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Ethik statt KlientInnenrechte?

Referat, gehalten bei einem Forum im Rahmen der Bundestagung des Österreichischen Berufsverbandes Diplomierter SozialarbeiterInnen am 18. Oktober 2000 in Graz.

Die Qualität der Sozialarbeit ist, wie wir alle — manchmal aufgrund schmerzlicher Erfahrungen — wissen, hochgradig von der Qualität der Trägerorganisationen abhängig. Wenn wir von KlientInnenrechten sprechen, sprechen wir daher sowohl von Rechten gegenüber den einzelnen professionellen Helferinnen und Helfern, als auch von Rechten gegenüber den Organisationen. Und wenn ich von Rechten spreche, dann meine ich damit nicht nur bereits kodifizierte, im Prinzip einklagbare Rechte. Ich beziehe mich also nicht nur auf einen juristischen Rechtsbegriff. Es geht mir um Rechte in einem weiteren Sinne, um Rechte, die NutzerInnen als Menschen zustehen, wie zum Beispiel das Recht auf menschliche Begegnung, darauf, nicht gedemütigt zu werden von Einrichtungen, die vorgeblich zu ihrer Unterstützung da sind. Ich spreche von einem Recht auf Respekt, auf Anerkennung.

Zuallererst will ich allerdings — und das wird Sie vielleicht überraschen — von Videorecordern sprechen. Einige respektlose Menschen haben die neuesten Videorecordermodelle genommen und den Topmanagern der Unterhaltungselektronik-Konzerne mit der Aufgabe überreicht, ihre eigenen Produkte zu programmieren. Die Aufgabe war einfach: Die Recorder sollten eine bestimmte Abendsendung aufnehmen. Es geht die Mär, dass alle Manager an dieser Aufgabe gescheitert sind. Die Geschichte ist vielleicht nicht wahr, aber sie könnte gut wahr sein, vor allem wenn wir unsere eigenen Erfahrungen mit solchen Geräten bedenken. In der Diskussion über die sogenannte Benutzerfreundlichkeit moderner Technologien spielt diese Story jedenfalls eine legendäre Rolle. Sie lenkt die Aufmerksamkeit weniger auf die Dummheit der Manager, als auf ein strukturelles Problem: Die Maschinen können enorm viel, aber die wahrscheinlich einzigen, die dazu imstande sind, sie anzuwenden, sind die Konstrukteure. Obwohl auch das nicht ganz sicher ist.

Um voraussagen zu können, was der Videorecorder tun wird, müsste ich ein Experte sein. Das Gerät will verstanden werden. Ich will als Nutzer aber auch verstanden werden. Schließlich soll das Gerät meine Bedürfnisse erfüllen, nicht ich die Bedürfnisse des Geräts.

Vielleicht lässt sich anhand des Videorecorders leichter verstehen, wie es zu hochproblematischen und manchmal sogar nutzerfeindlichen Abläufen in der Sozialen Arbeit kommt. So wie TechnikerInnen vorrangig ein Konstruktionsproblem zu bewältigen haben, müssen Organisationen vorrangig ihre eigenen Probleme lösen. Und sie entwickeln auf dieser Basis eine Konstruktion, die ihnen dabei hilft, NutzerInnen allerdings immer wieder zur Verzweiflung bringt.

Ein Beispiel: Die Einrichtung XY bietet Wohnplätze an. Die Nachfrage ist bedeutend größer als das Angebot, Personalknappheit erschwert ein zügiges Aufnahmeverfahren. Wie löst die Organisation ihr Problem? BewerberInnen müssen sich wochenlang immer wieder zu bestimmten Zeiten telefonisch melden, erst dann werden sie zu einem Bewerbungsgespräch geladen, dessen Ergebnis dann immer noch eine Abweisung sein kann. Das Problem der Organisation wurde externalisiert, an die NutzerInnen weitergereicht. Die müssen sich einem demütigenden Ritual unterwerfen, wochenlang ist ihre Fantasie mit Hoffnungen und Ängsten beschäftigt, von der "Prüfungsangst" vor dem entscheidenden Gespräch gar nicht zu reden. Und dann bekommen sie möglicherweise trotzdem nicht, was sie wollen und brauchen.

Manche Organisationen lassen KlientInnen weitreichende Verträge unterschreiben, die ganz offensichtlich unter Druck zustande kommen. Eine ganze Reihe solcher Verträge sind auch nach bestehendem Recht nicht statthaft, andere sind "nur" ethisch bedenklich. Sie enthalten weitgehende Vollmachten oder legitimieren im vorhinein spätere "Strafmaßnahmen" der Organisation gegen ihre KlientInnen, wenn die sich nicht genau an die unterzeichneten Vereinbarungen halten. Wohlbegründet ist die Nützlichkeit der Verträge durch die Ablauflogik der Organisationen. Mit in der Struktur ähnlichen Begründungen wurden früher in Spitälern Mütter von ihren neugeborenen Kindern getrennt, die Besuchszeiten in unglaublich engen Grenzen gehalten etc.

Wenn wir heute von KlientInnenrechten sprechen, geht es um mehrere Probleme:

  • Auf dem niedrigsten Level ist nicht abgesichert, dass bestehendes Recht eingehalten wird. Die NutzerInnen Sozialer Einrichtungen beschreiten selten den Rechtsweg. Daher fehlen auch notwendige Klärungen durch die Justiz, wie sie in einem Rechtsstaat selbstverständlich sein sollten.
  • Ergänzend dazu müssen wir aber auch feststellen, dass auf der Ebene symbolischer Interaktion zwischen Sozialeinrichtungen und NutzerInnen unnötige Formen der Demütigung gängige Praxis sind. In diese Kategorie fällt etwa das oben genannte Beispiel der Wohnplätze.
  • In zahlreichen Organisationen und Behörden ist noch keine Kultur des Umgangs mit NutzerInnen ausgebildet, die demokratischen Gepflogenheiten der Kommunikation mit (Mit-)BürgerInnen entspricht. Eine obrigkeitsstaatliche Tradition pflanzt sich fort: Keine Wahlmöglichkeiten für NutzerInnen; schlechte oder gar keine Information über mögliche Konsequenzen der Dienstleistungen und über den Umgang mit personenbezogenen Informationen und Daten; mangelnde Transparenz des Angebots; keine Möglichkeit der Einsichtnahme in fallbezogene Aufzeichnungen.
  • Es fehlen Mindeststandards für die Qualität des Angebots in wichtigen Bereichen.

Eine Professionsethik kann m.E. diese Probleme nicht lösen, kann aber einen Beitrag leisten. Sozialarbeit ist zwar die Leitprofession der Branche — oder sollte es zumindest sein, aber Soziale Arbeit ist doch mehr als nur die Tätigkeit der DiplomsozialarbeiterInnen. Ein Kodex wäre mithin ein wichtiges Zeichen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Berufsethische Kodices sind allerdings oft defensiv und reaktiv. Sie sind umso präziser, je mehr sie durch Außendruck dazu gezwungen werden. Der am genauesten ausgearbeitete Kodex sozialarbeiterischer Berufsethik zum Beispiel, der der amerikanischen National Association of Social Work, zeigt deutlich die Spuren einer erfreulich extensiven Judikatur zum KonsumentInnenschutz in den USA. Und es gibt noch einen gewichtigen Grund, weshalb Berufsethik für eine Verbesserung der Situation nicht hinreichend sein kann: Wie oben beschrieben liegen die entscheidenden Mechanismen für die Verletzung von KlientInnenrechten auf der Ebene der Organisationen, nicht auf der der einzelnen professionellen Akteure. Gerade die Organisationsebene wäre aber durch eine Berufsethik nur marginal betroffen.

Es müssen also andere Mechanismen gefunden und geschaffen werden, die NutzerInnen eine Stimme geben und ihnen bei der Durchsetzung ihrer Rechte als BürgerInnen und KonsumentInnen sozialer Dienstleistungen helfen:

  • Die Organisationen selbst könnten etwas tun. Unter Beiziehung externer ExpertInnen und von NutzervertreterInnen wäre ein Evaluations- bzw. Beobachtungssystem zu installieren, das Sozial-Organisationen regelmäßig mit Informationen aus der NutzerInnenperspektive konfrontiert.
  • NutzerInnenanwälte könnten in manchen Bereichen Rechtsverletzungen vorbeugen bzw. die Stellung der NutzerInnen stärken.
  • Vor allem aber wäre meines Erachtens eine Lobbyorganisation zu gründen, die — ähnlich wie es der Verein für Konsumentenschutz bei Konsumartikeln praktiziert — unabhängig Qualität und NutzerInnenfreundlichkeit überprüft, Standards formuliert und einfordert, unter Umständen auch exemplarisch den Rechtsweg beschreitet und jedenfalls Öffentlichkeitsarbeit leistet.

Die Angst mancher Organisationen vor einer Überprüfung ihrer eigenen Arbeit mag verständlich sein. Für SozialarbeiterInnen gibt es allerdings eine gute Nachricht: Die Stärkung der KlientInnenrechte ist methodisch absolut sinnvoll und nützt letztlich auch den professionell agierenden Kolleginnen und Kollegen.

 

Peter Pantucek lehrt an der Bundesakademie für Sozialarbeit St.Pölten und leitet den postgradualen Master-Lehrgang "Soziale Arbeit und Sozial-Management" an der Donau-Universität Krems. Mit Monika Vyslouzil hat er 1999 das Buch "Die moralische Profession" herausgegeben.