Soziales Kapital?
Nachdenklicher Stil? (Meinrad Winge)
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- Erstellt am Mittwoch, 14. April 2010 10:06
Was unsere Debatte angeht, habe ich das Folgende nun geschrieben, bevor ich gesehen habe, dass du schon einen neuen Beitrag geliefert hast. Ich denke, die beiden Wortmeldungen, deine und meine, passen trotzdem recht gut zusammen - Überschneidungen können ja auch ganz interessant sein.
Die längere Pause tut mir durchaus gut, denn so reizvoll das rasche, polemische Hin und Her auch ist, es kostet viel Energie, und ich glaube, es geht mit längerer Dauer auch tatsächlich allerhand an Verständigungs- und Verstehensmöglichkeit dabei verloren. Ich wäre daher jetzt für einen Wechsel zu einem eher nachdenklichen Stil der Auseinandersetzung: Was die Ausgangsfrage der beiden umstrittenen Begriffe angeht, erschiene es mir etwa durchaus sinnvoll, noch ein wenig gemeinsam weiterzudenken, aber auf einer praktischeren Ebene der konkreten Beispiele (siehe weiter unten – ich kann’s eben nicht lassen).
Die Frage der Identität der Sozialarbeit, die ja nicht zufällig dabei aufgetaucht ist, halte ich natürlich für die eigentlich spannende und wichtige, da habe ich Anstöße aus unserer Debatte auch schon ein Stück weitergetrieben in der Sozialarbeitstheorie-LV, mit lebhafter Beteiligung des 6. Semesters BB (die sind ja vom 1. Semester an eine ganz außergewöhnlich interessierte und kompetente Gruppe). Anknüpfen konnte ich dabei vor allem an die Diskussion des Theorieteils von Maja Heiners Buch „Professionalität in der Sozialen Arbeit. Theoretische Konzepte, Modelle und empirische Perspektiven“ (2004) und eines Beitrags von Michael Winkler („Annäherungen and den neuen gesellschaftlichen Ort sozialer Arbeit“) in dem von Bütow/Chassé/Hirt herausgegebenen Buch „Soziale Arbeit nach dem Sozialpädagogischen Jahrhundert“ (2008), die ich der Gruppe als Lektüre aufgegeben habe. Da will ich auf jeden Fall dranbleiben, aber das wird wahrscheinlich ein bisschen was Größeres und braucht noch.
Vor ein paar Tagen hat Manu am Telefon von „Sozialem Kapital“ gesprochen (nicht ohne Schmunzler natürlich) – im Zusammenhang mit Ergebnissen der „Bedarfsanalyse“, nämlich mit der Heidenreichsteiner Tradition, dass arbeitende Eltern Kinder recht selbstverständlich zuhause verbleibenden Nachbarn anvertrauen können, selbst wenn sie diese kaum näher kennen. Für die Heidenreichsteiner sei es daher besonders unverständlich, dass nun Zuzügler Hilfe, die sie offensichtlich bräuchten, ablehnten in der Haltung „wenn ich was brauche, dann kauf ich es mir“. Gleich vorweg: Bitte versteht mich nicht falsch, mir geht’s jetzt nicht schon wieder um Polemik gegen „Soziales Kapital“. Abgesehen davon, dass ich kein Wortklauber bin bzw. sein will, kann ich diesen Begriff da natürlich gut akzeptieren, er ist verständlich und daher auch passend. Dennoch kann ich auch an diesem Beispiel einige konkrete Überlegungen zu unserer Debatte anschließen. Was der Begriff nämlich auch in diesem Fall macht, ist, dass er markiert, wer etwas hat und wer nicht, wem etwas fehlt. Wäre nicht theoretisch auch die umgekehrte Markierung denkmöglich? Also etwa: Die Zuzügler verfügen über ein Maß an Unabhängigkeit, über das die eingesessenen Heidenreichsteiner nicht verfügen? Gleich während unseres Telefonats habe ich an ein Aha-Erlebnis von mir vor gut 20 Jahren in Brasilien denken müssen, als ich, befreiungstheologisch-idealistisch vom Gemeinschaftsgeist der Favela-Bewohner begeistert, von einem der Favelados auf einen denkwürdigen Umstand gestoßen wurde: Dieser Geist der Verpflichtung zur wechselseitigen Hilfe, den die Slumbewohner im Dorf am Land verinnerlicht haben, sei genau das, wovor viele von ihnen fliehen – denn er bedeute eben auch Schuldigkeit, Kontrolle, Beschränkung. Die Sehnsucht nach Anonymität, genau nach dem „wenn ich was brauche, kauf ich es mir“ treibe – unter anderem! – die Menschen vom Land in die Städte.
Ich glaube, hier zeigt sich auch einfach der Unterschied in unseren Herangehensweisen: Sozialwissenschaftlich gesehen braucht es Kategorien der Beschreibung, der Zuordnung, auch der Festlegung. Vom Beraterischen her (diese Perspektive ist mir offensichtlich in Fleisch und Blut übergegangen) versuche ich beinah alles fast automatisch auch mal gegen den Strich des Alltagsblicks zu bürsten, natürlich immer auf der Suche nach Ansatzpunkten für Veränderung, also dafür, Menschen an Bord zu holen, ins Spiel zu bringen. Was ich auf jeden Fall für produktiv halte, ist die Markierung des Unterschieds zwischen den sozialen Haltungen der beiden Bevölkerungsgruppen. Die Bezeichnung für diese Differenz ist dann aber die zweite Frage: (Mir gehts da nicht um Begriffe im Gespräch mit KlientInnen, sondern für uns, in der Reflexion, in der Theoriebildung, im Selbstverständnis dessen, was wir tun.) Da scheint mir die Rede vom Sozialen Kapital weniger Spielraum für die Erfassung jeweiliger Kosten und Nutzen beider Haltungen zuzulassen als etwa die Rede von Ressourcen. Ich hoffe, dass an diesem Beispiel deutlich wird, dass das dennoch was anderes ist als „Positives Denken“ oder gar „Verzicht auf Wahrnehmung der Wirklichkeit“.