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Under Pressure oder: Von der gefährlichen Illusion, Menschen zur Lebenstüchtigkeit zwingen zu können.

Beitrag für "Erziehung heute" 4/2001.

In ihrer Selbstbeschreibung als helfende Profession liebt Sozialarbeit, wie HelferInnen generell, dass ihre Hilfe gewünscht ist. Noble HelferInnen verzichten gerne auf den Dank, erwächst schließlich aus dem Akt des Helfens selbst eine Belohnung: Ich erhebe mich über meine Schützlinge, indem ich die Rolle dessen, der Hilfe zu geben imstande ist, einnehmen darf. Dann auch noch auf Dank zu verzichten, setzt der Großzügigkeit des Helfenden, seiner Noblesse, die Krone auf.

Vielleicht könnte man den (hierzulande eher peinlich wirkenden) überschwänglichen Dank, den SüdeuropäerInnen mitunter abstatten, als Versuch verstehen, das Schuldkonto auszugleichen: Der Helfer gibt Hilfe, der Klient gibt Dank. Man geht quitt auseinander. Eine ähnliche Funktion könnte der Beziehungsabbruch durch die KlientInnen im Konflikt erfüllen: Die Arbeit der HelferInnen wird angezweifelt und abgewertet, also kann man ohne Verpflichtung und ohne Demütigung aus der helfenden Beziehung wieder aussteigen. Die moderne Form, ein solches Gefälle auszugleichen, nämlich die Bezahlung der in Anspruch genommenen Leistung, ist in der Sozialarbeit bekanntlich ein seltenes Phänomen.


1. Freiwilligkeit

Der Kult der Freiwilligkeit hat in den 70er- und 80er-Jahren das ältere, aus heutiger Sicht naive und patriarchale Klischee des braven und willigen Armen, der der Hilfe würdig sein muss, abgelöst. Freiwilligkeitskult überhöht das Bild des selbstbestimmten Individuums. Und er tut der HelferInnenseele gut: Die HelferInnen zieren sich. Man muss uns schon wirklich wollen, damit wir etwas tun. Freiwilligkeitskult camoufliert Ausschließung und hohe Schwellen. Er kann ausgestaltet werden durch Prüfungen, die die KlientInnen zu durchlaufen haben, bis ihnen tatsächlich Unterstützung zuteil wird. Freiwilligkeitskult bevorzugt die „Profis“ im Umgang mit dem Sozialsystem – und er lässt jene außen vor, die ängstlich oder zu stolz sind, um Hilfe anzusuchen.

Dem steht seit einiger Zeit eine andere Mystifizierung gegenüber, nämlich jene des „Zwangskontexts“. Dabei ist zu beobachten, dass unmerklich die Frage, wie unter außengesetzten Bedingungen des Zwangs Hilfe stattfinden könnte, aus dem Zentrum des Interesses rückt. In der Sozialarbeit selbst scheint eine schleichende Renaissance von Modellen autoritärer Fürsorge stattzufinden und soziale Institutionen konstruieren wieder ungeniert Kontexte des Zwangs.

Ich will in der Folge versuchen, die Schlagwörter von Freiwilligkeit und Zwang zu entmystifizieren. Sie interessieren mich nicht als Bekenntnisformeln, sondern in ihrer (Un-)Brauchbarkeit, Ungenauigkeit und Widersprüchlichkeit. Es wird dabei unumgänglich sein, auf die Gesellschaft als Kontext der Sozialen Arbeit einzugehen, was durch einige methodische Überlegungen und Hinweise ergänzt wird.

Doch zuerst sei eine Kritik des Terminus der „Freiwilligkeit“ vorangestellt. Mit dem Aufmerksamkeitsfokus auf die Freiwilligkeit des Kontakts der KlientInnen zu den Fachkräften wird der Zeitpunkt und die Art der Kontaktherstellung in den Blick genommen. Tatsächlich konstruieren Anlass, Rahmenbedingungen und Bereitschaftsniveau der potenziellen KlientInnen verschiedene Typen von Eröffnungssituationen, denen auch verschiedene Eröffnungsvarianten durch die SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen mehr oder weniger gut entsprechen. Betrachten wir es einmal als Spiel, als erstes Vorgeplänkel, das aber für den weiteren – günstigen oder ungünstigen – Verlauf des Prozesses bedeutend ist (Pantucek 1998:122ff.). „Unfreiwilligkeit“ ist dann die Tatsache, dass den KlientInnen der Kontakt zu den Fachkräften von dritter Seite vorgeschrieben wird – unter Androhung von Sanktionen, wenn dieser Kontakt nicht stattfinden sollte.

Mir scheinen dabei zwei – wenig beachtete – Aspekte wichtig zu sein:
1) auch bei „freiwilligen“ KlientInnen ist es i.d.R. eine Zwangslage, die sie zu einem Kontakt mit Sozialer Arbeit veranlasst. Ohne diese Zwangslage gäbe es für Menschen keinen guten Grund, sich Rat und/oder Unterstützung zu holen. Der einzige Unterschied zu „unfreiwilliger“ Kontaktaufnahme ist der, dass sie durch Zufall, aufgrund von Erfahrungen oder wegen mehr oder weniger freundlichen Hinweisen aus ihrem lebensweltlichen Umfeld „von selbst“ auf die Idee kommen, professionelle HelferInnen aufzusuchen. Sie rechnen sich diese Kontaktaufnahme selbst als Entscheidung zu.
2) die Fremdbestimmtheit der Kontaktaufnahme trifft nicht nur die KlientInnen, sondern auch die Fachkräfte. Pflichtklientschaft konstituiert einen Horizont von Verpflichtungen für die SozialarbeiterInnen (z.B. Meldepflichten, Berichtspflichten, Pflichten für Kontaktangebote etc.)

Daraus folgen Konsequenzen:
aus 1) Es ist unangebracht, so zu tun, als wäre die freiwillige Kontaktaufnahme gleichbedeutend mit Veränderungswillen. Die Kooperation der KlientInnen im Prozess ist etwas, um das während der ganzen Dauer des Prozesses geworben werden muss, und zwar unabhängig vom Modus der Kontaktaufnahme.
aus 2) Die Tatsache, dass beide, SozialarbeiterIn und KlientIn, diesen Kontakt halten müssen, schafft eine Gleichheit, die „freiwillig“ zustandegekommenen Beziehungen abgeht – dort muss nämlich nur die Sozialarbeiterin ihren Part erfüllen – sie ist den Verpflichtungen ihrer Berufstätigkeit unterworfen. Diese Gleichheit schafft also, wird sie erkannt und genützt, auf paradoxe und vielleicht unerwartete Art und Weise eine Basis für produktive Hilfsprozesse.

Der Mythos der Freiwilligkeit beruht auf der Fiktion der „mündigen Konsumentin“, also des frei nach seinen Bedürfnissen auf Basis eines durchschaubaren Angebots wählenden selbstständigen Individuums. Solche Menschen vorausgesetzt, wäre er eine schöne demokratische Vision. Tatsächlich fehlen aber dafür einige Voraussetzungen. Gerade wenn die Bedürfnisse unklar sind, kann Sozialarbeit der Weg zur Klärung sein. Das Angebot ist keineswegs leicht durchschaubar und es fehlen wesentliche Informationen über Möglichkeiten und Grenzen sozialer Unterstützung. Und gerade in Lebenslagen zerbrechenden Alltags (die zentrale Indikation für den Einsatz von Sozialarbeit) ist die Handlungsfähigkeit von Individuen und damit auch ihre Fähigkeit zu selbstbewussten Entscheidungen radikal eingeschränkt.


2. Zwang

Interessanter als der Freiwilligkeitsmythos und letztlich differenzierter zu sehen ist die Rolle von Zwang, Druck und Freiheitseinschränkungen in der Sozialen Arbeit.

Ausüben von Druck ist ein weit verbreiteter Modus der Überredungskunst des Alltags. Zwang und die Ausnutzung von Machtverhältnissen sind also nicht etwas, was dem Staat vorbehalten ist, obwohl sich der Staat auch systematisch des Zwangs bedient (und sich im Rahmen seiner Ordnungs- und Zivilisierungsfunktion des Zwangs bedienen muss). Die Soziale Arbeit übernahm in ihrer Geschichte immer wieder einen Part in von Zwangsmaßnahmen begleiteten Umerziehungsmaßnahmen, zum Beispiel bei der Hygieneerziehung im Rahmen von Kampagnen zur Hebung der Volksgesundheit. Ihr oblag in aller Regel der sanftere Teil der Kontrolle und der Überredung, im Hintergrund stand jedoch nicht selten die Drohung mit Zwangsmaßnahmen im engeren Sinne. Dass sich die „Fürsorge“ dabei naturgemäß vor allem mit den unteren Klassen beschäftigte, brachte ihr den Vorwurf eines Unterdrückungsinstruments im Klassenstaat ein. Tatsächlich wiesen sowohl die Praxis des Jugendamts (vgl. dazu Wolfgruber) als auch das System der Fürsorgeräte klare Züge eines autoritären Überwachungssystems auf. Der Ruf der Fürsorgerinnen war dementsprechend eher der einer Schrecken verursachenden Person als der einer einfühlsamen Helferin.

Erst das Casework brachte mehr eigenständige Professionalität, mehr KlientInnenorientierung und eine Abkehr von strenger Kontrolle und Zwang. Im Feld der Sozialpädagogik waren es erst die Heimreformen ab den 70er-Jahren, die das rigide Regime aufweichen konnten. Wenn wir von Zwang sprechen, so bewegen wir uns also nicht in einem Feld, das der Sozialen Arbeit völlig fremd wäre.

Die Wende zu weniger direkten Formen der Kontrolle und des Zwangs war dabei nicht nur einem moderneren und demokratischeren Menschenbild zu verdanken, sondern auch Nützlichkeitsüberlegungen. Bei den immer höheren Anforderungen an die Selbststeuerungsfähigkeit von Menschen, die sie benötigen, um sich in den offenen Gesellschaften des ausgehenden 20. Jahrhunderts zurechtfinden und behaupten zu können, waren die alten Formen autoritärer Dressur sowohl in der Erziehung als auch in der Sozialen Arbeit zunehmend kontraproduktiv (und zu teuer) geworden. Zwischen Aufwand und Ergebnis klaffte eine immer größere Lücke. Gelindere Modi der Beeinflussung, vor allem in Form der Beratung, mussten entwickelt werden und nahmen tatsächlich einen immer größeren Raum ein, ersetzten Kontrolle und Belehrung.

Nun ändert sich dadurch nicht unbedingt die Funktion der Sozialen Arbeit, sehr wohl aber ihr Selbstverständnis und ihre Methoden. Die Steuerung des Diskurses wurde auch in ihrem Feld zur Hauptform der Beeinflussung. Gleichzeitig bleiben ihr weitere Machtmittel (oder wachsen ihr neu zu): Vor allem ist dies die Verfügung über Ressourcen, die von ihrem Klientel benötigt werden. Sozialarbeit hat dabei zunehmend auch Einfluss darauf, was in welcher Form grundsätzlich angeboten wird. Nicht neu ist ihre (Mit-) Entscheidungsmöglichkeit, wer diese Ressourcen dann nutzen darf und wer nicht. Entgegen einem immer noch verbreiteten Bild der einflusslosen „Unschuld“ Sozialer Arbeit wächst die Zahl der SozialarbeiterInnen in Führungspositionen der Branche, damit auch die Mitsprache und Mitverantwortung der Profession.Mit Macht gepaart, steht Sozialarbeit nicht mehr unschuldig für „das Gute“, sondern muss eigene strategische Entscheidungen der Kritik aussetzen.

Dies gilt gerade in einer Zeit, in der viele Einrichtungen der sozialen Wohlfahrt versuchen, Ihre Organisation im ursprünglichen Wortsinn zu rationalisieren, sie mit Vernunft zu durchdringen. Programme der Vernünftigung und der Standardisierung sollen Planbarkeit und Effektivität des Mitteleinsatzes ebenso steigern, wie die „Verkaufbarkeit“ der Leistungen. Der Referenzmarkt ist der einer entideologisierten Politik, die ihrerseits immer stärker von kurzfristiger Wählerstimmenmaximierung bestimmt zu sein scheint (vgl. Benvenuto 2001:112).

Tendenziell begünstigt diese Konstellation Organisationsformen und Programme, die nicht mehr thematisch relativ offen und lebensweltorientiert sind, sondern die auf die Lösung oder vielmehr die Prozessierung „sozialer Probleme“ ausgerichtet sind. Was als soziale Probleme gilt und welche davon sozialen Einrichtungen und nicht der staatlichen Ordnungsmacht zugewiesen werden, darf immer mehr ein ressentimentgeladener medialer Diskurs bestimmen, dem die Politik kaum mehr mittel- und längerfristige Überlegungen entgegensetzt. Soziale Einrichtungen konkurrieren hier direkt mit der Polizei und anderen Organen der sogenannten öffentlichen Sicherheit um Mittel. Man bedenke in diesem Zusammenhang z.B. die Versuche der Polizei, die Drogenprävention in den Schulen zu übernehmen. Andererseits könnte etwa der vergangene Euroteam-Skandal Vorbote für künftige dilettantische und kurzfristige Großprojekte sein, wo aus politischer Opportunität beachtliche Gelder eingesetzt werden, die für die Lösung schwererwiegender Problemlagen mit weniger aktuellem Aufmerksamkeitswert fehlen.

Die Soziale Arbeit ist für politisch opportune Kampagnen durchaus anfällig, wenn sie nur hinreichend moralisierend unterfüttert werden oder wenn sie oberflächlich an liebgewordene Vorstellungen der Profession anknüpfen. Nicht selten werden Angebote, Macht bzw. Zwang auszuüben, gerne angenommen. Der mediale Fokus auf den sexuellen Missbrauch etwa führte dazu, dass andere Formen von Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern kaum mehr gebührende Beachtung finden. Und an sich begrüßenswerte Entwicklungen wie die Einführung der schriftlichen Vertragsform bei Betreuungsverhältnissen wird in der Praxis allzuhäufig zu einem Diktat ausgestaltet. Die Vertragsform bringt zwar eine Verrechtlichung und die Verschleierung eines Abhängigkeitsverhältnisses, nicht jedoch ein Weniger an Zwang.

Auch eine sich an sogenannten Risikofaktoren orientierende vorbeugende Medizin bietet nunmehr eine Fülle von Möglichkeiten, Menschen für Ihr Tun und ihr Leid verantwortlich zu machen. Es ist zu befürchten, dass der Versuch einer Indienstnahme der Sozialen Arbeit hierzulande bevorsteht. Feministische Autorinnen beklagen in den USA bereits eine von Medizinern dominierte moralisierende und schuldzuweisende Sicht der Dinge in der Kinderschutzarbeit. Die „Welfare Mothers“, also von der Wohlfahrt abhängigen Mütter, werden für die geringen Lebenschancen ihrer Kinder persönlich verantwortlich gemacht. Sie rauchen und trinken auch während der Schwangerschaft, stellen ihren Drogenkonsum nicht ein. Strafrechtliche Konsequenzen werden ebenso angedroht wie der Entzug von Unterstützung. Die Repression erscheint als notwendige Konsequenz des Kinderschutzes, als dessen wichtigste Exponenten sich die Ärzte gerieren, als die wahren Vertreter der Interessen des Kindes – gegen seine Eltern (vgl. Balsamo 1996). Die SozialarbeiterInnen des Kinderschutzprogramms haben rigide Meldepflichten und kontrollieren die Mütter nach einem normierten Erhebungsprogramm. Schneider (1998) beschreibt Tendenzen zu einer ähnlichen Ausrichtung am medizinischen Modell in der Drogenhilfe.

So weit ist man hierzulande noch nicht, im Bereich der Jugendwohlfahrt dominiert noch eher das Wegsehen. Eine systematische Erfassung von Risikogruppen, normiertes Hinsehen und normiertes Zwangsarsenal wurden zum Glück noch nicht installiert.


3. Macht und Zwang, Druck und Methode

Wenn Soziale Arbeit nun nicht zur bloßen „Polizei“ einer normativ gegen die Individuen gewendeten Sozial- und Vorsorgemedizin werden soll, wie kann sie dann ihr eigenes methodisches Profil begründen und entwickeln?

Zunächst einmal muss sie, um eine produktive Perspektive zu gewinnen, reale Zwangsaspekte sehen, registrieren, akzeptieren und sich explizit darauf beziehen. Es hilft keiner Klientin und keinem Klienten, wenn zwecks Aufrechterhaltung einer Illusion von Freiwilligkeit und Gleichheit so getan wird, als bewege man sich in einem Raum des herrschaftsfreien Diskurses.

Sodann wäre allerdings festzustellen, dass zwar das genaue Hinsehen Sache der Sozialen Arbeit ist – also durchaus die Wahrnehmung von sozialer Kontrolle –, nicht jedoch der eigenmächtige Aufbau von Zwangsszenarien. Man beachte den Unterschied: Soziale Arbeit agiert in einem Feld von Beziehungen, die auch als Machtverhältnisse beschrieben werden können. Es ist allerdings nicht ihr Job, die Zahl dieser Machtverhältnisse zu vermehren oder das Machtgefälle zu Ungunsten ihrer KlientInnen zu vergrößern. Das wäre nicht nur moralisch falsch, sondern auch eine methodische Dummheit. Die fachliche Stärke der professionellen Sozialen Arbeit liegt schließlich in ihrer Fähigkeit, Autonomiereserven ihrer KlientInnen aufzuspüren und zu aktivieren.

SozialarbeiterInnen sind konfrontierend BotschafterInnen , die auf möglicherweise von den Betroffenen verleugnete/verdrängte Bedrohungen hinzuweisen haben. Wahrgenommen werden sie als RepräsentantInnen eines Zwangs, den sie i.d.R. nicht selbst konstituieren. Die Fachkräfte bekommen die (mitunter ohnmächtige) Wut und den Trotz zu spüren, sie sind AdressatInnen für das Gefühl, vom Schicksal ungerecht behandelt worden zu sein. Diese Ausgangsposition für den Unterstützungsprozess erfordert besonders umsichtige Vorgangsweisen und die Fähigkeit der Fachkräfte, den gegen sie gerichteten Zorn nicht-personalisiert wahrzunehmen, ihn also als Ausdruck des Leidens an der Welt statt als persönlichen Angriff zu interpretieren. Will man es pathetisch formulieren, so kann man sagen, dass SozialarbeiterInnen am Beginn einer Pflichtbetreuung die Rolle des personifizierten Schicksals zu spielen gezwungen sind. Sie formulieren und interpretieren Zwänge und Rahmenbedingungen und weisen auf mögliche Sanktionen hin, wenn sich die Betroffenen nicht in dieses ihr Schicksal fügen wollen. (Zwei wenig zielführende, aber psychisch entlastende Auswege liegen für die Fachkräfte nahe: die Identifikation mit dem Zwang und die Selbststilisierung als Widerständler. Erstere Variante führt zu einem eigenständigen und motivierten Ausbau des Drucks auf die KlientInnen, um der Komplexität der eigenen Aufgabenstellung zu entgehen; die zweite Variante ahmt den Trotz der Betroffenen nach, was diese selten goutieren).

Ihrer professionellen Rolle werden HelferInnen gerecht, indem sie die Autonomiechancen der KlientInnen in einer schwierigen und demütigenden Lage aufspüren und aktivieren. Dabei ist Vorsicht, Umsicht und Geduld geboten. Ein überstürztes Reframing der Situation, ihre Darstellung als (auch) chancenreich, wirkt leicht zynisch. Zum Beispiel erfüllt die häufig und allzuleichtfertig gebrauchte Wendung von der Krise als Chance alle Zynismus-Kriterien. Chris Trotter (2001:97ff) gibt für die Handhabung der Dynamik von Pflichtbetreuungen wertvolle Hinweise. Ich möchte hier aber auch einige anführen, die ich für zentral halte:

Zwang – auch die Verkündung und Bewusstmachung von Zwangssituationen – bedeutet zuallererst für die Betroffenen eine Einschränkung ihrer Handlungsmöglichkeiten. Da gibt es nichts schönzureden. Unterstützung unter solchen Umständen kann nur gelingen, wenn sie eine Reihe von Anforderungen erfüllt:

+++ Unterstützung muss individualisiert und anschlussfähig sein, d.h. tatsächlich an Wünschen und Möglichkeiten der Betroffenen ansetzen, nicht an überzogenen Wünschen der HelferInnen, die KlientInnen mögen ab sofort keine Schwierigkeiten mehr machen. Es ist ein absurder Irrtum zu glauben, Menschen könnten unter großem Druck größere Lern- und Anpassungsleistungen erbringen und die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns sei geringer.

+++ die Unterstützung muss passend sein, d.h. auf die Lebenssituation der Betroffenen zugeschnitten, und sie muss auch Unterstützung für die Bewältigung der Drucksituation beinhalten.

+++ die Unterstützung muss – auch unter diesen ungünstigen Bedingungen – für die Betroffenen als Unterstützung erkennbar sein. Diese Erkennbarkeit ist eine Bringschuld der AnbieterInnen.

+++ die Unterstützung ist nur dann chancenreich, wenn sie risikoarm ist. Unterstützung, die ihre segensreiche Wirkung nur dann entfaltet, wenn alle ganz genau das tun, was man von ihnen will, verfehlt ihr Ziel mit Sicherheit. Ist die Situation ohnehin zugespitzt, führt eine weitere Zuspitzung, führen „Hopp oder Tropp“-Programme nur in die Ausweglosigkeit.

+++ die Unterstützung muss kompatibel sein. Kompatibel mit dem, was das soziale Umfeld der Betroffenen leisten kann, kompatibel mit den Anforderungen anderer lebensweltlicher Akteure. Und kompatibel mit den Fähigkeiten und Möglichkeiten der Betroffenen wie der institutionellen HelferInnen.

+++ die Unterstützung muss rasch wenigstens kleinen, aber erkennbaren Nutzen bringen.

+++ unter den Bedingungen von Druck muss die Unterstützung intensiver, zuverlässiger und nachgehender sein und sollte die Kooperation der Betroffenen fördern, aber nicht als Voraussetzung definieren. Kooperation kann nicht erzwungen werden.

Zugegeben, das sind keine überraschenden Anforderungen. Sie decken sich mit dem, was von professionell inszenierten Hilfen generell verlangt wird. Es scheint mir aber besonders wichtig, sie in diesem Zusammenhang zu betonen, weil der Glaube an die heilende Wirkung des Drucks weit verbreitet ist. Was nützt, ist nie der Druck, stets nur die sorgfältig designte Unterstützung. Je größer der Druck, umso genauer müssen die Hilfen geplant, umso verlässlicher platziert und mit umso mehr Respekt müssen sie angeboten werden.

4. Soziale Arbeit ist keine Disziplierungsanstalt

Foucault reihte die Sozialarbeit in die „richtenden“ Professionen ein. Das entspricht einem Teil der Praxis, wohl nicht dem besten. Tatsächlich finden wir, sogenannte professionelle Hilfe beobachtend, die Erzwingung von Geständnissen, die moralische Belehrung und die mit pädagogischen Argumenten garnierte Disziplinierung im Repertoire der AkteurInnen. Disziplin und Kontrolle, einmal mit vorgeblich unterstützendem Ziel eingeführt, haben die Tendenz, schnell zum Selbstzweck zu werden. Sie sichern die Demütigung der Betroffenen, deren Resignation wird als Fortschritt und pädagogischer Erfolg bewertet. Das Sozialsystem bildet innerhalb dieser Gesellschaft ein umfangreiches Subsystem, das Betroffene aufsaugt, Lösungen innerhalb des institutionellen Systems und nicht innerhalb der Lebenswelten der Betroffenen sucht. Druck und Zwang sind die Wege, Menschen einer Systemlogik zu unterwerfen und ihren Status als BürgerInnen nachhaltig zu beschädigen. Dazu bedarf es nicht der vollen Ausgestaltung einer totalen Institution. Es ist immer noch (und wieder) lohnend, Goffmans Klassiker „Asyle“ zu lesen. Tut man es mit geschärftem Blick, wird man Mechanismen beschrieben finden, die auch außerhalb geschlossener Settings eine Entpersönlichung von Menschen vorantreiben können. Es ist der Zwang, der Mauern ersetzt. Soziale Arbeit soll ihn sehen, auf ihn hinweisen, nicht ihn ausgestalten. Sonst verliert sie selbst ihre Persönlichkeit als Profession.




Literatur:

Balsamo, Anne (1996): Technologies of the Gendered Body. Reading Cyborg Women. Durham and London.

Benvenuto, Sergio (2001): Mamma Berlusconi. In: Lettre International, Heft 54. S. 112.

Foucault, Michel (1992): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/Main.

Goffman, Erving (1972): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/M..

Gordon, Jack (1997): Discourses of Child Protection and Child Welfare. In: British Journal of Social Work: Vol. 27 Number 5 October . Oxford (GB): Oxford University Press. S. 659-678.

Pantucek, Peter (1998): Lebensweltorientierte Individualhilfe. Eine Einführung für Soziale Berufe. Freiburg im Breisgau.

Schneider, Wolfgang (1998): Quo Vadis Drogenhilfe? Zur Qualitätssicherungsdiskussion in der Drogenhilfe. In: neue praxis Nr.2. S. 163-171.

Trotter, Chris (2001): Soziale Arbeit mit unfreiwilligen KlientInnen. Ein Handbuch für die Praxis. In: Gumpinger, Marianne (Hg.): Soziale Arbeit mit unfreiwilligen KlientInnen. Linz. S. 97-304.

Walzer, Michael (1999): Vernunft, Politik und Leidenschaft. Defizite liberaler Theorie. Frankfurt am Main.

Wolfgruber, Gudrun (1997): Zwischen Hilfestellung und sozialer Kontrolle. Jugendfürsorge im Roten Wien, dargestellt am Beispiel der Kindesabnahme. Wien.


Peter Pantucek ist Sozialarbeiter, Soziologe, Supervisor und lehrt am FH-Studiengang Sozialarbeit St.Pölten. www.pantucek.com