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Effizientes Krisenmanagement?
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- Erstellt am Sonntag, 14. März 2010 07:46
Methodische Fragen der niederschwelligen Arbeit in Krisen- und Notschlasftellen für Kinder und Jugendliche.
Referat auf der Tagung der österreichischen Kinder- und Jugendnotschlafstellen, Salzburg, 23.11.2004.
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
Zuerst möchte ich den VeranstalterInnen für diese Einladung danken. Sie gibt mir Gelegenheit, mich etwas ausführlicher zu einem Thema zu äußern, das mir sehr am Herzen liegt. Ich beobachte mit gewisser Besorgnis die Entwicklung der Jugendämter in Österreich, bemerke eine Tendenz zu einer Re-Bürokratisierung und zu einer Renaissance uralter und autoritärer Konzepte in einem neuen Gewand. Naja, manchmal ist nicht einmal die Kleidung besonders modisch.
Ich habe lange Jahre in einem Jugendamt gearbeitet, und auch danach habe ich mich, soweit möglich, mit Fragen der Jugendwohlfahrt auseinandergesetzt. Unter anderem habe ich die Gelegenheit, eine Soziologie-Diplomarbeit schreiben zu müssen, dazu genützt, um die äußerst erfolgreiche Arbeit einer Kriseneinrichtung in Wien, die auch die Funktionen einer Notschlafstelle erfüllte, genau zu untersuchen. Meine Fragestellung war damals: Der Erfolg ist offensichtlich, wie tun die das, wie schaffen sie es, so erfolgreich zu sein. Ich wurde fündig, und einige Ergebnisse dieser Arbeit fließen in mein heutiges Referat ein. Die Einrichtung wurde übrigens geschlossen. Fallbezogener Erfolg war offensichtlich nicht das Thema, das irgendjemanden außerhalb des Kreises der Betroffenen interessiert hätte.
Soviel zu den politischen Rahmenbedingungen, und in der Folge werde ich auf Klagen über den Zustand der Welt im Allgemeinen und der Jugendwohlfahrt im Besonderen verzichten, denn Klagen bringt uns nicht weiter.
In diesem Referat will ich über das Mögliche sprechen, darüber, wie man in Notschlafstellen und Kriseneinrichtungen für Kinder und Jugendliche gute Arbeit machen kann.
Dafür werde ich mich mit den speziellen Bedingungen einer Kriseneinrichtung auseinandersetzen, werde die Ausgangsbedingungen der Fallarbeit skizzieren und werde Ihnen Standards der Fallbearbeitung vorschlagen. Ein Abschnitt ist dann der Sozialen Diagnose gewidmet. Danach aber soll es auch um die Kür gehen; darum, wie nicht nur das Notwendige, sondern darüber hinaus das Sehr Gute gemacht werden kann. Es wird also nicht nur um Sozialarbeit als Dienstleistungsjob, sondern auch um Sozialarbeit als aufregende Kunst gehen.
Ich hoffe, Sie sind bereit für diesen Weg.
A. Ausgangsbedingungen und wie sie methodisches Arbeiten strukturieren
Die Rahmenbedingungen der Arbeit wurden in den Referaten des Vormittags schon diskutiert, ich will sie aus meiner Sicht noch einmal zusammenfassen.
Charakteristische Rahmenbedingungen für die Arbeit in Notschlaf- und Krisenstellen für Kinder und Jugendliche sind:
- Fallübernahme in einer Akutsituation
- Möglichkeit der Intensivhilfe
- zeitliche Begrenzung der Fallbearbeitung
- die PrimärklientInnen sind per definitionem noch nicht erwachsen
Nun im Detail:
Fallübernahme in einer Akutsituation
Reden wir einmal über die erste Rahmenbedingung, die Fallübernahme in einer Akutsituation. Sie scheint auf den ersten Blick auch das charakteristischste Merkmal zu sein.
Eine Akutsituation ist vorerst einmal eine Situation, in der Handeln gefordert ist. Der Klient braucht JETZT Hilfe, er ist in einer aktuell schwierigen Situation. Es ist Schnelligkeit der Intervention gefordert. Nicht mehr und nicht weniger heißt Akutsituation. Damit ist noch nichts darüber ausgesagt, wie diese Situation zustandegekommen ist, ob sie sich schon länger angekündigt hat oder überraschend kam. Und, das ist mir sehr wichtig, damit ist auch noch nichts darüber ausgesagt, ob es sich um eine Krise im engeren Sinn handelt.
Sehr leicht wird von einer „Krise“ gesprochen, wenn es um akuten Hilfebedarf geht. Ganz nahe liegt dann auch die Rede von der „Krise als Chance“. Ich halte dieses leichtfertige Reden von einer „Krise“ für nicht zielführend und werde versuchen, das zu begründen.
Was bedeutet Krise? Sinnvoll von einer Krise kann man sprechen, wenn für eine Person die bisherige Orientierung in ihrem Leben zusammenbricht. Wenn diese Person handlungsunfähig ist. Das ist bei manchen Fällen der Fall, aber keineswegs bei allen. Wir sollten das nicht allen KlientInnen unterstellen.
Und noch etwas: Das beliebte Bild von der Krise als Chance mag ja ein gutes Bild sein, um Helfer zu motivieren, verwendet man es in der Kommunikation mit den Betroffenen, wirkt es aber schnell zynisch. Wer wirklich in einer Krise ist, der verdient auch, dass man seine Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit respektiert und nicht mit billigen Sprüchen beiseiteschiebt.
Ich plädiere dafür, vorerst einmal etwas vorsichtiger von einer Schlüsselsituation zu sprechen. Die ist bei der Aufnahme eines Jugendlichen in einer Notschlafstelle jedenfalls gegeben. Eine Schlüsselsituation ist eine Situation, in der Weichenstellungen erfolgen. Es ist eine Situation, oft mit einer gewissen Dramatik, in der sich für die Zukunft mehrere Wege eröffnen. Biografisch ist zumindest das erste Auftauchen in einer Notschlafstelle oder Kriseneinrichtung jedenfalls eine solche Schlüsselsituation.
Aus der Sicht des Sozialarbeiters muss ich sagen, es ist ein Glück, in so einer Situation mit einer Person arbeiten zu können. Die Chancen helfender Interventionen sind nie so groß, wie jetzt. Ich gratuliere Ihnen dazu, dass sie immer wieder Gelegenheit haben, mit Kindern und Jugendlichen und deren Umfeld in solchen Schlüsselsituationen zu arbeiten. Wenn Sie die Herausforderung annehmen, können Sie viel bewirken.
Möglichkeit der Intensivhilfe
Jetzt die zweite gute Nachricht. Sie haben die Möglichkeit zu Intensivhilfe, und nebenbei gesagt: Sie sollten diese Möglichkeit auch nutzen, oder anders gesagt: es wäre ein Kunstfehler, dieses „Window of Opportunity“ ungenutzt zu lassen.
Intensivhilfe, das heißt hier: Sie können den Jugendlichen für einen begrenzten Zeitraum eine Unterkunft bieten, Sie sind den Jugendlichen nahe und haben die Gelegenheit für Gespräche in verschiedenen Inszenierungen: Ganz formell als Sitzungen, aber auch informell beim Abendessen oder vor dem Schlafengehen. Die vorübergehende Verantwortung für das Alltagsleben der KlientInnen legitimiert auch, dass sie mit Personen aus dem Umfeld der Kinder und Jugendlichen Kontakt aufnehmen. Das ist ein Bündel von Möglichkeiten.
Zuerst zur Schlafmöglichkeit. Jemandem ein Bett, ein Zimmer anzubieten, das nenne ich ein Lebensfeldsubstitut. Lebensfeldsubstitute sind Einrichtungen / Leistungen des Sozialwesens, die wesentliche Teile eines „natürlichen“ Lebensfeldes zumindest temporär ersetzen. Lebensfeldsubstitute errichten eine institutionell geformte Welt um die KlientInnen, die nur bedingt mit dem Leben außerhalb von Institutionen vergleichbar ist. Für die KlientInnen entstehen dadurch biografische Etappen, die sie in Sonderwelten verbracht haben. Der Sondercharakter, die Künstlichkeit von Lebensfeldsubstituten hebt sie aus anderen Maßnahmen und Interventionen hervor. Der Extremfall für Lebensfeldsubstitute sind totale Institutionen. Geschlossene psychiatrische Kliniken, Pflegeheime und so weiter. Totale Institutionen stellen ein vollständiges Lebensfeld für ihre Insassen her. Sie sehen, man befindet sich in gefährlicher Nachbarschaft, wenn man ein Lebensfeldsubstitut zur Verfügung stellt. Niederschwellig ist das nur bedingt.
Will man negative Effekte von Lebensfeldsubstituten vermeiden, so muss die Unterstützung der KlientInnen sehr stark nach außen orientiert sein: Der Aufmerksamkeitsfokus muss sich auf die Welt außerhalb richten. Ich werde das später noch genauer erläutern.
Möglichkeit zu intensiver Hilfe, das heißt auch, dass es viele Chancen für eine Auseinandersetzung mit den KlientInnen und ihrem sozialen Umfeld gibt. xxxxxx
zeitliche Begrenzung der Fallbearbeitung
Die zeitliche Begrenzung bei der Fallbearbeitung zähle ich auch – und das wird Sie vielleicht verwundern – zu den guten Nachrichten. Die Begrenzung ermöglicht eine bestimmte Beziehungsinszenierung. Man kann sich intensiv mit den KlientInnen beschäftigen, ist aber von der Notwendigkeit entlastet, eine dauerhafte Beziehung zu ihnen aufzubauen. Das erleichtert die Arbeit. Natürlich benötigt man die üblichen Tugenden: Verlässlichkeit, Respekt vor der Person, ruhiges Interesse für die Lebenssituation der Betroffenen etc. – aber die Inszenierung von Nähe und Distanz ist einfacher. Der Verdacht, dass man die Rolle eines Vaters, einer Mutter übernehmen will, taucht wohl kaum auf. Dadurch ist es auch leichter, mit den Fallbeteiligten im Umfeld der Jugendlichen zu verhandeln: Man macht niemandem seine Position streitig. Sie wissen vielleicht, wie problematisch gerade dieses Rollenspiel bei Heimen, Pflegeeltern und ähnlichen dauerhaften Leistungen ist.
Ein weiterer Vorteil der zeitlichen Begrenzung ist die Chance, sich auf das Aktuelle zu konzentrieren. Bestimmte Probleme sind ganz klar in diesem Setting nicht zu lösen und können daher eher an den Rand der Aufmerksamkeit geschoben werden. Die zeitliche Begrenzung erleichtert die Konzentration auf das jetzt Wesentliche. Und sie gibt, wie zu zeigen sein wird, die Möglichkeit zu einer klaren Strukturierung der Fallbearbeitung. Eine klare Strukturierung, die den Prozess auch für die KlientInnen überschaubar und durchschaubar macht.
Das Zeitfenster, das hier offensteht, ist nicht sehr groß. Halten wir also vorerst einmal fest: Die Methodik muss auf kompakte Interventionen ausgerichtet sein. Langfristig ausgerichtete Arbeit ist hier nicht möglich. Das Motto könnte lauten: Kurz, aber intensiv. Wann, wenn nicht jetzt.
Und nun zum 4. und letzten Spezifikum:
die PrimärklientInnen sind per definitionem noch nicht erwachsen
Klar, Sie arbeiten mit Kindern und Jugendlichen. Minderjährige gelten rechtlich nicht als Erwachsene. Das mag eine banale Feststellung sein. Sie wissen, dass das eine Serie von rechtlichen Schwierigkeiten und Möglichkeiten mit sich bringt, die die Arbeit deutlich von der mit erwachsenen Wohnungslosen unterscheidet. Der wichtigste Unterschied geht aber über Gesetzesformulierungen hinaus. Die Verantwortung der Gesellschaft ist gegenüber Kindern und Jugendlichen eine ungleich größere, und MitarbeiterInnen des Systems der Jugendwohlfahrt sind es, die diese Verantwortung konkret und fallbezogen wahrzunehmen haben.
Kinder und Jugendliche haben Eltern mit Rechten und Pflichten. Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf weitreichendere Unterstützung, sie können nur eingeschränkt für ihre Lebensplanung verantwortlich gemacht werden. Kinder und Jugendliche allein zu lassen, ist nicht statthaft. Wenn sie sich entziehen, haben sie ein Recht darauf, gesucht zu werden. Wenn sie sich selbst schädigen, haben sie ein Recht darauf, dass das nicht achselzuckend hingenommen wird. Sie haben einen Anspruch auf „Care“, auf aktive Sorge, oder, um es mit einem altmodischen Wort zu sagen, sie haben einen Anspruch auf Fürsorge.
Diesen Anspruch der Kinder und Jugendlichen auf Fürsorge nehme ich als Ausgangspunkt für meine weiteren Überlegungen.
B. Die Pflicht: Standards der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Akutsituationen
Ich will über die Pflicht reden. Das Pflichtprogramm, das Kinder- und Jugendnotschlafstellen meines Erachtens zu erfüllen haben und erfüllen können sollten (man beacht edie gekünstelte Formulierung: Nicht immer sind die Verhältnisse so, dass alles gemacht werden kann, was gemacht werden sollte). Ich will über Standards reden.
Für alle Gruppen offen sein, die die Unterstützung einer Kriseneinrichtung mit Schlafgelegenheit benötigen
Beginnen wir vor der eigentlichen Fallbearbeitung, nämlich mit der Frage, wie die Kids und Jugendlichen in die Kriseneinrichtung kommen, und welche kommen. Hier gibt es einige vernünftige Möglichkeiten, die mir einfallen, wahrscheinlich kennen Sie noch weitere Zugänge:
- Jgdl. sind ohne Unterkunft und suchen eine Schlafstelle.
- Jgdl. haben einen aktuellen Konflikt in ihrem jetzigen (familiären) Bezugssystem, sodass sie „flüchten“.
- Das Jugendamt sucht eine Interimslösung bis zur Abklärung der weiteren Vorgangsweise und verweist auf die Kriseneinrichtung.
- Die Polizei gibt einen akuten Fall weiter.
- Eltern (oder andere Verantwortliche) wissen nicht mehr weiter und suchen Hilfe.
Meines Erachtens sollten Kriseneinrichtungen für alle diese Fälle da sein. Man kann mit den einen wie mit den anderen sinnvoll arbeiten und die Arbeit mit diesen Nutzergruppen unterscheidet sich gar nicht so sehr, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.
Am ehesten noch ist es die erste Gruppe, die eine andere Herangehensweise herausfordert. In der DDR nannte man solche Kinder und Jugendliche „familiengelöst“, gemeint waren allerdings vorwiegend jene, die in Heimen und Pflegestellen untergebracht waren und keinen Kontakt mehr zu ihrer Herkunftsfamilie hatten. Auch diese unsere Zielgruppe ist in gewissem Sinne „familiengelöst“: Die aktuellen Kontakte zur Herkunftsfamilie sind marginal, die Szene ist die dominante soziale Bezugsgruppe. Im krassen Fall gehören solche Jugendliche zu den „Exkludierten“. Es gibt nur mehr wenige Verbindungen zu den Funktionssystemen dieser Gesellschaft.
Gegenüber jenen Jugendlichen ist eine Inszenierung von Niedrigschwelligkeit besonders wichtig, sonst erreicht man sie vielleicht nicht. Mit Blick auf diese Gruppe sind Angebote wie Anonymität, Grundversorgung ohne große Nachfragen etc. entwickelt worden.
Für alle anderen Nutzergruppen wäre allerdings ein solches Verständnis von Niederschwelligkeit kontraproduktiv. Sie haben in aller Regel noch eine Reihe von Verbindungen zu dem, was wir unter „normaler“ Welt verstehen: Es gibt Kontakte zur Familie, mögen diese Kontakte auch konflikthaft und massiv belastet sein; sie besuchen noch eine Schule oder einen Arbeitsplatz. Sie haben Freundinnen und/oder Freunde, die eine Lehre, eine Schule oder etwas ähnliches besuchen. Wenn sie in die Kriseneinrichtung kommen, so sind diese Bezüge aktuell gefährdet, aber sie sind noch nicht verloren.
Wenn wir ganz allgemein mit dem modernen systemischen Verständnis an die Sozialarbeit herangehen, dann geht es um die Sicherung oder Wiederherstellung von Inklusion. In einer Situation der Gefährdung, einer Akutsituation, also um die aktive Bewahrung vorhandener Inklusionsreste, um das Reparieren unterbrochener Bezüge, und um die Erarbeitung von Inklusionschancen.
Wir dürfen die Jugendlichen also nicht als Isolierte behandeln, auch wenn sie sich vorerst einmal als Isolierte darstellen mögen. Wir sind nicht jene, die irgendjemanden aus ihrem Umfeld von Verwandten und Freunden ersetzen können – schon aufgrund der uns nur beschränkt zur Verfügung stehenden Zeit nicht.
Nennen wir also einen ersten Standard: Die Notschlafstelle sollte für jene obgenannten Gruppen leicht zugänglich sein, um sie werben und eine Fallbearbeitung anbieten.
Zugänglichkeit rund um die Uhr
Idealerweise ist eine Kriseneinrichtung rund um die Uhr erreichbar und zugänglich, und das 365 Tage im Jahr.
Ich weiß, das trifft auf so manche der hier vertretenen Einrichtungen nicht zu. Ich wiederhole es trotzdem: Idealerweise ist eine Kriseneinrichtung rund um die Uhr erreichbar und zugänglich, 365 Tage im Jahr. Die Beschränkung der Zugänglichkeit auf die Abend-, Nacht- und Morgenstunden beschneidet die Möglichkeiten einer aussichtsreichen Fallbearbeitung radikal. Notschlafstellen für Erwachsene können sich eine solche Einschränkung leisten, Notschlafstellen für Minderjährige eigentlich nicht.
Kinder, die noch in die Schule gehen, sollen nach der Schule in die Einrichtung kommen können. Jugendliche, die keine Arbeit haben, sollen die Notschlafstelle als Stützpunkt haben können. Kinder und Jugendliche, die sich in einer Akutsituation befinden, sollen sich dann, wenn´s grad brennt und wann sie das Bedürfnis haben, an die Kriseneinrichtung wenden können. Die Kriseneinrichtung, die ich ausführlich untersucht habe, hatte rund um die Uhr geöffnet. Nur ein kleiner Teil der Erstkontakte fiel in die Abend- und Nachtstunden.
Es gibt noch weitere gute Gründe für eine Besetzung untertags: die fallbezogene Netzwerkarbeit muss größtenteils untertags erfolgen: dann, wenn die Leute arbeiten und erreichbar sind. Eine Nicht-Besetzung untertags ist eine Entscheidung gegen Intensivhilfe, ist eine Entscheidung dagegen, das Potenzial von Kriseneinrichtungen auszuschöpfen.
Ausführliches Erstgespräch sofort beim Erstkontakt
Ich habe anfangs von Schlüsselsituationen gesprochen – und davon, dass wir von einer Schlüsselsituation (und jedenfalls auch von einer Akutsituation) ausgehen können, wenn ein Kind / ein Jugendlicher erstmals in die Notschlafstelle oder die Kriseneinrichtung kommt. In dieser Sitation ist es unerlässlich, ein ausführliches Gespräch mit den Jugendlichen zu führen.
Gesprächsfokus: Was ist passiert, wie kamst du zu dem Entschluss, gerade heute die Notschlafstelle aufzusuchen. Was sind/waren die Alternativen? Wohin solltest du morgen gehen? Wie kann man negative Folgen dieses Entschlusses verhindern? Wer sorgt sich jetzt vielleicht um dich? Wer würde sich um dich sorgen, wenn er/sie wüsste, wo du bist?
Eine Haltung aufmerksamen Interesses ist hier essenziell. Und noch etwas: lassen Sie sich erklären, für welches Problem die Übernachtung hier die Lösung sein soll. Sie müssen einen kleinen Konstruktionsfehler ausbügeln, den Ihre Einrichtungen haben: Sie sind nach einer vermeintlichen Lösung benannt. Das verleitet dazu, sofort anzunehmen, dass die Lösung ohnehin außer Frage steht. Aber ob die Lösung passt, kann man erst wissen, wenn man das Problem kennt. Lösungsoffenheit muss also schon im Erstgespräch gelten. Möglicherweise kommt man während des Gesprächs mit dem Jugendlichen drauf, dass es auch im Augenblick eine bessere Lösung gibt, als hier zu übernachten.
Lassen Sie sich Zeit bei diesem Erstgespräch. Seien Sie geduldig und schließen Sie es erst dann ab, wenn Sie den Eindruck haben, Sie wissen ziemlich genau, was heute passiert ist, was den Jugendlichen dazu gebracht hat, Ihre Einrichtung aufzusuchen und Sie können ihm guten Gewissens diesen Schlafplatz bieten. Für heute ist alles Wesentliche gesagt, und der Jugendliche weiß, wie es morgen weitergeht.
Die Aufrechterhaltung von Lösungsoffenheit legt auch ein Selbstverständnis als Einrichtung zur Bearbeitung von Situationen akuter Lebensprobleme nahe. Ich formuliere daher als weiteren Standard:
Die Notschlafstelle ist eine Stelle zur Hilfe bei akuten Lebenskrisen von Kindern und Jugendlichen
Konsequenterweise würde das heißen, dass Sie auch Unterstützung anbietet, wenn die Lösung nicht oder derzeit nicht eine Schlafstelle ist.
Strukturierte Fallbearbeitung
Die Fallbearbeitung sollte eine Struktur haben, die für die Jugendlichen durchschaubar ist. Dazu zählt, dass deutlich zwischen Sitzungen / Besprechungen, in denen Entscheidungen fallen sollen, und anderen Gesprächen unterschieden wird. Sitzungen, in denen Entscheidungen getroffen werden, müssen i.a.R. zu einem vorher vereinbarten Zeitpunkt stattfinden und sie sollten wichtige Andere einbeziehen. Zwischen diesen ausführlichen Sitzungen mit Lagebesprechung und Lösungssuche ist Zeit für fallbezogene Interventionen aller Art, speziell für informelle Gespräche mit dem oder der Jugendlichen, für Verhandlungen mit wichtigen Personen aus dem sozialen Umfeld, gegebenenfalls mit dem Jugendamt etc.
Netzwerkorientierung
Ich habe es bereits mehrfach angedeutet: Die Bearbeitung einer akut problematischen Lebenssituation kann sich nicht in der Beratung des Jugendlichen erschöpfen. Das wäre ein zu wenig an Hilfe. In relativ kurzer Zeit muss der Jugendliche wieder raus in seine Welt, und dort sollen möglichst bessere Bedingungen herrschen als vorher. Daran zu arbeiten, das ist aussichtsreich. Den geschickten Verhandlungen mit wichtigen Personen aus dem sozialen Umfeld gebührt daher ein hervorragender Platz im Methodenkoffer. Dabei ist es sinnvoll, auf billige Kraftmeierei zu verzichten. Wir verteidigen die Rechte der Jugendlichen am besten, indem wir den Personen aus dem Umfeld grundsätzliche verstädnnisvoll und wohlwollend begegnen, bereit sind, an der Lösung ihrer Probleme mitzuarbeiten. Oft haben diese Personen Konflikte mit dem Jugendlichen. Meist ist ein mediativer Zugang sinnvoll. Sie kennen das Schlagwort von der Allparteilichkeit als Haltung in der Mediation. Das ist eine geeignete Technik auch in der Bearbeitung von Konflikten Ihrer KlientInnen mit deren Umfeld.
C. Soziale Diagnose in der Akuthilfe
Ich möchte nun auf die Soziale Diagnose im Prozess der Unterstützung eingehen, auf Ihre diagnostischen Aufgaben. Zuerst eine Warnung: Sie haben zeitlich begrenzt mit Kindern / Jugendlichen in einer akuten Problemsituation zu tun. Auf dieses Faktum sollte sich auch die Diagnose beziehen. Das heißt: Im Vordergrund stehen die jetzige Situation und die nahe Zukunft. Im Vordergrund steht die Geografie des Falles. Im Rahmen dieser Geografie müssen Sie pragmatische Lösungen suchen und finden.
Und weil die Mitarbeit des Jugendlichen für die Lösungschancen essenziell ist, ist die Arbeit mit und an der Eigendiagnose des Klienten unverzichtbar, die Arbeit an dem, wie er/sie seine Situation einschätzt, wo er/sie hin will, welche Möglichkeiten er/sie ausschließt und welche in Betracht zieht.
Allgemeines zur sozialen Diagnose: Verstehen
Beginnen wir mit der wichtigsten Operation in der Fallbearbeitung, die gleichzeitig diagnostisch und eine hilfreiche Intervention ist: Mit dem beharrlichen Versuch, zu verstehen. Zu Verstehen versuchen heißt zuallererst, die Situation genau zu begreifen, in der sich der Jugendliche befindet. Genau begreifen, das heißt, sich auch des eigenen Nicht-Verstehens immer wieder zu vergewissern.
Verstehen ist unmöglich. Genau das macht es interessant, macht den Versuch des Verstehens zu einem stets aufregenden und unabschließbaren Abenteuer. Um sich auf dieses Abenteuer einlassen zu können, müssen wir skeptisch gegenüber uns selbst sein. Wenn wir glauben, wir haben´s begriffen, irren wir uns sicher.
Oder andersrumgesagt: Ein Verstehen, das alles verständlich sein lässt, ist ein Nicht-Verstehen. Wir bleiben Fremde in der Welt unserer Klientinnen und Klienten. Wir benötigen das Staunen und das bewusste Nicht-Wissen als Antrieb für den Dialog. Daher können wir stets nur Vorschläge machen und letztlich die Eigendynamik der Situation nicht aushebeln.
Was soll dieser kleine Exkurs zum Verstehen und zur Unmöglichkeit des Verstehens? Ich schließe Empfehlungen an:
Vermeiden Sie bequeme Abkürzungen beim Versuch, die Situation zu verstehen. Die von mir untersuchte Kriseneinrichtung hatte so etwas wie eine Sicherung gegen Abkürzungen eingebaut: Sie sagten, „wir machen keine Diagnose“. So würde ich das nicht beschreiben, aber was sie gemeint haben, das halte ich für außerordentlich nützlich: Sie haben gemeint, dass sie bewusst darauf verzichteten, sich konkrete Probleme mit einem Etikett zu erklären. Auch wenn´s bereit lag, die Jugendliche als „Borderlinerin“ zu bezeichnen oder den Knaben als „hxperaktiv“, haben sie auf die Verwendung dieses Etiketts verzichtet. Dadurch mussten sie die Lebenssituationen genauer betrachten, mussten deren Logik aufspüren. Das ist manchmal anstrengend, aber es hilft. Verzichten Sie auf billige Abkürzungen. Arbeiten Sie an einem differenzierten verständnis der Situation, und bleiben Sie dabei so konkret wie möglich. Wenn Sie glauben, Sie wissen genug, um den Klienten „entschuldigen“ zu können, dann sind Sie an einem gefährlichen Punkt, an einem Punkt, an dem Sie ihr Nicht-Wissen bagatellisieren. An diesem Punkt sollte man genauer hinschauen, genauer hinhören. So lange, bis man sich seines Nicht-Wissens wieder bewusst ist.
Noch etwas Grundsätzliches zur Sozialen Diagnose: Sozialarbeit bearbeitet soziale Situationen. Sie will ihre Klienten befähigen, ihre Lebenssituation selbst aktiv zu meistern, und will die Situation so beeinflussen, dass sie meisterbar ist. Soziale Diagnose beschäftigt sich folgerichtig mit dem Verhältnis der Personen zu ihrer sozialen Umwelt und mit der Struktur dieser Umwelt. Sie ist keine Persönlichkeitsdiagnostik, und schon gar keine Diagnostik, die Krankheiten feststellt. Wenn ein Klient ein verkrüppeltes Bein oder eine psychotische Erkrankung hat, so ist das eine interessante Rahmenbedingung. Schließlich muss er sein Leben „unter der Bedingung von …“ dieser Beeinträchtigung organisieren. Es ist ein Bestandteil der Situation, in der er lebt. Insofern fließt dieses Faktum in die Lageeinschätzung ein.
Diagnostische Verfahren
Ich kann Ihnen einige diagnostische Verfahren zur Verfügung stellen, die bei der Arbeit mit Ihren Fällen hilfreich sein können. Diagnostische Verfahren, das sind relativ klar beschriebene Vorgehensweisen einer strukturierten Datenerhebung und Dateneinschätzung. Im Rahmen dieses Referats ist nicht die Zeit, die Verfahren hinreichend genau zu beschreiben, sodass Sie sie anwenden könnten, aber ich will zumindest zeigen, dass es solche Verfahren auch für die Sozialarbeit und für Ihre Arbeit gibt. Sie können auf meiner Website Genaueres über manche dieser Verfahren nachlesen. Übrigens wird ab Anfang nächster Woche auch der Text dieses Referats auf meiner Website zugänglich sein.
Nun also zu den Verfahren.
Erste Sichtdiagnose
Die erste Sichtdiagnose ist die bewusste, ich betone: die bewusste Wahrnehmung der äußeren Erscheinung des Klienten und seines Auftritts (wenn man so will: seiner Selbstinszenierung). Versuchen Sie den Eindruck zu beschreiben, den der Klient auf Sie macht, melden Sie diesen Eindruck an den Klienten zurück. Fassen Sie die sichtbaren Informationen kurz zusammen.
Wieso ist das wichtig? Natürlich macht der Klient einen Eindruck auf Sie. Im Alltagsleben kategorisieren wir Menschen schnell nach diesem Ersteindruck. Diese Kategorisierung müssen wir der kontrollierten Erkenntnisgewinnung und der Reflexion zugänglich machen, daher muss sie bewusst und sprachlich formuliert werden. Es ist der erste Schritt zu einer fachlich einwandfreien Diagnose.
Presented Problem Analyse
Das zweite Verfahren, das ich Ihnen vorschlagen will, nenne ich PPA. Auch das ist ein unverzichtbarer Beratungsschritt. Die Eingangserzählung des Klienten muss, um bearbeitbar zu werden, die Form einer Problembeschreibung erhalten. Eine Problembeschreibung muss alle Elemente eines Problems enthalten: Ein IST, ein SOLL, ein Hindernis, und einen Aktor, der bereit ist, Energie aufzuwenden, um dieses Hindernis zu überwinden. Diese Elemente zu identifizieren, ist nicht immer leicht, und es ist nicht immer leicht, zu einer Problemdefinition zu kommen, bei der der Klient sich selbst als Aktor benennt. Nur solche Probleme sind aber in einem Beratungskontext bearbeitbar. Zur PPA gehören auch erste Schritte zu einer Analyse der Situation.
Abklärung der Akutsituation
Unerlässlich ist eingangs die Abklärung der aktuellen Situation mit ihren wesentlichen Parametern: Was hat unmittelbar zum Aufsuchen der Notschlafstelle geführt, was muss jetzt und in den nächsten 12 – 20 Stunden getan werden, damit sich die Ausgangssituation des Klienten nicht weiter verschlechtert. Welche Maßnahmen müssen zur Absicherung künftiger Chancen jetzt getroffen werden?
Dazu dienen Leitfragen wie die folgenden:
+++ was ist der Anlass für das Aufsuchen der Notschlafstelle?
- was geschah unmittelbar vorher, das zu dieser Entscheidung führte?
- wer war daran noch beteiligt?
- mit wem wurde das besprochen?
- welche mögliche Vertrauensperson wurde warum nicht konsultiert?
+++ was ist zur Alltags- und Chancensicherung jetzt (sofort) zu tun?
- welche Verbindungen bestehen zu einem funktionierenden Alltag?
- was muss getan werden, damit diese Verbindungen nicht abgebrochen oder unnötig belastet werden?
- welche können leicht wiederhergestellt werden?
- gibt es jemanden, der sich nun ev. Sorgen macht?
Diese wie die vorgenannten diagnostischen Verfahren sind im Erstgespräch anzuwenden, also direkt bei der Aufnahme. Als Ergebnis haben wir die Entscheidung über die Aufnahme, darüber, ob jetzt sionnvollerweise jemand vom Verbleib des Jugendlichen zu verständigen ist, wer zu einer ersten Sitzung eingeladen werden sollte bzw. wer von uns vorher kontaktiert werden sollte etc.
Die weiteren von mir genannten Verfahren spielen in der Folge eine Rolle, und sie sind Verfahren zur Analyse der Beziehungen von Klient, Problem und sozialem Umfeld:
Personalliste
Die Personalliste ist so etwas wie eine Besetzungsliste des Fallsettings.
…
Mehrperspektivische Problemraster
Mehrperspektivische Problemraster dienen der Analyse des Feldes, das sich rund um das zu bearbeitende Problem aufspannt. Sie beziehen die Problemsichten wichtiger Akteure mit ein, und auch medizinische, psychologische, juristische und andere fachliche Problemdefinitionen. Sie können nicht nur dazu dienen, dass sich die Fachkräfte einen Überblick über die Multiperspektivität der Fallsituation verschaffen, sondern sie können auch den Klienten helfen, systematisch andere Sichten in das eigene Kalkül einzubeziehen.
Verfahren der Netzwerkdiagnostik
Schließlich wären noch einige Verfahren der Netzwerkdiagnostik zu erwähnen, die es ermöglichen, mit den KlientInnen sein Unterstützungsnetzwerk und Maßnahmen zu dessen Stärkung zu diskutieren. Brauchbar dafür sind vor allem die Netzwerkkarte und ev. das Personal Social Support Survey nach Pearson. Ich werde Ihnen diese Instrumente auf meiner Website zugänglich machen. Beide Verfahren dienen als Grundlage für netzwerkbezogene Interventionen und für eine netzwerkbezogene Beratung des Klienten.
Soweit zu diagnostischen Verfahren. Aber nun will ich mein Versprechen einlösen, mich auch noch mit Fragen der Exzellenz, also hervorragender methodischer Arbeit zu beschäftigen.
D. die Kür: Wege zu exzellenter Arbeit
Exzellenz ist nicht standardisierbar. Sie finden Ihre eigenen Wege zu ausgezeichneter Arbeit, Sie verwenden Ihre Stärken. Ich hoffe, Sie haben ein Team um sich, das Sie dabei unterstützt, denn ohne ein ehrgeiziges funktionierendes Team ist es kaum möglich, wirklich exzellent zu arbeiten. Auch wenn Hervorragendes nicht standardisierbar ist, kann man doch Prinzipien exzellenter Arbeit benennen, und ich will das jetzt tun.
- Schnelligkeit
exzellent Arbeiten, das heißt schnell reagieren. Vor allem in Akutsituationen, also Ihrer Spezialität, ist das angebracht. Schnelligkeit und hohe Intensität sind das Geheimnis des Erfolgs in Schlüsselsituationen. Schnelligkeit heißt allerdings nicht, überhastet zu agieren. Prozesse, die Zeit brauchen, müssen diese Zeit bekommen, damit sie sich entwickeln können. Das Erstinterview muss sofort stattfinden, aber es darf nicht überhastet geführt werden. Es braucht seine Zeit. So verstehe ich Schnelligkeit: Schnell beginnen, ruhig arbeiten. - Genauigkeit
genau sein, das heißt, sogar die Unschärfen wissen zu wollen. Genau sein, heißt mit Widersprüchen leben können, ja die Widersprüche zu suchen. Genauigkeit ist nicht die Suche nach „Tiefe“, oder dem, was gemeinhin darunter verstanden wird. Genauigkeit ist Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber: Auch das Unbequeme anschauen. - Leichtigkeit
Leichtigkeit ist das Gegenteil von Schwere. Und Schwere heißt, sich nicht vorstellen zu können, gleichzeitig hier und wo anders sein zu können. So formuliert es Dirk Baecker in Anlehnung an Italo Calvino. Leichtigkeit heißt, immer das Andere auch mitdenken zu können. Leichtigkeit heißt Leichtfüßigkeit im Sumpf. - Kooperation
Kooperation, das heißt das Bekenntnis dazu, dass nicht wir allein die Probleme lösen können, und auch nicht der Klient alleine. Kooperation, das heißt, dass wir auch die Zusammenarbeit mit jenen suchen, die dem Klienten bisher geschadet haben. Und Kooperation, das heißt vor allem intensive Kooperation im Team: Alle müssen über die aktuellen Entwicklungen im Fall Bescheid wissen, es muss unmittelbar an die Vorarbeit der anderen angeschlossen werden können. Exzellenz benötigt brillante Teamarbeit. - Netzwerkorientierung
Zur Netzwerkorientierung habe ich schon einiges gesagt, trotzdem verdient sie, hier noch einmal angeführt zu werden. Netzwerkorientierung heißt zu wissen, dass sich die Zukunft des Klienten wesentlich erst nach unseren Interventionen entscheiden wird, und dass sie wesentlich davon abhängen wird, ob er unterstützende Personen zur Verfügung haben wird. - Inklusionsfokus
Inklusionsfokus, das heißt, dass vorrangig daran gearbeitet wird, dass die Verbindungen des Klienten zu den Funktionssystemen der Gesellschaft aufrechterhalten oder repariert wird. Diese Reparatur hat Vorrang vor Substituten. Also: möglichst versuchen wir, keine künstliche Welt um den Klienten aufzubauen.Wenn irgend möglich, dann dann ist jede natürliche gesellschaftliche Umwelt vorzuziehen. Inklusionsfokus heißt auch, das vorhandene Beziehungen und Inklusionen gepflegt und abgesichert werden, zerstörte wiederaufgebaut werden. - nachgehende Sorge
Intensiver Informationsaustausch zwischen MitarbeiterInnen ist nötig, sodass KollegIn mit Jgdl. weiterarbeiten kann.
Soweit nur irgend möglich soll Person, die Erstgespräch geführt hat, HauptakteurIn in diesem Fall bleiben.
Sich um Jgdl. respektvoll kümmern, auch wenn er sich gerade zu entziehen versucht: Sorge inszenieren.
E. Zusammenfassung und Schluss
Liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich will nun versuchen, die wichtigsten Botschaften noch einmal zusammenzufassen – und bin dann schon gespannt auf Ihre Einwände. Schließlich habe ich als jemand gesprochen, der zwar die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in akuten Problemsituationen kennt, die Arbeit in Notschlafstellen allerdings nicht aus eigener Erfahrung. Ich hab also eine gewisse Chance, falsch zu liegen. Sie werden´s mir sagen, wenn es so sein sollte.
Sie werden bemerkt haben, dass ich nichts davon halte, Jugendnotschlafstellen als Billighotels zu führen. Meines Erachtens vergibt man damit sträflich die große Chance, die sich aus dem intensiven Zugang zu jungen Menschen in Akutsituationen ergibt. Es ist die Chance einer zeitlich begrenzten, aber sehr intensiven Hilfe, die die Weichen für die Zukunft stellen kann.
Sie werden auch bemerkt haben, dass ich für intensives Engagement im sozialen Umfeld der Klienten eintrete. Das Klientel der Notschlafstellen und Kriseneinrichtungen hat oft wenig Einfluss, wenig andere Ressourcen. Ihr Einsatz ist gut legitimiert, und er kann viel bewirken.
Sie werden bemerkt haben, dass ich meine, Sie müssten lösungsoffen die Fälle bearbeiten. Das Schlafen ist keine Lösung, ja es ist anfangs noch nicht einmal sicher, ob es hilft. Diese Lösungsoffenheit macht mehr Arbeit, aber sie macht die Arbeit auch erst attraktiv.
Und attraktive Arbeit, das ist schließlich das, was wir für unser eigenes Lebensglück brauchen. In diesem Sinne danke ich Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen anstrengende und attraktive Fälle.
Konsumverbot in Notschlafstellen?
Im Anschluss an das Referat auf der Tagung der öst. Jugendnotschlafstellen gab es noch folgenden kurzen Diskurs per Mail
November 2004
Sehr geehrter Herr Mag. Pantucek,
ich schreibe ihnen, weil sie vorige Woche bei der Notschlafstellentagung in Salzburg "wagemutig"(?) gesagt haben, dass die Einrichtungen keine Konsumverbote für Jugendliche ("damit schießt man sich ins Knie") erlassen sollen. ich konnte sie leider persönlich nicht mehr darauf ansprechen, aber auch bei den TeilnehmerInnen ist am zweiten Tag noch etwas Verwirrung darüber vorhanden gewesen, weil überall solche Konsumverbote, sowohl in Jugendwohlfahrtseinrichtungen, als auch in den Notschlafstellen und Suchthilfeeinrichtungen, bestehen. ich bitte sie um kurze Aufklärung über ihre Meinung und die dazugehörigen Überlegungen, um diese den TeilnehmerInnen rückzumelden und mich auch nochmals damit auseinanderzusetzen.
ich danke ihnen sehr herzlich, auch für die vielen interessanten Anregungen.
mit lieben Grüßen aus Graz
DSA Monika Meier
Liebe kollegin,
zugegeben, ich hab da ein bisserl drastisch dagegen gesprochen, und die
gschicht ist ziemlich schwierig, wie ich weiß, nicht nur, aber auch aus
rechtlichen gründen. ich bevorzuge grundsätzlich akzeptierende arbeit
mit suchtmittelkonsumentInnen, das heißt auch, dass der fakt des
konsums vorerst einmal anzuerkennen ist und dass ich im dialog mit den
klientInnen nicht von vornherein davon ausgehen kann, dass es für sie
besser wäre, nichts zu konsumieren. allein das gibt mir die chance, sie
jetzt einmal zu erreichen. weiters halte ich es für eine illusion, dass
sie ausgerechnet in schwierigen lebensphasen ihren konsum in den griff
bekommen könnten (von einzelfällen einmal abgesehen). worum es gehen
kann, ist also nicht ein verbot als vorgabe, sondern die akzeptanz als
vorgabe. und ausgehend von dieser akzeptanz wäre dann zu verhandeln,
wie dieser konsum im rahmen der einrichtung sozial akzeptabel
stattfinden kann. auch dabei steht u.a. die frage im vordergrund, wie
(unter der bedingung des konsums) unnötiger schaden vermieden bzw.
abgewendet werden kann. da kann man dann mit den klientInnen verhandeln
und eine lösung kann sein, dass sie nur außerhalb der einrichtung
konsumieren (was dann allerdings i.d.r. dazu führt, dass die flaschen
und die spritzen in der nachbarschaft herumliegen und man deshalb
schwierigkeiten kriegt), aber auch, dass sie kontrolliert und
unterstützt in der einrichtung konsumieren. letzteres ist sicher die
größere herausforderung und nicht überall umzusetzen.
wichtig ist mir, dass nicht die verbote im vordergrund stehen und die
erste botschaft sind, wichtig ist mir auch, dass nicht in
kriseneinrichtungen neuerlich der ausschluss von konsumierenden
kindern/jugendlichen betrieben wird. es ist schlimm genug, dass die
jugendwohlfahrtseinrichtungen bisher nicht gelernt haben, sich dieser
sache zu stellen, und das unter der bedingung, dass inzwischen ein
relativ großer teil der kids, die unterstützung durch die
jugendwohlfahrt benötigen und auch einen anspruch darauf hätten,
alkohol oder illegale substanzen konsumieren. m.e. ist es eine
bringschuld der jugendwohlfahrt, ihre dienste so zu organisieren, dass
sie für ihr klientel brauchbar sind (und nicht umgekehrt, es kann also
keine bringschuld der kids sein, sich vor nutzung einer
juwo-einrichtung so zu disziplinieren, dass sie der organisation und
dem personal keine schwierigkeiten bereiten).
vor allem angesichts der inzwischen sehr verbreiteten verwendung von
ritalin und anderen psychopharmaka in jugendwohlfahrtseinrichtungen ist
es m.e. grotesk, sonst in erster linie auf abwehr gegen den konsum von
psychoaktiven substanzen zu setzen.
ich gebe zu, patentlösung habe ich auch keine. das in der diskussion
angesprochene problem, dass man die nicht-konsumierenden, jüngeren kids
vor der konfrontation mit den "kaputten" (ich weiß, so wurde es nicht
genannt) schützen müsste, hat natürlich eine gewisse berechtigung. das
beschränkt sich aber keineswegs auf den suchtmittelkonsum. wir wissen,
dass die gefahr von gewaltattacken, von sexueller belästigung und
sexuellem missbrauch durch andere nutzerInnen gegeben ist, dass
diebstähle und zerstörung von eigentum vorkommen - und dass vor allem
bei letzterem die täterInnen nicht immer zu identifizieren sind. diese
frage des schutzes muss also in allgemeinere überlegungen eingebettet
werden, wie man in kriseneinrichtungen (aber auch in anderen "foster
homes") klientInnen vor mitklientInnen schützt. wege dazu sind z.b.
intensiver personaleinsatz, versperrbare zimmer, notrufe, intensive
hinschauende beschäftigung mit täterInnen und opfern.
natürlich hängt es von der sozialen herkunft der kids auch ab, aber es
ist zu bedenken, dass gewalterfahrungen, konsumierende kids etc. auch
teil der lebenswelt von vielen kids sind, die in unseren einrichtungen
landen. mit einem simplen verbot ist man da meines erachtens noch
keinen schritt weiter. das hab ich gemeint mit meiner etwas harschen
positionierung.
ich hoffe, meine position nun einigermaßen nachvollziehbar erklärt zu
haben, wünsche ihnen viel erfolg bei ihrer arbeit und spannende
diskussionen darüber, wie man auch konsumierenden kids zu angemessener
und respektvoller unterstützung im system der jugendwohlfahrt verhelfen
kann.
liebe grüße
ppan