medial aufgegriffen und aufgebauscht und bietet so wieder den Rufen nach weiterer Exklusion Nahrung.
Schlussfolgerungen für die Soziale Arbeit: Netzwerkarbeit erweitern
Soweit zum Hintergrund, vor dem wir heute methodische Fragen zu diskutieren haben. Die Soziale Arbeit kann sich in ihrer täglichen Praxis weder die Verhältnisse aussuchen, unter denen sie agieren muss, noch hat sie auf der Ebene der alltäglichen Arbeit ernsthaft die Chance, in relevantem Ausmaß Entwicklungen der Entsolidarisierung bzw. der gesellschaftlichen Polarisierung entgegenzusteuern. Sie ist aber massiv konfrontiert mit deren Folgen. Viele ihrer Klient/inn/en sind selbst Angehörige von Gruppen, denen die Zugehörigkeit zum kollektiven WIR abgesprochen wird, andere konstruieren ihre Identität mithilfe aggressiver gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Für nicht so wenige trifft beides zu: Ausgeschlossen zu sein und aggressiv auszuschließen. Die Soziale Arbeit wird mehr als bisher lernen müssen, mit Ambivalenz zu leben, sie nicht zu verleugnen, und auch unter diesen Bedingungen den erfolgsnotwendigen Optimismus aufrecht zu erhalten.
AkteurInnen der Sozialen Arbeit, die dazu neigen, in der Alltagspraxis zwischen Opfern und Tätern deutlich zu unterscheiden, werden umlernen müssen. Die eigenen Klient/inn/en der Opferseite zuzurechnen, liegt nahe und erleichtert das Engagement. In einer vergifteten gesellschaftlichen Atmosphäre des emotional aufgeladenen sozialen Konflikts ist diese klare Täter/Opfer-Unterscheidung allerdings kaum mehr aufrecht zu erhalten. Zerstörerische und selbstzerstörerische Glaubenssätze („Believes“), Einstellungen, destruktive und aggressive Gefühle und Taten der Klient/inn/en zu übersehen, ist keine produktive Option. Gemütlicher wird es nicht.
Sozialarbeit, die sich allein auf die Beziehung zu den Klient/inn/en einerseits, auf institutionelle Formen der Hilfe andererseits konzentriert, wird in Bezug auf die angestrebte soziale Kohäsion wirkungslos bleiben. Noch ohne explizit die Zielsetzung der Kohäsion dabei im Blick zu haben, entstanden in den letzten Jahrzehnten zusehends Ansätze und Techniken, die das Potenzial der Sozialen Arbeit nicht in erster Linie in der Zuteilung institutionalisierter Hilfe sehen. Inspiriert wurde dieser Weg durch Beispiele von guter Praxis, etwa das Family Group Decision Making, im deutschen Sprachraum unter „Familienrat“ bekannt und in Österreich zum Beispiel in der Haftentlassenen- und Bewährungshilfe unter dem eigentlich zutreffenderen Titel „Sozialnetzkonferenzen“ bekannt. Nicht vergessen sollte man die Pionierarbeit der Forschung und Praxis der Gemeindepsychiatrie in den 1970er-und 1980er-Jahren, damals begleitet von zahlreichen Forschungen zur Funktionsweise und Wirksamkeit lebensweltlicher sozialer Unterstützungsnetzwerke (z.B.: Keupp 1987). Auf die Ergebnisse dieser Forschungen kann heute noch aufgebaut werden.
Für die Einzelfallarbeit bedeutet das möglicherweise den Vorabend eines Paradigmenwechsels. „Sozial“ in der Berufsbezeichnung heißt nicht mehr in erster Linie, dass die therapeutische und pädagogische Unterstützung sozial Benachteiligte als Adressat/inn/en hat. „Sozial“ steht für den Fokus des Blicks auf die zweifache soziale Einbindung der Klient/inn/en: Die Interventionen zielen 1) auf das Erreichen von Inklusion, also den Zugang zu den durch die Funktionssysteme bereitgestellten gesellschaftlichen Ressourcen. 2) auf eine Reparatur und den Aufbau von Person-Person-Beziehungen, also auf eine Verbesserung des sozialen Netzwerks. In beiden Fällen geht es nicht darum, dass die Profis der Sozialen Arbeit (bzw. die Organisationen, für die sie arbeiten) kompensatorisch eine fehlende Inklusion oder soziale Verankerung ersetzen, sondern darum, dass sie Zugang zum „echten Stoff“ herstellen: zu den Leistungen der gesellschaftlichen Funktionssysteme einerseits, zur Einbindung in familiäre, nachbarschaftliche und nicht-lokale Netzwerke andererseits.
Dafür bedarf es in erster Linie einmal der Überwindung der Begrenzungen des Blicks auf die asymmetrische „Zweierbeziehung“ zwischen Klient/in und Sozialarbeiter/in. Die „echten“ Beziehungen, die „echten“ Ausschlüsse und Zugänge liegen alle außerhalb dieser Diade. Echt sind sie insofern, als sie direkt lebensweltlich wirken, als sie den zeitlichen Beschränkungen der professionellen helfenden Beziehung nicht unterliegen, und dass sie Zugang zu Inklusion und Integration bieten, nicht nur zu den institutionellen Surrogaten, die das Sozialwesen bereitstellt. Die erste methodische Maßnahme in diese Richtung ist, dass der Zugang zu den gesellschaftlichen Funktionssystemen und zu Beziehungen außerhalb des professionellen Kontinents zum zentralen Thema des Gesprächs gemacht wird. Dabei sind Verfahren der Sozialen Diagnostik wie das Inklusions-Chart und die Netzwerkkarte (Pantuček 2012) hilfreich. In zweiter Linie bedarf es Interventionsformen, die auf Inklusion und soziales Netzwerk abzielen.
Für das Fallverständnis heißt das, dass „Spacing“ (Otto / Kessl 2002) eine herausragende Rolle spielt. Unter Spacing ist die Erweiterung des Themenspektrums auf das soziale Umfeld und auf Bedingungen der Vergesellschaftung zu verstehen. Spacing darf nicht mit den Versuchen verwechselt werden, den territorialen Nahraum, wie er durch Verwaltungsgrenzen markiert ist, zum bevorzugten Referenzraum der Sozialen Arbeit zu machen. Für die letztere Version steht das sogenannte Fachkonzept Sozialraumorientierung (Hinte 2008), das in seiner Praxis, anders als in seiner Rhetorik, die Bedürfnisse der Verwaltung vor jene der Adressat/inn/en stellt (vgl. dazu Zach 2014).
In Summe also: Bei der Individualhilfe sollte es zu einer Ausweitung und Differenzierung des zur Verfügung stehenden individuellen Netzwerks der Klient/innen kommen, damit auch zu einer besseren Lokalisierung und Verankerung in der sozialen Welt – und auf der überindividuellen Ebene dazu, dass mehr Menschen soziale Verantwortung übernehmen und Beziehungen über ihr jeweiliges Milieu hinaus pflegen.
Dafür gibt es Muster, auf die zurückgegriffen werden kann, zum Beispiel weit verbreitete Vorstellungen über jene Verantwortung, die mit familiären Rollen verbunden sind. Hier zeigt sich aber schon ein Problem: Die Kohäsion von Gruppen wie Familien, im erweiterten Verständnis auch „Sippen“, „Stämmen“ und weiteren über Herkunft definierten Communities steht potenziell im Gegensatz zu einer gewünschten gesellschaftlichen Kohäsion und zu rechtsstaatlichen Verhältnissen. Gruppenkohäsion kann partikularistisch sein, bis zu einer Ablehnung staatlich definierter Normen als feindlich, „wesensfremd“ und den eigenen Gruppeninteressen zuwiderlaufend. Ebenso verweisen Hipp und Perrin (2006) auf zahlreiche Befunde, dass vernetzende Arbeit in nachbarschaftlichen Environments keinen Beitrag zu sozialer Kohäsion auf einer höheren Ebene (der Stadt, der Gesellschaft) leistet. Ähnlich – in einem Teilbereich – die Untersuchung von Neußl-Duscher (2016) über den bescheidenen Inklusionseffekt von multikulturellen Gemeinschaftsgärten. Die dort generierten sozialen Beziehungen können die Immigrant/inn/en nicht erkennbar für die Verbesserung ihrer Stellung auf dem Arbeitsmarkt bzw. für andere Zugänge zu den gesellschaftlichen Ressourcen nutzen. Taylor (2015) hat in Kanada Prozesse des Ankommens und der erhofften Eingliederung von Migrant/inn/en untersucht. Klar wurde dabei, dass der Versuch der kanadischen Regierung, über die Förderung von sozialen Beziehungen (unter dem Titel von Kohäsion) die Einbindung der Migrant/inn/en zu beschleunigen, fehlgeschlagen ist. Der prekäre rechtliche Status der Migrant/inn/en verhinderte Soziale Kohäsion. Der eigentlich entscheidende Faktor ist nämlich Inklusion – verstanden als gleichberechtigter Zugang zu allen Systemen. Genau diese Zugänge wurden aber beschnitten. Taylor berichtet über den schnellen Wechsel des Rechtsrahmens für die Zugewanderten, der Unsicherheit und Exklusion schafft und rationale mittelfristige Entscheidungen, sich dieser Gesellschaft anzuschließen, erschwert. Wie bekannt uns das doch vorkommt. Es scheint also Skepsis angebracht, inwieweit mit unspezifischer Netzwerkarbeit zu einer besseren Inklusion Benachteiligter und damit zur sozialen Kohäsion auf gesellschaftlicher Ebene beigetragen werden kann, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen.
Eine Netzwerkarbeit, die allein auf die Nutzung von scheinbar naheliegenden Beziehungsmöglichkeiten fokussiert, wird das erwünschte Ziel der Förderung gesellschaftlicher Kohäsion grob verfehlen, und sie wird möglicherweise Individuen, die von ihrer Herkunftsgruppe unabhängiger werden wollen, die einen anderen Lebensentwurf haben, de facto alleine lassen.
Die Herausforderung der Netzwerkarbeit liegt darin, Individualisierung als Voraussetzung moderner demokratischer Gesellschaften mit neuen und anderen Formen der Einbindung in soziale Austauschbeziehungen zu verbinden.
Der Weg dorthin ist, relativ stabile Verbindungen zwischen Personen verschiedener Milieus zu schaffen. Damit werden die Freiheitsgrade der Individuen erhöht, ihre Optionen werden zahlreicher. Damit die Beziehungen nicht nur temporär bleiben, müssen auch jene Personen, die sich vorerst als Gebende verstehen, einen Gewinn davon haben. Beziehungen aufrecht zu erhalten erfordert schließlich zumindest ein Zeitinvestment – und die Entscheidung, diese Zeit aufzuwenden, bedarf einer Begründung
Einfach ist die Herstellung von cross-culture-networks dort, wo es klar ist, was der oder die jeweils andere zu geben hat: bei künstlerischen, wissenschaftlichen, fachlichen Communities. Dort bedarf es auch nicht der Sozialarbeit, um die Verbindungen anzuregen und zu schaffen. Der soziale Austausch entspricht einem beiderseitigen und einigermaßen symmetrischen Interesse. Dort, wo relativ isolierte Personen wenig anzubieten haben außer ihrer eigenen Hilfsbedürftigkeit, wird es schon komplizierter. Der Austausch wird asymmetrisch. Die Motivation für die sozial Reicheren, die Beziehung aufrecht zu erhalten, liegt nicht in erster Linie im Vermögen des Anderen, sondern bedarf einer alternativen Begründung. Sie findet sich zum Beispiel im Willen, „sozial“, gemeinschaftsfördernd tätig zu sein. Das wird umso wirksamer sein, als es in ein organisatorisches Arrangement eingebettet ist, das das Engagement bestärkt, mit Ressourcen unterstützt und mit Anerkennung belohnt.
In den Zeiten der Massenankünfte von flüchtenden Menschen im Herbst des Vorjahres haben sehr viele Bürgerinnen und Bürger sich spontan organisiert und gemacht, was die Menschlichkeit gebietet. Sie haben – zumindest in Österreich – dabei die überraschende und verstörende Hilflosigkeit der staatlichen Organisation kompensiert (sh. dazu ausführlich: Gratz 2016). Die temporäre Soziale Bewegung schafft biographische Erlebnisse und Narrationen, als Medienereignis generiert sie ein Symbol, auf das noch länger zurückgegriffen werden kann. Ob sie auch dauerhaft wirksame Netzwerkbeziehungen über das eigene soziale Milieu hinaus und damit nachhaltige Wirkungen für mehr soziale Kohäsion herstellen können, bleibt aber fraglich.
Schon besser gelingt das dort, wo persönliche Beziehungen auf der Basis einer freiwilligen Übernahme von Verantwortung aufgenommen werden: Patenschaften, Mentoring- und Buddy-Programme: Wenn über die Vermittlung von und mit kontinuierlicher Unterstützung durch Organisationen persönliche Beziehungen der Begleitung und Unterstützung aufgebaut werden, die nicht nach kurzer Zeit wieder abbrechen und bei denen die Unterstützer/innen eingeschult und laufend selbst beraten werden. So können „weak ties“ gefördert werden. Unter „weak ties“ versteht man losere Beziehungen zu Personen, deren Netzwerk wenig Überschneidungen mit dem eigenen aufweist. Die Stärke solcher Beziehungen liegt darin, dass sie die Wege zu Ressourcen eröffnen, die sonst nicht zugänglich sind. Weiter sind „weak ties“ eben nicht in die Dynamiken, Konflikte und Zwänge des eigenen lebensweltlichen Netzwerks eingebunden. In entscheidenden Punkten der individuellen Entwicklung können sie die Brücke zu den benötigten anderen Ressourcen und Verständnissen darstellen. Ihre Funktion ist das „Bridging“ (Panth 2010) zwischen verschiedenen Milieus. Sie sind jene Beziehungen, die am ehesten als die Bausteine einer sozialen Kohäsion angesehen werden können.
Ob dadurch die soziale Kohäsion auf gesellschaftlicher Ebene wahrscheinlicher gemacht werden kann, hängt auch von Quantitäten ab. Zum Beispiel: Gelingt es, für die Mehrheit der zugewanderten Menschen solche persönlichen Verknüpfungen mit der bereits länger im Lande befindlichen Bevölkerung herzustellen? Einzelinitiativen sind zwar moralisch zu begrüßen, könnten aber nur einen Tropfen auf den heißen Stein darstellen.
Wenn hier zuerst die aktuelle Frage der Zuwanderung in den Vordergrund gestellt wurde, ist doch auch auf eine andere, noch größere Aufgabe hinzuweisen: Das ist der Umgang mit jenen Bevölkerungsgruppen, bei denen derzeit wieder rassistische Stereotype gepflegt werden, die sich in den Aufstieg der Rechten einordnen. Gentrifizierung und die homogenisierende Tendenz der sozialen digitalen Netzwerke tragen zu einer Separierung der Milieus bei, und auch Sozialarbeiter/innen bewegen sich vielfach bevorzugt in Milieus von Gleichgesinnten. Weder der gesellschaftlichen sozialen Kohäsion noch dem Kampf um die politische Hegemonie ist damit gedient. Soll politische Netzwerkarbeit erfolgreich sein, wird sie sich darum bemühen müssen, die – vielleicht vorerst unangenehmen – Beziehungen zu jenen Personen aufzubauen, die sich ihrerseits gegen „uns“ abgrenzen und die manchmal unappetitliche Äußerungen von sich geben. Dazu bedarf es innerer Stärke und eines bewussten Verzichts auf einen Modus der Abwertung. Das zu lernen, ist ein Gebot der Stunde.
Ohne politische Arbeit geht es nicht
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Beziehungen / Netzwerke über Herkunftsgrenzen hinweg soziale Kohäsion befördern, dass sie aber keine Garantie gegen fatale Entwicklungen darstellen. Die gute Vernetzung der jüdischen Community in Wien am Beginn des 20. Jahrhunderts konnte das spätere Kippen der politischen Verhältnisse und das Dominantwerden eines überaus aggressiven und mörderischen Antisemitismus nicht verhindern. Analog waren die umfangreichen Beziehungs-Netzwerke zwischen den Bevölkerungsgruppen Jugoslawiens offensichtlich kein nennenswertes Hindernis für den Ausbruch des Westbalkankrieges in den 1990er-Jahren. Die herkunftsbezogenen Unterscheidungen entwickelten binnen kurzer Zeit eine zerstörende Macht. Die Kohäsion von Subgruppen der Bevölkerung (z.B. nach ethnischen Kriterien) wurde von politischen Abenteurern durch plakative Unterscheidungen hergestellt, die übergreifenden Netzwerke brachen weitgehend zusammen oder wurden marginalisiert. Möglich wird ein solcher Zusammenbruch der gesellschaftlichen Kohäsion und deren partikularistischer Neuformierung, wenn andere Bedingungen für Kohäsion nicht mehr gegeben sind. Diese anderen Bedingungen sind möglichst geringe Raten von Ungleichheit und sozialem Ausschluss (vgl. Berger-Schmitt 2000), aber auch die jeweilige politische (Macht-)Konstellation. Netzwerkarbeit ist, so gesehen, kein Schönwetterprogramm. Sie ist auch für die politische Arbeit als Netzwerkarbeit über die Grenzen jener heutzutage leicht auffindbaren gleich- oder ähnlich Gesinnten auszudehnen. Die Zeiten der Idylle sind vorbei
Literatur
Beck, Ulrich / Beck-Gernsheim, Elisabeth (1990): Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt/M.
Berger-Schmitt, Regina (2000): Social Cohesion as an Aspect of the Quality of Societies: Concept and Measurement. EUReporting Working Paper No. 14. Mannheim.
Granovetter, Mark (1983): The Strength of Weak Ties: A Network Theory Revisited. In: Sociological Theory, Vol 1. S. 201-233.
Gratz, Wolfgang (2016): Das Management der Flüchtlingskrise – never let a good crisis go to waste. Wien.
Hinte, Wolfgang (2008): Sozialraumorientierung: ein Fachkonzept für die Soziale Arbeit. Vortrag für den Fachtag Sozialraumorientierung Stadt Fulda am 28.5.2008. In: http://www.fulda.de/fileadmin/buergerservice/pdf_amt_51/sonstiges/Sozialraumorientierung_Vortrag_W.Hinte_28.5.08.pdf. Fulda.
Hipp, John R. / Perrin, Andrew (2006): Nested Loyalties: Local Networks´Effects on Neighboruhood and Community Cohesion. In: Urban Studies, Vol. 43, Nr. 13, December 2006. S. 2503-2523
IFSW – International Federation of Social Workers (2014): Global Definition of Social Work. In: http://ifsw.org/policies/definition-of-social-work/: abgerufen am 16.7.2016.
Keupp, Heiner (1987): Soziale Netzwerke. Eine Metapher des gesellschaftlichen Umbruchs?. In: Keupp, Heiner / Röhrle, Bernd (Hg.): Soziale Netzwerke. Frankfurt/Main und New York. S. 11 - 53.
Neußl-Duscher, Eva (2016): Transkulturelle Gemeinschaftsgärten. Ein Beitrag zur gesellschaftlichen Integration?. In: soziales_kapital Nr. 15: http://soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/438/796.pdf. S. 72-86.
Otto, Hans-Uwe / Kessl, Fabian (2002): Aufruf zur Internationalen Fachtagung „Spacing Social Work“ 14. - 16. November 2002 in Bielefeld. Bielefeld.
Panth, Sabina (2010): Bonding vs. Bridging. In: http://blogs.worldbank.org/publicsphere/bonding-and-bridging: abgerufen am 17.07.2016.
Pantuček, Peter (2012): Soziale Diagnostik. Verfahren für die Praxis Sozialer Arbeit. 3., aktualisierte Auflage. Wien, Köln, Weimar.
Taylor, Alison / Foster, Jason (2015): Migrant Workers and the Problem of Social Cohesion in Canada. In: Int. Migration & Integration (2015) 16. S. 153-172.
Zach, Barbara (2014): Sozialraumorientierung in Graz. Eine Gegenüberstellung von Programmatik und Praxis. In: soziales_kapital Nr. 12 (2014): http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/339/589.pdf. S. 131-147.
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Peter Pantuček-Eisenbacher, Prof. Dr., ist Sozialarbeiter und Soziologe. Er leitet das Department Soziales an der FH St. Pölten und ist Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Soziale Arbeit.