Soziales Kapital?

Deutung, Bodenschatz (Meinrad Winge)

Liebe Manu, lieber Peter,

unsere kurze Debatte über die Begriffe „Ressource“ und „soziales Kapital“ lässt mich grad nicht schlafen – also muss ich schreiben. Ich versuch es kurz zu halten. Im Grund glaube ich durch die Debatte die Bruchlinien noch deutlicher zu erkennen:

  1. Das Tolle an der (systemisch genutzten) Metapher Ressource (bleiben wir ruhig bei der Übersetzung als Bodenschatz) ist ja, dass sie kein Faktum, keine Gegebenheit ausspricht, sondern (auch wenn der Ausdruck Ressourcenblick schon nerven mag) eine Sichtweise, eine Deutung. Ist das eine Ressource, dass ich 1,95m bin? Also eine Chance, ein Potential? Oder, das wären die Gegenbegriffe, ein Handicap bzw. ein Defizit? Das ist nicht in erster Linie eine Frage des Kontextes (ja, wenn’s drum geht, was vom Kasten runterzuholen, dann vielleicht), sondern eine der Sichtweise: In ein und demselben Kontext (sagen wir: Maturaball, Kontakte knüpfen) kann es so oder so gesehen werden – für beide oder alle 3 Deutungen ließen sich schlüssige Belege nennen.
  2. Diese Deutungsfreiheit beinhaltet überhaupt keinen moralischen Fingerzeig in eine Richtung (die Ressourcen-Richtung), im Gegenteil: Mein Neffe etwa ist 2,04m (er ist es in Wahrheit, der auf den Maturaball geht) und es würde ihm keinesfalls gerecht, es wäre eine Verhöhnung, ihm das dauernd als Chance zu deuten… Es geht natürlich um die Offenheit möglicher Deutungen, ja, möglicher Unterschiedsbildungen, um die Deutbarkeit selber, um die prinzipielle Wahlmöglichkeit des Fokusses, um das Pendeln zwischen Deutungen, um Balance zwischen Problem- und Chance- und Lern-/Kompensationsnotwendigkeits-Sichtweisen. Gut ist die Deutung, die gerade brauchbar, nützlich ist, Spielräume, Freiheit erweitert. Das kann ausführlichste Problemwürdigung oder Defiziterforschung genauso sein wie der berüchtigte Ressourcenblick.
  3. Das gilt natürlich alles auch für Fragen wie: Ist es Chance oder Handicap, dass es schon 2 Familien gibt, die Monika Koch ehrenamtlich unterstützen wollen? Dass sie keine Heidenreichsteinerin ist? Dass Neuzuzügler-Familien außerhalb der engen Insider-Kontroll-Gesellschaft stehen? Dass ein Projekt kirchlich oder parteimäßig eingebunden ist oder gerade nicht? Geld kriegt oder gerade nicht? Es geht dann eben nicht um Bewertung von Faktoren auf der Soll- oder Haben-Seite, sondern um Beschreibung von Funktionen und Zusammenhängen; und dann um die Wahl von Deutungsperspektiven.
  4. Natürlich, wenn das alles zur Deutungsfrage erklärt wird, schwinden und entschwinden Kategorien wie Unterprivilegierte und Besitzende, Wohlausgestattete und Mangelleidende - zumindest werden sie weitgehend verflüssigt, dynamisiert: Macht ist dann eben keine Quasi-Substanz, von der die einen zuwenig haben müssen, was die anderen zu viel haben, sondern ein (durchaus konstruktives) Kommunikationsmedium, ein Code, für den es zweier „Mitspieler“ bedarf, wobei auch beide Seiten an Macht dazu gewinnen können usw.

Zum Begriff „Soziales Kapital“ – da gilt so ziemlich in allem das Gegenteil:

  1. Selbst wenn ich davon absehe, dass „Kapital“ hier offenbar gerade nicht meint, was es, na ja, suggeriert (eigentlich muss man sagen: bedeutet): dass es nämlich dabei um mehr geht als um Ausstattung, Eigentum (was den Menschen eigen ist), etwas, dem also eher die Menschen eigen sind (seiner Eigengesetzlichkeit, Dynamik, seinem Verwertungsinteresse), also abgesehen davon: Ihr habt mir ja 2 Gründe genannt, wieso ihr den Begriff für brauchbar haltet. Beide halte ich für verhängnisvoll.
  2. Der erste von euch genannte Grund: Weil man damit vergleichbar, messbar und zählbar machen kann, was sich dem sonst entzöge. Das geht halt nur um den Preis einer Verobjektivierung, einer „Ontologisierung“ von Unterschiedsbildungen zu Faktoren, festgeschriebenen Gegebenheiten, die dann, unauffällig positiv bewertet, auf die Haben-Seite verbucht werden.
  3. Genau diese Spannung zwischen einem objektivistischen und einem subjektivistischen Zugang hat Bourdieu ja naturgemäß umgetrieben (siehe seine Forderung nach Überwindung dieser Spannung in einem praxiologischen Zugang – allerdings kenne ich da nicht mehr als die Forderung danach). Klar: Das marxistische Paradigma mit dem allumfassenden Primat der Ökonomie war nicht mehr aufrechtzuerhalten, also musste man irgendwie weg von Konzepten objektiver Lebenslagen und dazugehörigem (meist „falschem“) Bewusstsein der Betroffenen (tja, die Ungleichzeitigkeiten) – aber wie? Phänomene des Bewusstseins (der Beziehungen, Kommunikationen, Lebensweisen und Kulturtechniken), des Überbaus, einfach der Sphäre der Basis, des Seins, anzugliedern, einzuverleiben (indem sie genauso Kapital genannt werden), erscheint auf den ersten Blick ja vielleicht bestechend: Menschen sind dann nicht bloß Produkte/Opfer Ihrer Umstände, sondern auch verantwortliche Gestalter ihrer Leben – beides halt ein bisserl. Sie sind ja nicht nur ökonomisch ausgestattet sondern auch kulturell, sozial etc., damit lässt sich schon was machen, nur begrenzt natürlich. Der Rahmen ist abgesteckt, die Spielkarten ausgeteilt. Ich halte das für einen unsauberen Kompromissversuch, der weder der Freiheit der Menschen noch der (harten) Realität der Verhältnisse gerecht wird.
  4. Der zweite von euch genannte Grund für den Begriff „soziales Kapital“: Er bringt die Machtfrage mit herein. Ja, da sind wir ja wieder bei den Unterprivilegierten und den Wohlausgestatteten, siehe oben. Bei einem sehr substanzialistischen Machtbegriff. Was daran wenig brauchbar ist? Dass er festschreibt und festlegt. Und dass er - wie gesagt, ich finde, moralisierend – Fragen des Gelingens/Scheiterns von Kommunikation zu Fragen von Ungleichverteilung von Gütern stilisiert. Ich kann damit natürlich etwa gut erklären, warum ein auffälliger Jugendlicher mit bestimmten unangepassten Verhaltens- und Umgangsformen (sichtlich sozial unterkapitalisiert) keinen Anschluss in seiner Kohorte finden kann. So wie Marx erklären konnte, warum Proletarier nicht angemessen am gesellschaftlichen Prozess partizipieren können. Dafür hatte er aber auch einen Lösungsvorschlag: Expropriation – das geht (und stimmt auch heute noch) auf der Ebene der materiellen Güter (ihr kennt ja meinen Aufsatz vom letzten Jahr: auf der Ebene der Transfers) – aber die Enteignung der BesitzerInnen passenden Kommunikationsverhaltens kann ich mir nicht als zielführend vorstellen (natürlich sehr wohl die Umverteilung von materiellen Bedingungen dafür, wie Handys, Internet, Freizeit etc. – grade daran mangelt es besagtem Jugendlichen aber überhaupt nicht!).
  5. Noch ein Einwand gegen den Begriff: Er unterstellt doch die Konvertibilität einer herrschenden Währung! Also herrschender Normen, die dem Kapital der einzelnen Menschen ihren Wert zuteilen – solche Normen gibt’s natürlich, aber veränderbar, sie beeinflussen sich, wie Kommunikationsprozesse immer, hoch komplex wechselseitig! (Beispiel: Krocha als Stör-Kultur, die dazu führt, dass sie in kürzester Zeit beim Elmayer landet).

Abschließend: Ich habe von Sina Farzin den im Internet verfügbaren Beitrag über Exklusion gelesen. Ich halte sie noch immer für eine Systemtheoretikerin, die allerdings die hermetischen Systemgrenzen etwas aufmachen will, sie will, wie sie am Ende andeutet (theoretisch sauber!!) die Verunreinigung der Grenze ermöglichen. Das ist ja (ums unbescheiden zu sagen) auch das, worauf ich mit der Unterscheidung von Kommunikation und Transfer raus wollte.

So, jetzt stellt sich wieder Bettschwere ein. Danke für die Aufmerksamkeit für meine psychophilosophischen Eigenhygienebemühungen. Vielleicht hab ich ja auch manches einfach noch nicht verstanden.

Liebe Grüße

Meinrad