Der 2020 Krisenblog

Zwölfter Tag

Eigentlich wollte ich darüber schreiben, wie es ist, wenn man sich nunmehr so oft selbst sieht. Das ist ja der große Unterschied zwischen Meetings mit physischer Ko-Präsenz und Online-Meetings: Bei den ersteren sehe ich alle sehr gut, von mir allerdings nur die Hände. Beim Onlinemeeting bin ich selbst einer der für mich sichtbaren Köpfe. Jetzt muss ich diesen Vogel ständig anschauen, und meine bisher gute Meinung von mir selbst leidet darunter.
Jetzt habe ich aber eine der klarsten Zusammenfassungen der Situation, in der sich die Gesellschaft befindet, gehört – und ich freue mich natürlich, dass die von einem Soziologen-Kollegen kommt. Muss ich also weitererzählen und behinweisen (Hurrah, wieder ein neues Wort entdeckt): Aladin El-Mafaalani, Prof in Osnabrück, bringt zwei einleuchtende Argumente dafür, dass die jetzigen Maßnahmen richtig sind: Ohne Maßnahmen käme all das auch, nur in der Form von Chaos. Und die vermeintliche Alternative, nämlich die Risikogruppen zu isolieren und den Rest der Bevölkerung normal weiterleben zu lassen, sei undurchführbar: Das würde an die 30% der Bevölkerung betreffen. Seine Argumente sind eingebettet in eine Einschätzung der Lage. Eine hochinteressante Viertelstunde. Link zum Podcast liefere ich gerne mit (dort die #9 anklicken): https://audionow.de/podcast/der-achte-tag---deutschland-neu-denken
Noch andere Themen, über die ich gerne schreibend nachdenken würde, stapeln sich in meinen Notizen. Zum Beispiel leere Straßen: Erstmals habe ich vor ca. 30 Jahren darüber nachgedacht. Damals, als ich zu Zeiten, als die DDR zwar nicht untergegangen war, aber sehr bemüht an ihrem Ende arbeitete, verbrachte ich wieder einmal eine Woche bei einem befreundeten Soziologen am Prenzlauer Berg. Damals gab´s dort noch schräge Vögel, aber wenige Menschen auf den Straßen. In einem kleinen Museum konnte man alte Bilder vom Leben in diesem Grätzel sehen – in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts waren die Straßen voll Leben. Sehr viele Menschen aller Altersgruppen trieben sich dort herum. Wieso damals und nicht in den 1980er-Jahren? Ich fand bald eine Hypothese: Abgesehen vom in der DDR maroden Einzelhandel und Gewerbe war das wohl den damaligen Wohnverhältnissen geschuldet. Überfüllte Wohnungen (auch in Berlin gab es wie im Wien vor dem ersten Weltkrieg Wohnungsnot, Bettgeherwesen etc.). Im Quartier wohnte schlicht und einfach ein Mehrfaches an Menschen, als in den 1980er-Jahren. Und ob der beengten Wohnverhältnisse wurde die Straße als Lebensraum genutzt. Jetzt haben wir wieder leere Straßen. In Wien sind wegen der Ausgangsbeschränkungen weniger Personen unterwegs, und die Touristen, die das Zentrum beleben, sind auch weggefallen. Jene, die auch heute in beengten Wohnungen leben müssen, sind nun einer besonderen Belastung ausgesetzt. Sie können die Straße, die Parks, nur begrenzt als eigentliches Wohnzimmer benutzen, wenn sie das tun, laufen sie Gefahr, von der Polizei angesprochen zu werden. Die Kolleginnen und Kollegen von der offenen Jugendarbeit sehen das derzeit ganz genau – von ihren Erfahrungen vielleicht mehr an einem der nächsten Tage.
Ich hatte mich beklagt, dass mein erweitertes Wohnzimmer, die Gastwirtschaften, weggefallen ist. Der Unterschied: Ich habe Alternativen, die mir zwar auch zu wenig sind, sie haben nicht einmal diese. Eine meiner Alternativen ist jener Arbeitsplatz, an dem ich das geschrieben habe: Mein Platzerl im Wäldchen am Marchfeldkanal.
„Haltet die Schlappohren steif!“ hätte Dschi Dschei Wischer gesagt, und das sag ich jetzt.
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