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Streetwork, Zeichen, Distanz.

Referat und Diavortrag, gehalten am 22. Seminar "Semiotik des Rechts", Wiener Juridicum, 30.3.2001.
Texte & Bilder

Ich wollte Ihnen etwas über Streetwork erzählen. Die Überlegung war, dass Streetworkerinnen und Streetworker auf einem in der sozialen Topographie weit vorgeschobenen Posten arbeiten. Dass sie im Auftrag „der Gesellschaft“ – genauer des politischen Systems, der Verwaltung, Kontakt halten zu Szenen, Gesellungen, Horden, Cliquen, die sich am Rande bewegen, die von den sonstigen eingemeindenden Instituten und Institutionen kaum erfasst werden können. Streetworker werden zu diesem Zweck mit Mitteln ausgestattet. Nicht nur mit ihrem Gehalt, das ihnen die aufgebrachte Zeit abgilt und sie ihrem Auftrag verpflichtet, sondern auch mit Räumlichkeiten vor Ort, mit Geld für die Einrichtung dieser Räume und mit Geld für allerlei Aktivitäten. Ihre Trägerorganisation und ihr Auftrag verleihen ihnen auch noch soziales Kapital. Als Streetworker können sie mit LokalpolitikerInnen Kontakt aufnehmen, erhalten Zugang zu verschiedenen Entscheiderinnen und Entscheidern der unteren, der lokalen Ebene.

So ausgestattet versuchen sie, sich den Objekten ihrer Aufmerksamkeit zu nähern. Zumeist sind es Jugendliche, die im öffentlichen Raum des Stadtteils sichtbar wurden. Meist unangenehm sichtbar wurden, sodass die Frau Bezirksrat oder der Herr Sektionsobmann zu meinen begann, „man müsse etwas tun“. Und weil so klar nicht ist, was man da tun könne – das Desinteresse der Polizei ist angesichts der drohenden Sysyphosarbeit offensichtlich – muss mobile Jugendarbeit einspringen.

Nun gut. Meine Überlegung ging dahin, dass es doch interessant sein müsse, wie sich die Streetworker dem fremden Volk annähern. Einem Volk, das sehr auf Zeichen bedacht ist, von außen betrachtet. Nehmen wir die Skater der Handelskai-Gemeindebauten. In einer hoch aufragenden Wohnsiedlung mit hintereinanderliegenden, inzwischen recht verwachsenen, Höfen sind sie an ihrer Kleidung erkennbar. Weite Hosen, Turnschuhe, Kapuzen-T-shirts. Zumindest im Frühling und Sommer rollend und klappernd mit dem Skateboard. Erlaubte und nicht erlaubte Marken werden klar unterschieden. In Bratislava gekaufte Billigkopien gehen nicht durch. Geld haben sie keines, das wenige, das sie bekommen, geht in den Prestigekonsum, könnte man sagen: In „gute“ Kleidung und gute Boards.

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Aber es gibt auch andere Gruppen, mit denen Kontakt aufgenommen werden soll. Da sind zum Beispiel die Jugendlichen, die eine nahe für Hundegeschäfte abgezäunte Parkfläche zur ausländerfreien Zone erklärt haben. Die „Hundeklopartie“ nennen sie die Streetworker. Die Selbstinszenierung dieser Jugendlichen ist etwas anders: 

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Wie man sieht, haben wir es hier mit richtigen Männern zu tun.

Eines ist sicher: So, wie die Person auf dem Transparent, das im Lokal der Streetworker hängt, sehen die Jugendlichen sicher nicht aus:

 

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... und auch nicht so, wie dieser Kollege:

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…die Jeans mögen zumindest bei der Hundeklopartie ja noch durchgehen, der Pulli wohl nicht mehr und die langen Haare, zu einem Rossschwanz gebündelt, eigentlich nirgendwo.

 

Allerdings: am Markt im Grätzel herrschen noch ganz andere Werte:

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Man sieht, es gibt hier nicht nur Jugendliche, sondern ein gut durchmischtes Publikum. Alteingesessene Wienerinnen und Wiener, sogenannte Neoösterreicher, sogenannte Ausländer. Letztere natürlich nicht im Hundeklo.
Nun denn, wie machen das die Streetworker. Mit ihrer Kleidung, meinen sie, biedern sie sich an die Jugendlichen nicht an. Sie kleiden sich jung, aber nicht szenekonform. Das wäre auch schwierig, haben sie es doch mit verschiedenen Szenen zu tun. Sie stehen vor der Aufgabe, sowohl Nähe, als auch Distanz zu signalisieren. Dieses Spiel mit Nähe und Distanz bestimmt keineswegs nur die Kleidung.

Die „Streetfuzzis“, wie sie von einigen Jugendlichen genannt werden, verwenden die „richtige“ Distanz ganz wörtlich, nämlich räumlich verstanden, bereits bei der ersten Annäherung an eine neue Szene zeichenhaft. Man bewegt sich an den Ort, wo sich die Jugendlichen treffen, und ist ganz einfach präsent. Setzt sich auf eine Bank oder ist ganz einfach da, aber mit einem gewissen Abstand. Nicht aufdringlich wirken in dieser ersten Phase, daher werden die Jugendlichen nicht direkt angesprochen. Man sorgt dafür, dass man Bestandteil der Umwelt wird. Und wird irgendwann angesprochen. Dann sagt man sein Sprücherl: Wird sind Streetworker, wir sind interessiert an euch, ev. können wir euch auch da oder dort helfen, das und das haben wir anzubieten: Unseren Stützpunkt, den ihr nutzen könnt, ev. Hilfe und Beratung. Das Nähe-Distanz-Spiel kann nun auch von den Jugendlichen gespielt werden.

Eine Ausnahme: Streetwork bei Strichern oder Drogenabhängigen. Geht es einem Jugendlichen sichtlich schlecht, wird er aktiv angesprochen, ob er Hilfe braucht. Die Vorstellung in der eigenen Funktion wird aber nie ausgelassen.

Was wird durch diese Distanz bezeichnet? Der richtige Abstand steht für Interesse und Respekt gleichzeitig. Interesse für die Szene, für die Individuen. Respekt vor deren Selbstorganisation. Interesse und Respekt sind die beiden Voraussetzungen für das, was die klassische Sozialarbeitslehre das „helping relationship“ nennt, eine sorgfältig designte Beziehung, die es den KlientInnen ermöglichen soll, Unterstützung anzunehmen und für die eigene Entwicklung zu nutzen.

Ist man in der Szene bereits bekannt, muss die Distanz nicht mehr durch den Respektabstand markiert werden. Man wird begrüßt, nun markieren die Jugendlichen durch ihren Kommunikationsstil selbst die soziale Nähe und Distanz. Die „Streeties“ werden begrüßt, aber auch geneckt. Der „Schmäh“ spielt mit den Rollen, mit dem Problem des draußen und drinnen. Die Streetworker sind „drinnen“, indem sie zur Landschaft der Szene gehören. Mehr als sonst irgendwer außerhalb der Gruppe der Jugendlichen. Gleichzeitig sind sie „draußen“, indem sie die Werte der Jugendlichen nicht teilen, sich den Szeneregeln nicht unterwerfen, ihre Anwesenheit eine bezahlte ist und sie in ihrer Freizeit nicht mit der Szene verbunden sind. Sie sind Agenten der Gesellschaft, des Staates. Sonderbarerweise wird diese gleichsam offizielle, institutionelle Seite ihrer Position kaum jemals explizit angesprochen.

Das muss man korrigieren. Die Jugendlichen stellen Forderungen an die „Streetfuzzis“. Organisiert uns das oder jenes, sorgt für uns. Eine mehrfache Botschaft. Der Versuch der Vereinnahmung, Instrumentalisierung testet aus, wie weit die Macht der Streetworker geht, wie groß ihr Einfluss ist. Gleichzeitig wird versucht, damit ihre Beziehung zu den Jugendlichen zu klären: Unterwerfen sie sich? Sind sie an den Wünschen der Jugendlichen desinteressiert? Eine heikle Phase der Arbeit, entscheidend für den Aufbau dessen, was man eine dialogische Beziheung nennen könnte. Zuhören, aber eine Zurückweisung der Beziehungsdefinition „wir Jugendlichen sind die die bestimmen und ihr seid die die springen“. Gelingt den Streetworkern nicht, nun auf der Ebene der Aushandlung neuerlich die Zeichen von Nähe und Distanz eindeutig zu setzen, kann für längere Zeit die Arbeit sehr schwierig bis unmöglich werden. War am Anfang wichtig, den Respekt vor der Autonomie der Jugendlichen zu zeigen, ist nun umgekehrt die Attacke der Jugendlichen auf die Autonomie der Streetworker abzuwehren.

Natürlich kann der Vorstoß der Jugendlichen auch tiefenpsychologisch gedeutet werden als regressive, orale Haltung des bloß konsumieren wollens, sich versorgen lassen, dann werden sie natürlich unersättlich sein, stets unzufrieden mit dem Gebotenen. Die Geber, die sich auch abhängig machen durch ihr Geben, in den Strudel einer verzehrenden symbiotischen Beziehung saugend.

Weil zu viel Nähe Autonomie zerstört, sind Zeichen der Distanzierung seitens der Jugendlichen auch dann zu erwarten, wenn die Streetworker glauben, nun laufe die Beziehung sehr gut. Die Kolleginnen und Kollegen berichten von Phasen, in denen sie von den Jugendlichen attackiert werden. Selten körperlich (obwohl manchmal auch das vorkommt), häufiger verbal. Ein neuer Stützpunkt wird eröffnet, der den Jugendlichen beachtliche Nutzungsmöglichkeiten bietet. Eine der Gruppen reagiert mit aggressiven Abwertungen gegenüber den Streetworkern, die versuchen, dort einige Regeln durchzusetzen (zum Beispiel, dass man nicht mit Schürhaken auf andere losgeht und dass Seife nicht auf der Wand verteilt werden soll). Das Angebot droht die derzeit führungslose Gruppe in Abhängigkeit zu bringen, selbst kann sie sich keine Regeln setzen mangels Struktur. Die Rolle der Streetworker wird zu wichtig. Die „Streetfuzzis“ reagieren mit Versuchen, die Selbstorganisation der Gruppe anzuregen. Ein schwieriges und widersprüchliches Unterfangen, vielleicht wäre es ganz interessant hier zu diskutieren, wie das denn geschehen könnte, vor allem unter dem Aspekt, dass – zumindest auf den ersten Blick – jedes gesetzte Zeichen in diese Richtung gleichzeitig die eigene (zu wichtige) Position zu bestätigen scheint (also eine Beziehungsdefinition der Form: „wir sind die, die euch sagen können, was für euch gut ist“ zu enthalten scheint).

Noch ein Wort zu den Regeln der Gruppen. Die maskulin orientierten Gruppen (oder Horden, manche Szenen erfüllen mangels innerer Struktur nicht wirklich die Kriterien einer artikulationsfähigen Gruppe) konstituieren ein System von Kommunikation, in dem das Zeigen von Schwäche streng verboten ist. Trotzdem befinden sich Individuen immer wieder in Situationen subjektiver Schwäche, Verzweiflung etc. Wie können sie das in diesem Zeichenraum ausdrücken? Das am häufigsten gewählte Mittel ist, laut zu sein (zu schreien) und körperlich stark zu agieren. Im Schreien erkennen wir einen sehr basalen, wenn auch kulturell weitgehend geächteten Modus des Ausdrucks von Leid. Dementsprechen wird auch der Inhalt des Geschreis dem in der Szene verfügbaren Zeichen- und Bedeutungssystem angeglichen: Äußerungen aggressiven Inhalts, ironische oder andere „häkelnde“ Statements, denen der Humor und die Ironie abhanden gekommen sind. Verletzungen und Selbstverletzungen.

Die Antwort der Streetworker: Aufnahme individueller Kommunikation und explizite Interpretation der Äußerungen als Ausdruck von Leid. „Es geht dir schlecht, was ist los?“. Rückzug in das Beratungszimmer oder in eine Beratungssituation im Freien (schwieriger), Verteidigung dieser Gesprächssituation gegen Störversuche der Gruppe. Dort kann dann über das aktuelle Problem gesprochen werden, meist familiäre Konflikte.

Soweit einige Anmerkungen zum Umgang mit Zeichen der Zugehörigkeit, der Distanz, der Position, des Leids. Hauptleistungen der Streetworker sind die Gestaltung der Beziehung zur Gruppe, also die sorgfältige Inszenierung von Nähe und Distanz durch eigene Kleidung, eigene Körperinszenierung, eigene verbale Interventionen. Andererseits und immer prekär: die Hermeneutik der von den Jugendlichen gelieferten Zeichen. Wie interpretiere ich, was sie durch ihre verbalen und Körperinszenierungen ausdrücken. Mit der Interpretation entscheidet sich, wie angemessen agiert und reagiert werden kann. Das Zeichensystem, das die Jugendlichen verwenden, ist aus der Sicht der Streetworker fremd, viele ihnen zugängliche Varianten sind den Jugendlichen teils aufgrund der Szenekultur nicht zugänglich, stehen ihnen andererseits auch individuell nicht zur Verfügung. Trotzdem drücken sie basale Bedürfnisse aus, für die Streetworker allerdings in verschlüsselter Form. Ihre Professionalität zeigt sich unter anderem in der Fähigkeit der Entschlüsselung, des Fremdverstehens, des Verstehens von Zeichen in ihrer Vielschichtigkeit.

Zum Abschluss noch einige Bilder, die eine Ahnung von der Fremdheit, die im Grätzel herrscht, geben sollen. Vom Widerspruch zwischen einer modernen Coolheit und der Sehnsucht nach der Harmonie. 

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Dieses Bild ist auf der Rückseite von Standeln des Stuwermarktes gemalt. Ein Dorf, ein Esel, ein Hinweisschild zum Marktplatz. Ein Liebespaar. Eine Katze. Heu. Idylle. Interessant, wer sich so in die ländliche, leicht exotische Gegend sehnt:

Interessant, wer sich so in die ländliche, leicht exotische Gegend sehnt: 

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An anderem Ort findet sich neben Metalltüren unbestimmten Zwecks folgendes Graffity: 

 

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... und das ist der Markt. 

 

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... und einer, der hier wohnt.

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Ein Bild der gespannten Ruhe:

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Gemeindebaubalkone mit Blick auf den Markt.

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Wärme ist hier gefragt.

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Dieser Pfeil zeigt auf einen Terminal, in dem sich die Wiener Stadtverwaltung präsentiert. Ein Touchscreen.

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Ein wenig schäbig, wie diese Gegend. Mit Spuren übersät. Dazwischen: Jugendliche und ihre Streetworker.