Soziales Kapital?

Abseits von Polemik (Peter Pantucek)

Lieber Meinrad, liebe Manu (bist du noch dabei?),

ja klar, die Lust an der Polemik produziert Ungerechtigkeiten. Allerdings schätze ich auch meine „Wunschgegner“ und würde ohne sie nicht leben wollen, nicht nur weil ich Gegner brauch (für Polemik braucht man welche, die können aber nach dem polemischen Spiel auch gerne wieder gute Freunde sein), sondern auch, weil sie einen Beitrag zur Erkenntnis der Welt leisten. Wenn ich´s mir aussuchen könnt, würd ich nicht mehr ohne die Eigenschaftslosigkeit-als-Eigenschaft-These von Bardmann theoretisieren wollen, auch wenn ich sie vermeintlich niedergesäbelt hab.

Und auch meinen Hinweis auf die „real world“ da draußen halte ich zwar für banal, aber nicht für überflüssig. Zum einen ist es keineswegs ausgemacht, also allgemein akzeptiert, dass sich (zumindest vorläufig) gültige Aussagen über die „wirkliche“ Welt machen lassen. Der Relativismus ist keine unbedeutende Strömung. Noch einmal deutlicher in seinen Konsequenzen für die Soziale Arbeit wird das bei dem ja auch von dir beackerten Thema der Menschenrechte, wo (in diesem Fall: kultur-)relativistische Ansätze die Möglichkeit einer allgemeinen Gültigkeit der Menschenrechte leugnen. Wenn man für eine universelle Gültigkeit eintritt, kann man sich nicht auf Formales zurückziehen (z.B. den Beschluss durch die UNO-Vollversammlung), sondern muss das in eine Argumentation einbinden, die Aussagen darüber enthalten, was Mensch-Sein ausmacht. Aber da sind wir wohl ohnehin einer Meinung.

Jetzt aber zurück zu den „Ressourcen“. Ausgangspunkt unserer mehrseitigen Polemik waren ja meine Vorbehalte gegen die Verwendung des „Ressourcen“-Begriffs und deine Vorbehalte gegen die Verwendung des Begriffs „Soziales Kapital“.

Ich will versuchen, das ein bisserl aufzulösen, jetzt fast ganz unpolemisch.

Wir haben zwei Verwendungskontexte: einerseits den Kontext von Beratung, andererseits den Kontext des theoretischen Diskurses / der theoretischen Reflexion.

Kontext Beratung

Nehmen wir zuerst den Kontext Beratung. Also da würde ich weder den einen, noch den anderen Begriff verwenden wollen. Beide scheinen mir für die lebensweltliche Sprache von KlientInnen zu fremd, beide sind ExpertInnenjargon, damit verfremdend, entfremdet. Ich halte es zumindest im Kontext sozialarbeiterischer Beratung für ein Übel, wenn KlientInnen beginnen, über sich und/oder ihre Situation in ExpertInnen-Termini zu sprechen. Nicht nur, weil das dann seltsam fremd und aufgesetzt klingt. Auch deshalb, weil die Deutung dann schwer in das Alltagsverständnis integrierbar ist, nicht so leicht von den KlientInnen weiterentwickelt, integriert, zu ihrem eigenen gemacht werden kann. Die Begriffe behalten den Marker ihres Ursprungs, und das sind die ExpertInnen. Mit der Beziehung zu den ExpertInnen werden auch die Begriffe verworfen. Erfolgreiche Deutungsangebote knüpfen m.E. an den Alltagsverstand der KlientInnen an, sollten sich also auch sprachlich in diesem Repertoire bewegen.

Da gibt´s allerdings auch die eine oder andere Ausnahme. Darauf weist Michael Musalek hin, Leiter des Anton Proksch Instituts und eloquenter Kritiker der Pseudowissenschaftlichkeit psychiatrischer Diagnostik. Er weiß, wie entlastend für PatientInnen eine Diagnose wie „Schizophrenie“ sein kann. Sie ermöglicht den KlientInnen, nicht alles, was in ihrem Kopf passiert, sich selbst als ICH zuordnen zu müssen. Sie können einen Unterschied machen zwischen ICH und dem in guten Zeiten als fremd empfundenen „anderen“. Ohne das Wort müssten sie alles sich selbst, ihrem ICH, ihrer Persönlichkeit zurechnen, und gerade dieses Chaos belastet sie.

Die Einführung von ExpertInnen-Jargon kann also auch sinnvoll, hilfreich sein, kann zur Stärkung der Autonomie der KlientInnen beitragen. M.E. muss das aber sehr sparsam geschehen.

Was man sehr wohl verwenden kann, sind Umschreibungen, Operationalisierungen theoretischer Begrifflichkeiten.

Für „soziales Kapital“ sind das die Fragen, die man bei der Erstellung einer Netzwerkkarte verwendet:

  • zu wem haben Sie eine Beziehung?
  • wer sollte noch auf diese Netzwerkkarte?
  • wer spielt noch eine Rolle in Ihrem Leben?
  • wem erzählen Sie Dinge, die Ihnen wichtig sind?
  • fallen Ihnen noch Personen ein, mit denen Sie hin und wieder sprechen? 

An einem Katalog solcher Fragen arbeiten wir derzeit im Forschungsprojekt SODIA.

Wie du bemerken wirst, werden hier Fragen vermieden, die solche Beziehungen von vornherein als „gute“ oder „schlechte“ Beziehungen kategorisieren. Die Bewertung wird offen gelassen. Schon allein deswegen, weil Beziehungen immer beide Seiten haben (können): sie können eine Ressource sein, sie können aber auch belastend sein. Auf der praktischen Beratungsebene bringt die Operationalisierung des Begriffs „Soziales Kapital“ genau die Offenheit, die du einforderst.

Wenn man „Ressourcen“ genau so offen operationalisiert / übersetzt, dann habe ich keine Probleme damit. Für wenig hilfreich halte ich es, von vornherein Bewertungen einzuführen. Sowohl die voreilig negative, als auch die voreilig positive Bewertung trägt zu einer Verengung bei. Was Beziehungen betrifft: Manche nahe Beziehungen mögen spontan positiv bewertet werden. Bei näherer Betrachtung zeigen sich allerdings auch die autonomieeinschränkenden und riskanten Anteile dieser Beziehungen. Beratungstechnisch kann das ein Problem sein: Eine einmal gesetzte (positive) Bewertung lässt sich nicht so leicht relativieren. Als BeraterIn müsste man dann gegen die einmal vorgenommene Bewertung argumentieren, was den Klienten in eine Verteidigungsposition manövriert. Es liegt nahe, dass er dann seine einmal vorgenommene Bewertung verteidigt (sh. dazu die beratungstaktischen Hinweise z.B. aus dem Motivational Interviewing).

Hier liegen auch meine Bedenken zum Ressourcen-Begriff. „Ressource“ konnotiert etwas von vornherein als positiv. Damit wird eine Möglichkeit für einen Widerstand eröffnet, der schwierig zu handeln ist. Es hängt im Beratungskontext also alles von der Operationalisierung ab. Wenn die ergebnis- und bewertungs-offen erfolgt, dann sollte alles gut funktionieren. Der Unterschied zum operationalisierten „Sozialen Kapital“ liegt dann vor allem darin, dass „Ressourcen“ unspezifischer und breiter ist. „Soziales Kapital“ ist nur ein Teil der Lebens-Situation. Die Fähigkeiten / Fertigkeiten der KlientInnen, ihr Wissensvorrat, ihre Zeit, die Dinge ihres Lebens etc. kommen noch dazu. Die allgemeinste Frage, die in diese Richtung zielt, ist: „was kann Ihnen dabei helfen?“. Soziales Kapital ist also eine Ressource.

Theorie-Kontext

Und damit wären wir auch schon beim anderen Verwendungskontext, dem theoretischen. Da sollten sich die beiden Begriffe kaum im Weg stehen. Sie sind anderen Theoriewelten zuzuordnen, erfüllen dort jeweils ihre Funktion. Wenn man, wie ich, mit Theorien in Bezug auf die Soziale Arbeit und ihr Selbstverständnis eklektizistisch umgeht (also ein Stück „dirty“), dann ist es überhaupt kein Problem, beide Begriffe jeweils dort zu verwenden, wo sie aussagen, was gerade weiterhilft. Ressource wird dann jeweils für das Allgemeinere stehen, Soziales Kapital für das Besondere.

Ich nehme nun einmal die Wikipedia-Definition des Begriffs als Ausgangspunkt:

„Eine Ressource [r??s?rs?] (französisch la ressource [???su?s], „Mittel, Quelle“, von lateinisch resurgere, „hervorquellen“) ist ein Mittel, um eine Handlung zu tätigen oder einen Vorgang ablaufen zu lassen. Eine Ressource kann ein materielles oder immaterielles Gut sein. Meist werden darunter Betriebsmittel, Geldmittel, Boden, Rohstoffe, Energie oder Personen und (Arbeits-) Zeit verstanden, in der Psychologie auch Fähigkeiten, Charaktereigenschaften oder eine geistige Haltung, in der Soziologie auch Bildung, Gesundheit und Prestige. In Managementprozessen und in der Technik wird die Zuteilung von Ressourcen als Ressourcenallokation bezeichnet.“

Ressourcen sind, wie wir spätestens durch die Ökologiebewegung gelernt haben, begrenzt. Es benötigt Investitionen, um Ressourcen zu aktivieren (bereitzustellen). Das gilt auch für Soziales Kapital. Das hat man nicht ganz einfach, sondern es muss gepflegt werden. Nan Lin schreibt davon, dass man in Beziehungen investieren muss. Manche Ressourcen müssen „gepflegt“ werden, man kann Raubbau betreiben.

Und ja, bei Karl Marx erzeugt Kapital eine eigene Dynamik: es „drängt“ zur Verwertung und Vermehrung. Abgesehen davon, dass heute kaum noch jemand Marx gelesen hat: Es wäre interessant, sich anzuschauen, ob es bei Sozialem Kapital ähnliche Mechanismen gibt. Ich bin mir nicht sicher, und habe mich damit noch nicht beschäftigt.

Ähnliche Fragen stellen sich allerdings bei den Ressourcen. Auch dieser Begriff hat eine ökonomische Verwendungsgeschichte. Und auch bei ihm muss man sich anschauen, wie weit die Analogie trägt, und was sie nicht mehr aushält.

der dritte Kontext

Schließlich will ich doch noch einen dritten Verwendungskontext nennen, den fachlich-propagandistischen, und da halte ich die Rede vom „sozialen Kapital“ für besonders nützlich. Während in der (nicht-fachlichen) Öffentlichkeit der Sozialen Arbeit meist bloß ein moralischer Wert zugeschrieben wird, kann die Rede vom Sozialen Kapital deutlich machen, dass wir an der Bewahrung und Mehrung eines Vermögens arbeiten. In der Bourdieu´schen Variante wird´s noch einmal interessant, weil es hier um ein Vermögen der KlientInnen (also: der Armen, Benachteiligten) geht. So wird die Frage auf die Agenda gehoben, ob das Sozialwesen Menschen bei der Entwicklung eines eigenen (sozial eingebundenen) Lebens hilft, oder sie weiter isoliert. Und diese Frage ist mir immer schon sehr wichtig gewesen, wird mir weiterhin wichtig sein.

Die von mir besonders favorisierten diagnostischen Verfahren Netzwerkkarte und Inklusions-Chart bilden das sehr gut ab. So wenig, wie ich auf sie verzichten will, will ich auf eine Verwendung der Begriffe „Soziales Kapital“ (für die Einbindung in soziale Beziehungen) und „Inklusion“ (für die Teilhabe an den Leistungen gesellschaftlicher Funktionssysteme) verzichten.

Über Ressourcen kann man dabei immer noch reden. Bleibt allgemeiner, nicht ganz so präzise, und bringt analytisch weniger (um doch noch einen polemischen Halbsatz anzubringen).

Peter

 

PS.: Dein Beitrag “Netzwerk-Metaphern: Was geschieht in sozialen Netzwerken? Systemtheoretische Überlegungen zur Verschränkung von Kommunikation und Transfer,” in soziales_kapital Nr. 3 ist wirklich sehr interessant, lesenswert und verdienstvoll. Er wirft neue Fragen auf, aber das ist schon wieder eine andere Geschichte / Debatte.

Winge, Meinrad: “Netzwerk-Metaphern: Was geschieht in sozialen Netzwerken? Systemtheoretische Überlegungen zur Verschränkung von Kommunikation und Transfer,” soziales_kapital 3, http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/154/220.