Texte

Ein Straßenname für ein Haus.

Essay über das Männerheim Meldemannstraße. Gekürzt aus: Hurnaus/Kerbel/Pantucek/Paterno: Haus Meldemannstraße. Czernin Verlag Wien 2003.

Ach Gott, die Meldemannstraße. Ein Straßenname für ein Haus: dieMeldemannstraße, das Männerheim in der Brigittenau. Man sah sie, die Bewohner, in den umliegenden Wirtshäusern. Beim „Bluadigen“ in der Stromstraße, beim Eckwirt am Höchstädtplatz. Überhaupt der Höchstädtplatz, das war ein ganz Besonderer. Das Haus des Zentralkomitees der KPÖ mit seiner schrecklichen Deckenheizung, die einen heißen Kopf und kalte Füße produzierte – aber vielleicht war das ja beabsichtigt. Gegenüber die Niederösterreichische Molkerei, an der Ecke lange Zeit eine Milchbar, später ein kleiner Supermarkt. Bis in die ausgehenden 1950er-Jahre – oder gar länger? – lieferten Pferdefuhrwerke die Milchkannen zu den Geschäften. Eine verblasste Erinnerung. Einzelne Bewohner des Hauses Meldemannstraße traf man mitunter vor einem Glas Rum beim Wirt. Oder mit einem Doppler auf einer Parkbank. In das Haus selbst ging ich nicht, damals. Fraglich auch, ob ich willkommen gewesen wäre. Nur wer erkennbar war als heruntergekommener Alkoholiker, wurde dem „Asyl“ zugeordnet. Vielleicht nahmen auch andere, ganz normal aussehend, dort Quartier. Aber die spielten keine Rolle für das Bild, das ich mir machte, das sich andere machten.

Damals, in den 1970er-Jahren, vernahm ich das Gerücht, auch Adolf Hitler hätte in diesem Haus gewohnt. Es verschaffte mir Befriedigung: der große Böse des 20. Jahrhunderts als heruntergekommenes Subjekt. Vielleicht auch er beim „Bluadigen“ mit einem Viertel Rum. So passte alles zusammen.

Passt alles zusammen? Jahrzehnte vergingen, bevor mich das Haus Meldemannstraße 27 wieder beschäftigte. In einem Sonderzug von Bratislava nach Wien, nach einem internationalen Kongress für Sozialarbeit. Auf den Sitzen neben mir SozialarbeiterInnen, die mir erzählten, das Haus solle geschlossen werden. Die Meldemannstraße geschlossen? Mein erster Gedanke: die letzte Gelegenheit, dem Gebäude seine Geheimnisse zu entlocken. Eine Gruppe von StudentInnen, so dachte ich, sollte ins Haus gehen und sichern, was zu sichern ist. Alles dokumentieren, alles besichtigen, mit allen sprechen. So würde ein umfassendes Bild der Legende Meldemannstraße entstehen.

Es kann vorweggenommen werden: Diese Mission musste scheitern, denn Legenden sind in den Köpfen, nicht in Gebäuden. Und um in einem Gebäude die Legende zu finden, muss sie zuerst im Kopf sein. Im Kopf der Studentinnen und Studenten war sie nicht. Fast alle erst kurz dem Gymnasium entwachsen, verbanden sie mit „Meldemannstraße“ schlicht nichts. Sie konnten meine hektische Begeisterung nicht teilen und verhandelten nüchtern über Fahrtkostenersätze. Für eine Generation, die am Beginn des 21. Jahrhunderts Sozialarbeit studiert, ist das Haus eines wie viele andere auch. Trotzdem durchstöberten sie die Räume, interviewten Bewohner und Personal, fotografierten und recherchierten. Nach ihnen sollten noch andere kommen: JournalistInnen und Theaterleute wollten vor dem absehbaren Ende noch einmal das Geheimnis des Hauses erkunden, ein Geheimnis, das vielleicht gar nicht existiert.

Erste Erkundung: die Geschichte

Die Meldemannstraße 27 ist ein Haus des 20. Jahrhunderts: an seinem Beginn entstanden, mit dessen Ende auch zu einem Ende gekommen. Verbunden mit der Geschichte dieses Jahrhunderts – und trotzdem seltsam unberührt davon – präsentierte es sich 2000 kaum verändert.

Den hundertsten Geburtstag wird das Haus nicht mehr erleben, zumindest nicht in seiner bisherigen Funktion. Es wird abgerissen, umgebaut, anders genutzt … noch scheint das nicht klar. Über das Umfeld, in das 1905 das Männerheim gebaut wurde, können wir in den Sozialreportagen von Max Winter lesen.

Eindrücklich die Schilderungen des Elends vieler Menschen in der Hauptstadt der Monarchie, der Kaiserstadt Wien: ungezählte Obdachlose, die in Kellern, Schuppen, im Kanalsystem hausten, 80.000 Bettgeher, an die proletarische Familien die Schlafstätten in ihren ohnehin kleinen und kleinsten Wohnungen untervermieteten. Geschlafen wurde in Schichten. In der Literatur finden sich Andeutungen über das „moralische und hygienische Problem“ der Bettgeherei, der Klassiker der Wiener Pornoliteratur – „Josefine Mutzenbacher“ – beschönigt deren sittliche Seite: Der Bettgeher hatte ein Verhältnis mit der Mutter und vergriff sich auch an der kleinen Josefine.

Für die Bett-Mitbenutzung waren 2 1/2 Kronen pro Woche zu bezahlen, der ortsübliche Verdienst eines Hilfsarbeiters betrug etwas über 16 Kronen[1]. Mehr als 15 Prozent des Einkommens, so wurde gerechnet, könne man für die Unterkunft nicht aufbringen. Die maßgeblich vom Wiener jüdischen Bürgertum getragene Kaiser Franz Josef I. Jubiläums-Stiftung für Volkswohnungen und Wohlfahrts-Einrichtungen entschloss sich, eine neue Art von Logierhäusern nach dem Vorbild der englischen Rowton-Häuser zu bauen. Diese unterschieden sich von konventionellen Logierhäusern dadurch, dass Tag- und Schlafräume getrennt waren, zwei Meter hohe Wände teilten die Schlafsäle in Kojen – so wurde ein wenig Intimität gesichert und gleichzeitig die Zirkulation der Luft im ganzen Saal als Ventilation genützt. Mindestens 500 Schlafstellen musste ein Haus haben, um rentabel betrieben werden zu können. Die Rowton-Häuser und das nach ihrem Vorbild errichtete Haus Meldemannstraße sollten sich also selbst erhalten.

Die Initiatoren kalkulierten nüchtern: Mehr als 2 1/2 Kronen durfte die Schlafstelle nicht kosten, damit die Zielgruppe – als „Working Poor“ würden wir sie heute bezeichnen – sie sich leisten konnte. Die Architekten Leopold Ramsauer und Otto Richter gewannen den Wettbewerb und wurden mit der Planung beauftragt. Die öffentliche Aufmerksamkeit für das Projekt war groß, die Situierung im „aufstrebenden“ 20. Bezirk günstig: mitten in einem proletarischen Bezirk, trotzdem in der Nähe des Stadtzentrums. Straßenbahn, Dampftramway und Stellwagen[2] hielten in unmittelbarer Nähe.

Am 15. Oktober 1905 wurde das Männerheim in der Meldemannstraße ohne Festlichkeiten eröffnet. Im November des gleichen Jahres stand hoher Besuch ins Haus: Der Kaiser erwies dem Heim für obdachlose Männer ohne vorherige Anmeldung seine Ehre und lobte die Unterbringung der Insassen.

Überlegungen hinsichtlich einer eventuellen Überwachung scheinen beim Bau keine nennenswerte Rolle gespielt zu haben. Die Baubeschreibung konzentriert sich auf Fragen der Wirtschaftlichkeit und der Bedürfnisse der Bewohner, nicht aber jener des Personals. Die Bauherren dürften davon ausgegangen sein, dass die künftigen Bewohner sehr wohl für sich selbst sorgen bzw. einander gegenseitig kontrollieren könnten. Die Gemeinschaftsräume boten denn auch für die damalige Zeit hohen Komfort, selbst eine Bibliothek war eingeplant und wurde auch rege genützt.

All die Not ringsum, da war das neue Männerheim ein kleines Wunder, ein wahrlich guter Platz zum Logieren. Ein Bett, das man nicht teilen musste, fließendes Wasser, Aufenthaltsräume, elektrisches Licht, eine Bibliothek – und das alles zum Preis eines Teilzeitbetts in einer überfüllten Wohnung. 544 Schlafplätze, für jeden Bewohner mindestens vier Quadratmeter Fläche[3] und zwölf Kubikmeter Luftraum. Die Luftzirkulation wurde dadurch gefördert, dass die Kojenwände nur zwei Meter hoch waren und nicht bis zum Fußboden reichten. Solide gebaut, dauerhafte Materialien: Bauherr und Architekten hatten sich etwas gedacht, und das Haus war alles andere denn ein Symbol für die Missachtung der niederen Klassen durch die Gesellschaft. Dazu sollte es erst viel später werden.

Welchen Eindruck das Männerheim Brigittenau bei der armen Bevölkerung machte, beschreibt der Journalist und Schriftsteller Emil Kläger:

„Es war im vorigen Winter, da wurde es überall in den Elendsquartieren erzählt: Ein Märchen von einer himmlischen Unterkunft auf Erden. In den Suppen- und Teeanstalten, den Klubs der Unterstandslosen, raunte man sich Geschichten zu von dem neuen ,Männerheim‘ in der Meldemannstraße in der Brigittenau, berichtete aufgeregt von seinen Wundern an Eleganz und Billigkeit. Da beschloß ich, es auch eine Nacht dort zu versuchen. Ich legte mir also das Kostüm eines armen Teufels zurecht, markierte die Abgerissenheit möglichst auffällig und wanderte dann abends durch die Brigittenau. […] Einige Minuten später stand ich vor dem Männerheim.“[4]

Hier wohnten also Elende, aber sie wohnten vergleichsweise gut. Und ein Großteil von ihnen dürfte Arbeit gehabt haben. Laut Statistik[5] setzten sich die Bewohner des Männerwohnheims im Jahr 1910 zu rund 40 Prozent aus gewerblichen Arbeitern (Gehilfen), zu 26 Prozent aus Hilfsarbeitern, weiters Handelsgehilfen, Kutschern, Geschäftsdienern etc. zusammen. 85 Prozent der Männer waren ledig, ihrer konfessionellen Zugehörigkeit nach mehr als 80 Prozent katholisch und 9 Prozent israelitisch.

In dieser Statistik ist auch schon Herr Adolf Hitler enthalten, der im Februar 1910 zugezogen war und bis Mai 1913 in der Meldemannstraße bleiben sollte. Eine so lange Aufenthaltsdauer stellte die Ausnahme dar: Die durchschnittliche Verweildauer der Schlafgäste 1910 betrug 37 Tage. 15.279 Fußbäder wurden in einem Jahr verabreicht, 5144 Brausebäder. Diese Zahlen sind nicht besonders eindrucksvoll. Der zugegebenermaßen fiktive durchschnittliche Bewohner hat sich also kaum einmal im Monat geduscht und etwa alle zehn Tage ein Fußbad genommen. Wahrscheinlich war auch damals der Geruch im Heim eher streng.

Nach den guten Erfahrungen mit dem Männerheim Brigittenau baute die Stiftung ein noch größeres Haus in der Wurlitzergasse in Hernals, dem 17. Wiener Gemeindebezirk. Die Absicht, noch weitere Heime zu errichten, war allerdings nicht mehr umzusetzen.

Was geschah im Haus zwischen 1938 und 1945? Bei unseren Recherchen konnte uns erst niemand Auskunft geben. Allerlei Phantasien entsprangen der Überlegung, wie wohl Adolf Hitler mit seiner Vergangenheit umgegangen war. Hatten die Aktionen gegen so genannte Asoziale auch „sein“ Männerheim zum Ziel? Die Antwort, die Herwig Czech vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes schließlich fand, war enttäuschend – beinahe plakativ wäre es gewesen, wäre Spektakuläres mit dem Heim und seinen Bewohnern passiert. Ist aber nicht. Spätestens 1937, jedenfalls bereits vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, war das inzwischen ins Eigentum der Stadt Wien übergegangene Haus in ein so genanntes Versorgungshaus umgewandelt worden. 1940/41 benannte man es in „Wiener städtisches Altersheim Zwischenbrücken“ um, Obdachlose waren also nicht länger hier untergebracht. Eine langsame Rückwidmung lässt ein Dokument vom 1. Juli 1945 erkennen: Von den damals 480 Betten waren 236 belegt und 244 frei. Na ja, ganz frei denn doch nicht: Das Obdachlosenheim „Asyl Gänsbachergasse“ hatte bereits 136 von ihnen in Beschlag genommen.

Aus der Meldemannstraße wurden die Wohnungslosen zwar nicht geholt. Mit anderen unter dem Begriff „Asoziale“ Subsummierten stellten sie aber das Ziel nationalsozialistischer Zwangs- und Vernichtungspolitik dar. Neben den Obdachlosen erfassten NSDAP, Polizei, Arbeits-, Wohlfahrts- und Gesundheitsämter SozialhilfeempfängerInnen, BettlerInnen, so genannte Arbeitsscheue, AlkoholikerInnen sowie Prostituierte und bildeten eine „Asozialenkommission“, die Einweisungen in Arbeitslager verfügte. Die Wiener Gemeindeverwaltung betrieb die Errichtung eines „Arbeitserziehungslagers“ für Männer, das 1941 in Oberlanzendorf eröffnet und von der SS geführt wurde. Bis zu 2000 Häftlinge fasste das Lager, der Alltag dort unterschied sich kaum von jenem in einem Konzentrationslager – nach wenigen Wochen Einschüchterung wurden die Häftlinge allerdings wieder freigelassen und sollten von der Fürsorgerin in den Arbeitsprozess eingegliedert werden. Sprengelfürsorgerin und Arbeitsamt beobachteten das Wohlverhalten, die Gestapo zeichnete für die aktiveren Formen der „Nachkontrolle“ verantwortlich: Jene, die „rückfällig“ wurden, verbrachte man in ein Konzentrationslager und kennzeichnete sie mit dem schwarzen Winkel als asozial.[6] Auch Roma und Sinti fielen lange Zeit in diese Kategorie. Für die Nazis verband sie mit den „Nichtsesshaften“ das unstete Leben. In der Hierarchie der Lager standen die Männer und Frauen mit dem schwarzen Winkel ganz unten, isoliert, oft auch verachtet von Aufsehern und den „Politischen“. Nach dem Krieg wurden die meisten von ihnen nicht als Opfer des NS-Regimes anerkannt. Asoziale waren auch in der neu entstandenen Demokratie nicht gern gesehen, mehr als die nötigste Versorgung ließ man ihnen nicht zukommen.

In der Zweiten Republik wurde das Haus Meldemannstraße 27 wieder seiner ursprünglichen Bestimmung übergeben – und eine lange Phase von Ruhe und Nichtbeachtung begann. Nicht das Sozialamt, sondern die Wohnhäuserverwaltung verfügte seit den 1970er-Jahren über das Gebäude, bauliche Veränderungen gab es kaum. Während der Wohnstandard in Wien sich stetig verbesserte, blieb hier alles auf dem Stand von 1905. Aus dem Musterheim wurde eine immer elendere Behausung. Ein Asyl im schlechten Sinne, geführt von „Aufsehern“.

Öffentliche Aufmerksamkeit für das Haus? Aber nein. Das sozialdemokratische Wien schenkte den wohnungslosen Männern lange Zeit wenig Beachtung. Die Meldemannstraße war vergessen, baulich und organisatorisch nahezu unverändert durch Jahrzehnte schien sich niemand für die Bewohner zu interessieren, sieht man einmal von einigen japanischen Touristen ab, die Hitlers Wiener Domizil sehen wollten. In den letzten Jahren hat sich das geändert. Die Ankündigung von Absiedlung und Sperre des Hauses fachte das Interesse an. Zeitungsberichte, ein Theaterprojekt und eine „Alltagsgeschichte“ von Elisabeth Spira im Fernsehen befassten sich mit dem Männerheim: Nun doch ein Zeichen dafür, dass die Legende Meldemannstraße noch lebendig ist.

Zweite Erkundung: das Haus

Großzügig war das Vestibül einst, später ein wenig verkleinert durch den Einbau einer Portiersloge. Kommt man heute in das Haus Meldemannstraße 27, durchschreitet man den Eingangsbereich und gelangt in den Speisesaal. Ein einsamer Fernseh-Apparat auf einem Bord findet wenig Beachtung. Dahinter der geräumige Aufenthaltsraum, der schönste Platz im Gebäude: in den großen Garten gebaut, drei Seiten des Raumes mit ungehindertem Blick auf Wiesen und alte Bäume.

Die Obergeschoße beherbergen die Schlafräume – und im Unterschied zur Großzügigkeit des Parterres wird es hier eng, sehr eng.

Vor Beginn der Absiedlung, im Jahr 2002, stehen 141 Bewohnern der Meldemannstraße Kabinen mit einer Fläche von jeweils 3,5 Quadratmetern als Schlaf- respektive Rückzugsmöglichkeit zur Verfügung. Die Zwischenwände gewähren zwar im Wesentlichen Sichtschutz zum Nebenbewohner, aber da sie nicht bis zum Boden reichen und auch nicht bis zur Decke, kann aus der Nachbarkabine schon einmal eine unappetitliche Flüssigkeit in die eigene Kabine rinnen. Zur Grundausstattung dieses bescheidenen Lebensraumes gehören ein Bett, ein Nachtkästchen und ein Wandbord aus Metall. Steckdosen gibt es keine, ein Lichtschalter befindet sich aber in jeder Kabine – wenn auch der Strom um etwa 22 Uhr zentral abgedreht wird. Im Sommer zahlt man für eine Kabine dieser Art 6,18 Euro pro Woche, im Winter 11,78 Euro, zuzüglich einer einmaligen Schlüsselkaution von 29,07 Euro für den Kabinen- und Haustorschlüssel.

205 Einzelzimmer mit je 6,5 bis 7 Quadratmetern bieten den Bewohnern neben dem vorgegebenen Mobilar – Bett, Tisch, Sessel, Kasten aus Holz oder Metall, Steckdose und Lichtschalter – Raum, ihre eigenen Wohnvorstellungen umzusetzen. Der Preis für Individualität, im Sommer 7,28 Euro pro Woche, im Winter 12,86 Euro, ist – abgesehen von den rund 1,09 Euro an Mehrkosten – an bestimmte Voraussetzungen geknüpft, wie gruppenfähiges Benehmen, Sauberkeit und Ordnung in der kleinen Kabine sowie gute Zahlungsmoral. Dem Umzug muss das Personal zustimmen.

Zimmerbesuch ist unter den geschilderten Umständen natürlich nicht möglich. Wenn sich denn eine Sexualpartnerin finden sollte, müssen die Bewohner andere Plätze für ein Zusammensein suchen. Manche Kabinen sind liebevoll gestaltet: Poster, Puppen, Diskokugeln, Deckerln und Nippesfiguren, auf kleinstem Raum untergebracht. Persönliche Gegenstände, Erinnerungsstücke, leere Flaschen. Dichte Arrangements des Willens zur Individualität, Bonsai-Versionen von Gemeindewohnungen.

Neben den Kabinen und Einzelzimmern verfügt das Männerheim auch über fünf unterschiedlich große Mehrbetträume mit insgesamt 25 Betten, die nun als Notquartiere genutzt werden. Sofern Platz in solch einem Quartier vorhanden ist, stehen einem Unterkunftsuchenden ein Bett und ein nicht versperrbares Nachtkästchen zur Verfügung, gegen Kaution kommt man zu einem Spind mit Schloss. Namensschilder ordnen die Betten den Personen zu. Ein Teil der Notbetten war und ist für Konsumenten illegaler Drogen reserviert.

Die Mieter der Einzelzimmer benützen die gemeinschaftlichen Teeküchen (zwei Herde für 43 Personen) und zwei größere Küchen im 3. wie 4. Stock (je ein Herd für 11 bzw. 13 Personen), die Bewohner der Kabinen sowie die „Nächtiger“ die große Küche im Erdgeschoss. Für die Aufbewahrung von Lebensmitteln findet man versperrbare Kühlschrankfächer im Erdgeschoß, im 4. und im 5. Stock.

Der Keller des Hauses dient unter anderem der Aufbewahrung so genannter Effekten, Habseligkeiten der Bewohner, die sie nicht in ihre Kabine mitnehmen können oder wollen. Hier finden sich auch die Waschküche und das Kleidermagazin für eine Bekleidungsausgabe im Notfall.

Dritte Erkundung: die Bilder in den Köpfen

Über die Bilder im Kopf zu sprechen, ist nicht leicht. Am ehesten gelingt es noch, wenn man sich mit den Wörtern beschäftigt, die Bilder evozieren.

Da sind einmal die Bezeichnungen für das Haus selbst: Asyl, Männerheim, Herberge, zuletzt ganz einfach Haus. In den frühesten Texten hieß das Haus Männerheim[7], manchmal auch Ledigenheim. Heim, das ist ein schillernder Begriff. Positiv besetzt, wenn man an sein eigenes Heim denkt: Heim als Synonym für Geborgenheit, Zu-Hause-Sein. Andererseits: das Heim als Schreckgespenst für schlimme Kinder, das Altersheim eine grausige Vision, das Männerheim eine Endstation der anderen Art. In der Alltagssprache hat auch Asyl keinen guten Klang. Die Angst vor Unterkünften, die die Gesellschaft jenen bereitstellt, denen es in der freien Wildbahn nicht zu überleben gelingt. Gedanken über entwürdigende Situationen. Man geht nicht freiwillig dorthin, das Leben zwingt einen dazu, oder auch andere Menschen. Erving Goffmans berühmte Studie über Asyle beschreibt die Realität totaler Institutionen, die ihre Insassen vom normalen Leben eines selbstbestimmten Bürgers abschneiden, ihm klar machen, dass er nicht mehr zur „Außenwelt“ gehört, sondern nun in eine separate Welt mit eigenen Regeln eingetreten ist. Eine Institution, die bestrebt ist, das gesamte Alltagsleben zu bestimmen. Goffman schreibt vom Militär, von psychiatrischen Anstalten, von entwürdigenden und radikalen Aufnahmeritualen. Diese Bilder tauchen auf, wenn, euphemistisch, von „Heimen“ die Rede ist.

Ledige, auch das ein irrlichterner Begriff, der bloß auf den ersten Blick den Familienstand bezeichnet, auf den zweiten Blick aber ein zumindest vorläufiges Scheitern markiert: keine Partnerin, keine Kinder, auf sich alleine gestellt. Heiraten zu können war für die unteren Klassen nicht immer so selbstverständlich, wie es das im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert ist, aber auch heute schaffen es so manche nicht, sich stabile Beziehungen aufzubauen. Ledig und kein Geld – das lässt die Hoffnung sinken, dieser Zustand könnte sich jemals ändern.

Die Wohnungslosen selbst, vor allem die männlichen, sind in Europas Städten markante Figuren. Einigen von ihnen gelingt es eine Zeitlang die Standards städtischer Unauffälligkeit einzuhalten. Da die Toleranz hier relativ hoch ist, nimmt man ein sonderbares Äußeres weniger wahr. Früher oder später sind allerdings die Grenzen der Duldsamkeit überschritten, das Erscheinungsbild nähert sich dem, was NormalbürgerInnen mit Sandlern assoziieren: abgerissene Kleidung, vollgefüllte Plastiksäcke, verfilztes Haar, strenger Geruch, vielleicht auch noch vermischt mit Alkoholdunst … das Bild jener, die tatsächlich „auf der Straße“ wohnen. Und das Bild entspricht ihrer Lebensweise, den harten Lebensbedingungen auf der ständigen Suche nach einer Schlafmöglichkeit. Alles, was man hat, muss man ständig mit sich tragen. Waschgelegenheiten sind nicht leicht zu finden. Vielleicht fehlt auch bereits der Antrieb, sich noch zu pflegen.

Männliche Wohnungslosigkeit steht oft am Ende einer Täterkarriere: Hilflose Gewalttätigkeit in der Familie angesichts der eigenen Unfähigkeit, Beziehungen zu leben und akzeptabel zu gestalten, führt zur Wegweisung aus der familiären Wohnung, zu Scheidung und damit zum Verlust der Unterkunft. Die scheinbar mächtigen Herren verlieren den Schein der Angepasstheit, den eine Familie immer noch gewährt. Und so finden sich in den Häusern der Wohnungslosenhilfe Personen, die nun als Opfer, davor allerdings als Täter wahrgenommen wurden – sich vielleicht sogar selbst bis zum entscheidenden letzten Bruch in ihrer Biografie als solche wahrgenommen haben … Eine Herausforderung ist das für unsere Neigung, fein säuberlich zwischen Tätern und Opfern zu unterscheiden – eine Unterscheidung, die übrigens auch die Betroffenen selbst zu treffen versuchen und die ihr Leben nicht leichter macht.

Auch von der anderen, der gesellschaftskritischen Seite wird ein Symbol, wie es dieses Haus darstellt, gern überladen: „Unser Gesellschaftssystem jedenfalls versteckt in solchen Asylen mit Erfolg seine Kehrseite, die es nicht wahrhaben will“, formulierte es Gerhard Roth in einer Preisrede, und er meinte es wohl nicht so, wie es gelesen werden kann: als Bild für die Verwerflichkeit eines Gesellschaftssystems.

Vierte Erkundung: die Meldemänner

Individualisierung, so Matthias Horx, sei der „Megatrend“, sei das, was den so genannten Westen eigentlich ausmache – und wer wollte dem widersprechen? Dieses Diktum evoziert Gegenbilder des Fundamentalismus: uniforme Kleidungsvorschriften, rigid exekutierte Moralvorstellungen; ein Leben für alle, mit Betonung auf ein. Solidarität findet sich auch in diesen Gesellschaften nicht – oder sie ist bedingungslos an Konformismus und Selbstunterwerfung des Einzelnen gebunden.

Die wohnungslosen Männer haben die Individualisierung vorweggenommen. Sie sind daran gescheitert, und sie scheitern noch immer. Sie waren und sind nicht fähig, sich in die Gesellschaft einzuordnen, deren Minimalforderungen für ein „gelungenes Leben“ zu erfüllen.

Wohnungslosigkeit ist nicht der einzige Grund, ausgeschlossen zu werden. In der Gesellschaft funktionieren Teilhabe und Lebenssicherung heute auf abstraktem Niveau. Nicht mehr die Gemüsebeete vor der Haustür sichern die Existenz, sondern Symbole anderer, weniger konkreter Art: Papiere und so genannte „Cards“ – Personalausweise, Meldezettel, Bankomat-, Kredit-, Sozialversicherungskarte etc. – markieren die Möglichkeit, an den Austauschprozessen der Gesellschaft der zweiten, der reflexiven Moderne[8] teilzunehmen. Jedes Papier, das fehlt, jede Karte, die nicht mehr funktioniert, zeigt den Ausschluss, die Exklusion. Die Lebenswelt wird kleiner, die Möglichkeiten werden geringer.

Immer noch ist diese Gesellschaft eine männliche. Bilder von erfolgreicher Männlichkeit sind unverändert attraktiv. Männlichkeit erweist sich im Erfolgsstreben, im selbstbewussten Auftreten, in Eigenständigkeit. Die Männer im Männerheim stehen als groteskes Gegenbild zur Männlichkeit. Sie sind die andere Seite, die notwendige Ergänzung zum erfolgreichen Manager im BMW. Auch sie versuchten und versuchen, männlich zu sein. Gescheitert, weil die Sieger auch Verlierer brauchen. Was wäre es denn für ein Sieg, wenn niemand besiegt würde? Was bleibt, sind machistische Sprüche und ein derber Umgangston, in einer nahezu ausschließlich männlichen Welt wie dem Männerheim gedeihend wie in einem Treibhaus. Karikaturen von Männlichkeit: starke Sprüche über Frauen, auch wenn keine Frau mehr da ist; hinter der rauen Schale völlig unrealistische Bedürfnisse nach Geborgenheit. Auf sich alleine gestellt, erweist sich männliche Sozialisation als Nachteil: Viele haben nicht einmal die einfachsten Techniken der Selbstversorgung gelernt, können nicht kochen, auf ihr Äußeres achten, sich um ihre Sachen kümmern.[9]

In Europa ist die Mehrzahl der wohnungslosen Männer sozial isoliert. Sieben von zehn sind alleine, waren nie verheiratet. Die Unfähigkeit (oder mangelnde Gelegenheit), stabile Beziehungen aufzubauen, markiert den Weg in die soziale Exklusion.[10] Heime für wohnungslose Männer sind also tatsächlich Ledigenheime – und Heime für geschiedene Männer.

Die meisten haben früher nicht in einer eigenen Wohnung, sondern bei Verwandten, FreundInnen oder PartnerInnen gewohnt.[11] Und dann hat die Geduld der „Important Others“ ein Ende, zerbrechen Beziehungen, ist eigenes Geld nicht ausreichend vorhanden, das soziale Kapital aufgebraucht.

Isolation führt in die Wohnungslosigkeit, und Wohnungslosigkeit führt in die Isolation. Verwandten und Bekannten, von denen man sich meist ohnehin im Konflikt getrennt hat, will man so nicht wieder unter die Augen treten. „Wenn ich wieder eine eigene Wohnung habe, dann melde ich mich auch wieder bei meinen Eltern“[12], so ein Obdachloser.

Was bleibt, ist die Erinnerung an eine bewegte Lebensgeschichte. Oft die Geschichte großer Gefühle – oder ins Große aufgeblähter kleiner Gefühle. Geschichten von Missbrauch, von Zurückweisung durch die Eltern, von Heimen, Pflegeeltern, Gefängnissen, zahlreichen Abbrüchen. Geschichten der Verzweiflung. Manchmal aber auch Geschichten, die auf den ersten Blick keine Erklärung für das spätere Scheitern zu bieten scheinen, und doch: Brüche auch hier.

Ergebnis all der manchmal spektakulären Taten und Ereignisse: eine Lebensweise, für deren Charakterisierung uns Außenstehenden im günstigsten Fall ein Wort wie „trist“ einfällt. Für viele ist es ein Alltag, den sie in einer Abfolge von Betäubung und Suche nach Betäubung verbringen. Die anderen, die Fitteren, versuchen Würde zu bewahren.

Das Haus Meldemannstraße ist ein Männerheim. Ein Heim von Männlichkeit, es zeigt Männer, radikal auf sich selbst zurückgeworfen. Dass sie keine Role-Models sind, wissen sie, natürlich. Dass sie allerdings selbst bescheidenere „Individualitätsformen“ nicht mehr erreichen konnten, nicht „Hackler“, nicht „Familienvater“, ist eine Kränkung.

Im Heim finden sich viele Formen menschlichen Verhaltens: Solidarität, Konkurrenz, Streit, Intrige. Der radikale Ausschluss von Frauen – wie in Männerbünden. Eine ganz normale Männergesellschaft. Nein, da gibt es doch wesentliche Unterschiede. Was fehlt, sind anspruchsvollere Formen der Organisation und Selbstorganisation, was fehlt, ist auch ein „Sinn“. Das Zusammenleben verfolgt keinen höheren Zweck, dient nicht Gott, Volk oder Vaterland. Die mehreren hundert Bewohner des Hauses schließen sich nicht zusammen, es gibt keine „Gewerkschaft“, keine Mitbestimmungsformen. Sie sind als Individuen atomisiert, durch nichts verbunden. Für sie kann legitimiert niemand sprechen. Jeder spricht nur für sich, wenn er nicht auch das schon verlernt, aufgegeben hat.

Jetzt, am Ende der Geschichte dieses Hauses, wurden einige der Bewohner öffentlich wahrnehmbar.

Da war zum Beispiel „der Hirsch“, Peter Aigner. In der Theaterproduktion „Mein Kampf“ beeindruckte er als einer der Laien-Hauptdarsteller Publikum und Kritik. Einige der abenteuerlich-derben Erzählungen aus seinem Leben bildeten die Grundlage ergänzender Szenen. Er habe seine Würde – so der Schlosser, Vater von fünf Kindern – nie anders zu verteidigen gelernt als durch wildes Um-sich-Schlagen. Seine Alkoholkrankheit hatte es auch nicht leichter gemacht, das Leben zu bewältigen – das Männerheim war die letzte Station seines Daseins. Am Abend der letzten Vorstellung starb er.

Einige Männer erzählten Elisabeth Spira für die Sendung „Alltagsgeschichten“ ihre Leben. Viele andere allerdings blieben von öffentlicher Aufmerksamkeit verschont und hätten auf eine solche wohl auch keinen Wert gelegt.

Lebenserzählungen vereinzelter Menschen, die in ihren eigenen Augen gescheitert sind, müssen dieses Scheitern reflektieren und kommentieren. Am Beginn ihrer Karriere waren die später Wohnungslosen schließlich meist Menschen, die mit der großen Mehrheit der Bevölkerung Ziele, Träume, Normen teilten – und viele tun das noch immer. Vorerst waren sie keine Rebellen, sondern versuchten sich unter widrigen Umständen zu behaupten – unter sehr widrigen Umständen, die besonderer Kraft und außerordentlicher Fähigkeiten bedurft hätten, um sich ihnen zum Trotz durchzusetzen. Kraft, die nicht da war oder unglücklich eingesetzt wurde.

Die Schuld an einer solchen Karriere alleine sich selbst zu geben, würde zu Verzweiflung führen. Das soziale Milieu eines Hauses wie der Meldemannstraße ist keines, mit dem man sich im positiven Sinne identifizieren kann, es produziert keine stolze subkulturelle Identität, die anzunehmen und trotzig zu verteidigen ist. Der subjektive Ausweg erschließt sich in den erzählten Lebensgeschichten der Bewohner, die vor allem Opfererzählungen mit einer „Billard-Ball-Konzeption“ sind[13]: Sie beschreiben sich als im Laufe ihres Lebens hilflos Getriebene, sie spielen die eigene Verantwortung herunter, verniedlichen sie. Schwach seien sie, wie alle Menschen, die nicht zu den Bösen gehören. In der Selbstbeschreibung als Opfer liegen unbestreitbare Vorteile: Als überpersönlicher Typus evoziert die Opfererzählung Mitleid, entschuldet den Erzähler und beschuldigt andere: Eltern, ErzieherInnen, die Ex-Partnerin, Behörden. Ihre Stärke besteht auch darin, dass sie in der Regel nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, dass sie über hinreichende, auch nachprüfbare Bezüge zur vergangenen Lebenswirklichkeit verfügt. Gleichzeitig prolongiert sie den Opferstatus: Durch die systematische Ausblendung der eigenen Verantwortung verneint die Opfererzählung positive Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Sie ist nicht motivierend, bleibt defensiv.

Eingeschlossen in die „Billard-Ball-Konzeption“ der Lebensgeschichte sind manchmal rituelle Bekenntnisse eigener Schuld, auch sie mit resignativem Unterton. Alles läuft auf die derzeitige Situation als Höhepunkt (oder Tiefpunkt, ganz wie man will), als logisches Resultat einer Lebensgeschichte hinaus. Die Gegenwart kann sich nicht aus sich selbst heraus erklären, sie hat für sich kaum einen Sinn. Noch schwieriger ist es, eine Zukunft, einen Lebensplan zu konstruieren. Dazu bedarf es meist fremder Hilfe und Umwelten, die so konstruiert sind, dass mehrere Wege offen bleiben. In einer institutionellen Welt wie dem Heim müssen auch die individuellen Zukunftsmöglichkeiten von der Institution vorgedacht und bereitgestellt werden.

Vielleicht ist das die problematischste Seite von Heimen: Ohne Anpassung, ohne Unterwerfung unter die Regeln gibt es keine Zukunftsperspektive. Das Davonlaufen – eine mögliche Flucht vor dem Zwang zur Anpassung ­– verschlimmert absehbar die eigene Lage.

Einige Wohnungslose, die tatsächlich noch auf der Straße, in Abbruchhäusern, in der „Waggonie“ am Südbahnhof oder an ähnlichen Plätzen nächtigen, können dieser ihrer schwierigen und tristen Lebensführung noch etwas Positives abgewinnen: Sie sehen sich trotz allem noch als unabhängig, als stark genug, ihr Leben selbst zu organisieren. Der Gang in ein Asyl erschiene ihnen als Verlust ihrer Fähigkeit zur Autonomie. Wenn es denn einmal soweit sein würde, sich einem Heimregime unterwerfen zu müssen, bedeutete das vorerst eine Niederlage. Von diesem Punkt aus einen Weg zu Selbstachtung und selbstständigem Leben in einer eigenen Unterkunft zu beginnen, bedarf so mancher Anstrengung.

Fünfte Erkundung: wohnungslos in Zahlen

In Wien gibt es rund 5000 Wohnungslose, sagen jene, die es wissen müssten[14]. Für 3534 von ihnen gibt es Wohnplätze in stationären Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, die zu drei Viertel von Männern, zu nur 13 Prozent von Frauen und zum Rest von Kindern belegt werden. In der Folge interessieren uns hier – dem Thema entsprechend – vor allem die Männer.

53 Prozent der wohnungslosen Männer sind ledig, 35 Prozent geschieden, nur jeder Zehnte ist (noch) verheiratet, meist aber trotzdem allein. Bei der Aufnahme in eine Einrichtung haben 94 Prozent, also nahezu alle, keine aufrechte Partnerschaft, auch sonst niemanden, weder Kind noch andere Verwandte, mit dem sie den Alltag teilen.

Mehr als die Hälfte der Wohnungslosen – übrigens zu 86 Prozent österreichische Staatsbürger – hat zumindest eine Berufsausbildung absolviert, immerhin 6 Prozent die Matura, vier von zehn können nur einen Pflichtschulabschluss oder nicht einmal den vorweisen.

Bei einer Befragung sollten die Bewohner des Männerheims die Gründe für ihre Wohnungslosigkeit angeben. Markant ist die geringe Antworthäufigkeit: Hatten immerhin 9 Prozent noch nie eine eigene Wohnung und verlor je ein Sechstel wegen Mietzinsrückständen oder im Zuge einer Scheidung die Unterkunft, führten die meisten „sonstige Gründe“ an … Die Frage war offenbar schwer zu beantworten, vielleicht schien auch ein bloßes Ankreuzen vorgegebener Begründungen unangemessen.

Wohl niemanden wird überraschen, dass sich Wohnungslosigkeit und Armut als eng miteinander verknüpft erweisen. Nahezu die Hälfte der Wohnungslosen ist schon ein Jahr oder länger ohne Unterbrechung arbeitslos. Bei ihrer Aufnahme haben 75 Prozent keine und nur 16 Prozent eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Bis zur Entlassung sollte sich das nicht wesentlich ändern: 69 Prozent sind immer noch ohne Arbeit, nur 21 Prozent sozialversicherungspflichtig tätig.

Sind Wohnungslose Sozialhilfeempfänger? Ja, aber zu einem geringeren Anteil als anzunehmen: 27 Prozent der Bewohner des Hauses Meldemannstraße leben von der Sozialhilfe, fast die Hälfte bezieht Notstandshilfe – immerhin eine Versicherungsleistung –, 11 Prozent haben ein Arbeitseinkommen und 8 Prozent eine Pension. Das Durchschnittseinkommen der Meldemänner betrug im Jahr 2003 565,90 Euro monatlich.

Zur Wohnungslosigkeit gesellen sich in der Regel noch andere Probleme: Die meisten haben Bankschulden, Mietzinsrückstände, ausständige Gerichts- oder Verwaltungsstrafen (zum Beispiel fürs Schwarzfahren), offene Versandhausrechnungen, sind Alimentationsverpflichtungen nicht regelmäßig nachgekommen oder Strom- und Heizkosten schuldig. Strategien zum Schuldenabbau haben sie keine.

Kommt jemand erstmals in die Meldemannstraße, so doch selten direkt „von der Straße“. Die meisten hatten private Unterkünfte, ein Viertel war schon vorher in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe.

Eine klare Verbindung scheint das: Sandler und Alkohol. Tatsächlich haben nach Schätzung der SozialarbeiterInnen rund 40 von 100 Bewohnern ein Alkoholproblem, 17 eines mit illegalen Drogen, 10 dürften medikamentenabhängig sein. Bei nahezu einem Drittel werden „psychiatrische Probleme“ vermutet, scheinen psychische Erkrankungen vorhanden. Angesichts solcher Zahlen lässt sich eine Romantisierung des Lebens ohne Bindungen wohl nicht aufrecht erhalten.

Sechste Erkundung: Aufsicht und Sozialarbeit

In einer Reportage für das Zeit-Magazin beschrieb Gerhard Roth das Haus Meldemannstraße 27 vor seiner Übernahme durch das Sozialamt. 15 Aufseher und Hunderte Bewohner, eine schwierige Mischung, wie es schien. Wenig Gutes wusste er zu berichten: Von Aufsehern wurde ihm erzählt, die ein Schreckensregime führten, aber auch von Gutherzigen, die ein wenig Menschlichkeit in ein hoffnungsloses Ambiente brachten. Die wenigsten Bewohner hatten eine Perspektive, und wenn sie eine hatten, als sie hierher kamen, so gaben sie sie bald auf. An einem trostlosen Ort, trostlos geworden durch die Trostlosigkeit seiner Bewohner. Die hier geltenden Regeln machten einmal mehr bewusst, dass man an einer Endstation angekommen war. Die Bewohner – erwachsene Menschen immerhin – hatten rechtzeitig zu Hause zu sein, sonst waren sie ausgesperrt (manchmal half etwas Bakschisch für die diensthabenden Aufseher). Das Licht wurde um 22 Uhr abgedreht, mangels einer Steckdose in der Kabine war es kaum möglich, sich mit anderem denn Schlafen zu beschäftigen. Die Entmündigung war nicht total, aber doch weitgehend – mit all ihren Folgen: Man gab sich auf, einer Nivellierung nach unten hin. Ein wenig Stolz konnte noch daraus resultieren, nicht ganz so heruntergekommen zu sein wie mancher Mitbewohner.

Erst im Jahr 2000 kommen fünf Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter ins Haus. Eine von ihnen, Monika Wintersberger, übernimmt die Hausleitung. Die Aufseher werden zu Betreuern und zwei von ihnen mit jeweils einer Sozialarbeiterin zu einem Betreuungsteam zusammengespannt. Allseitige Skepsis steht am Beginn dieses Prozesses.

Eine Sozialarbeiterin[15] beschreibt, wie sie beides verwundert: die Unzugänglichkeit jener Bewohner, die schon lange im Haus sind und sich bereits aufgegeben haben. Sie können und wollen keine Unterstützung annehmen. Auf der anderen Seite aber jene, die offensichtlich bloß eines kleinen Anstoßes bedürfen, ein wenig Achtung und Vertrauen benötigen, um sich eine Zukunft außerhalb des Asyls wieder zuzutrauen.

Wie komme ich an Menschen heran, die sich seit langem aus der Gesellschaft zurückgezogen haben? Wie kann ich ihnen wieder Lust auf diese Gesellschaft machen? Rhetorische Fragen einer Sozialarbeiterin am Beginn ihres Berichts über die Arbeit im Haus Meldemannstraße. Sie kommt mit ihren Kolleginnen und Kollegen in ein sehr männliches System, erkennbar auch an der Sprache. Die Anwesenheit, die Verantwortung von Frauen in jener Separatwelt verändert langsam, aber doch diese Sprache, gerät zum Zeichen von Hoffnung. Gesprochen wird früher oder später mit allen im Haus, über Bedürfnisse, über Zukunft. Und über Zukunft muss gesprochen werden, denn das Haus soll geschlossen werden. So sehr das auch jene schmerzt, die sich abgefunden und schon arrangiert haben mit ihrem langjährigen Dasein hier, die Heimat sehen in dem, was anderen nur ein Heim, eine Anstalt ist. Auch das ein Hospitalisierungseffekt. Gesprochen werden muss nun über Schuldenabbau, über notwendige Arztbesuche, über die Chance, alleine zu leben oder in einer freundlicheren, menschenwürdigeren Wohnform. Tatsächlich geht Bewohner für Bewohner nun aus dem Haus, manche sogar in Gemeindewohnungen. Was die Sozialarbeiter besonders freut: Sie scheinen dort auch zu bleiben.

Die neue Hausleitung, die Tätigkeit des Sozialarbeitsteams, die angekündigte Absiedlung bringen jedenfalls Bewegung – und für gar nicht wenige Bewohner auch Hoffnung auf ein selbstständigeres Leben. Trotzdem ist es den spät eingesetzten Sozialarbeiterinnen ein Anliegen, die „Aufseher“ zu rehabilitieren: Jene, oder zumindest einige von ihnen, hätten es lange Jahre geschafft (ohne Unterstützung der Politik, Gesellschaft, Verwaltung und ohne Fortbildung und Supervision), „dass in diesem Haus viele Männer, die sonst überall, aus der Psychiatrie, aus anderen Einrichtungen für Wohnungslose hinausgeworfen wurden, ein Stück weit Heimat und Sicherheit gefunden haben. Die Aufseher waren es auch, die immer bereit waren, notfalls noch Betten aufzustellen und ein zumindest notdürftiges Quartier anzubieten, bevor jemand auf der Straße bleiben musste“, so Barbara Rader vom Sozialarbeiterteam.

Siebente Erkundung: die Zukunft

Bleibt unserer Gesellschaft das Problem der Wohnungslosigkeit erhalten? Auf der Suche nach einer Zukunft stößt man auf kleine Hoffnungen, selten auf die große Vision, dass sich irgendwann einmal alles regeln würde. Dass sich auf Basis einer vermeintlichen Gesundung der Gesellschaft die Wohnungslosigkeit als soziales Problem auflöste, ist kaum zu erwarten: Desaströse Biografien, Armut, das wird es auch weiterhin geben. Das Ausmaß des Problems erweist sich aber von der politischen und ökonomischen Entwicklung abhängig – und die lässt derzeit kein Sinken der Armut und keine Stärkung der gesellschaftlichen Kohäsion erwarten. Der Wohnungsmarkt hat Auswirkungen auf das Ausmaß der Wohnungslosigkeit: Zur Verfügung stehen müssen relativ billige Wohnungen, die keine großen Anfangsinvestitionen erfordern. Ein effektives System der Delogierungsprävention rechnet sich: Die Versorgung von einmal wohnungslos gewordenen Menschen ist in der Regel ungleich teurer als die Übernahme einiger nicht bezahlter Mieten durch das Sozialamt.

Schon bisher waren es nicht in erster Linie der Staat, die Länder oder Kommunen, die sich der Wohnungslosen annahmen, sondern karitative Organisationen: Heilsarmee, Caritas und andere sprangen dort ein, wo der Staat bloß polizeiliche Maßnahmen zur „Lösung“ des Problems anzubieten hatte.

Während sich das traditionelle Angebot für Wohnungslose auf große, relativ geschlossene Anstalten beschränkte, setzen sich nun zunehmend personalisierte Herangehensweisen durch. Man spricht mit den Betroffenen, sucht eine individuell passende Lösung, die aber eine Vielzahl unterschiedlicher Angebote voraussetzt. Können die einen rasch wieder in relative Selbstständigkeit begleitet werden, sind für andere dichtere Formen der Unterstützung nötig. Nicht Großeinrichtungen, sondern unterstütztes, in die Stadt integriertes Wohnen – das bietet die Wiener Wohnungslosenhilfe zumindest jenen KlientInnen an, die in besserer Verfassung sind.

Eine europaweite Studie[16] beschreibt die zukünftigen Dienste als partizipatorisch mit zwei Tendenzen:

Die eine, individualisierende Tendenz verlangt von den Betroffenen als Gegenleistung für die ihnen gewährten Dienste die Übernahme von Verantwortung. Ein Vertrag soll sie zur Mitarbeit an der eigenen „Normalisierung“, der Einordnung in den gesellschaftlichen Mainstream verpflichten. Sie haben materielle Sparsamkeit, die Prinzipien akzeptablen Verhaltens und einen kontrollierten Umgang mit Zeit zu erlernen. Verträge dieser Art sind selten Ergebnis einer Verhandlung, sondern Diktate, auch wenn sie den Entwicklungswünschen mancher Wohnungsloser zumindest teilweise entsprechen mögen.

Die zweite Tendenz basiert darauf, die Gesellschaft als aus Machtstrukturen und Prozessen der „Kolonialisierung“[17] bestehend zu sehen. Die Wohnungslosendienste nützen die Notlage der Betroffenen, um Konformitätszwänge zu etablieren. Die Benützer am Design und der operativen Leitung von Angeboten für Wohnungslose zu beteiligen, könnte sie ohne Repression und Anpassungszwang befähigen, in gelebtem Widerstand Eigenverantwortung zu entwickeln. Ansätze des zweiten Typus finden sich in Österreich noch kaum. Der Augustin[18] lässt manchmal erahnen, was möglich wäre.

Achte Erkundung: Alkohol?

Alkohol in der Meldemannstraße: sichtbar, spürbar. Das Einkaufswagerl, gefüllt mit leeren Bierflaschen. Die vom Langzeitkonsum gezeichneten Gesichter, ihre gesundheitlichen Probleme, Folgen eines zehrenden Lebens, oft auch jahrzehntelangen Alkoholmissbrauchs. Dennoch: Nicht in erster Linie und nicht allein der Alkohol war es, der sie herbrachte. Aber hier scheint er das Leben aller Bewohner, nicht nur der Alkoholiker, stark zu beeinflussen. Die Abstinenten beschweren sich über die zahlreichen Belästigungen durch die Abhängigen. Im Vollrausch ist ein Meldemann kein angenehmer Zeitgenosse. Wenn die Notstandshilfe angewiesen wird, dann herrscht im Haus eine gespannte Atmosphäre aus Aggressivität und Depression. Keine gute Zeit, um Gespräche zu führen.

Übermäßiger Alkoholkonsum schon vor der Wohnungslosigkeit lässt sich kaum reduzieren, wenn dann auch noch die Bedingungen des stressreichen Lebens ohne feste und eigene Unterkunft hinzukommen. Alkohol hilft beim Verdrängen, erleichtert die Kontaktaufnahme, ist ein Nahrungsmittel und betäubt den seelischen und körperlichen Schmerz. Mit illegalen Drogen ist es nicht viel anders.

Der Kampf gegen den Alkohol ist ein altes Thema der Wohnungslosenhilfe, aber er scheint aussichtslos – sieht man einmal von vereinzelten Erfolgen ab. Die „besseren“, also höherschwelligen Einrichtungen haben inzwischen ein verhältnismäßig rigides Regime etabliert. Sie kontrollieren die Bewohner mit einem Alkomaten. Akut alkoholkranke Personen bekommen hier keine Chance. Das Haus Meldemannstraße hat auf eine solche Kontrolle stets verzichtet.

Conclusio: Auslassungen und andere Sünden

Die ExpertInnen legen Wert darauf, dass Wohnungslosigkeit ein komplexes Phänomen ist. Beim Versuch, mich einem der Häuser für Wohnungslose neugierig und verstehend zu nähern, stieß ich bald auf diese Erkenntnis. Je mehr Informationen ich sammelte, umso unsicherer wurde ich in meinem Urteil. Eine zusammenhängende Geschichte des Hauses und seiner Bewohner zu erzählen, erwies sich als unmöglich, wollte ich ehrlich bleiben und nicht wesentliche Informationen unterschlagen. Letztlich fiel doch so manches unter den Tisch, was (sicher auch wieder unvollständig) hier aufgezählt sei: wohnungslose Frauen; die Ex-Partnerinnen, Eltern und Kinder der Meldemänner; Sexualität; die wohnungslosen Konsumenten illegaler Drogen; Kleinkriminalität; gesundheitliche Probleme; andere Einrichtungen wie zum Beispiel die „Gruft“[19]; zahlreiche Erzählungen von Bewohnern und Betreuern; Probleme mit den Ämtern; die Wege nach Verlassen des Hauses; die Funktion des Wohnungsmarkts; die Strategien, sich Unterkunft bei Bekannten zu beschaffen … so vieles, das das Bild erst komplettieren würde. Begnügen Sie sich hier mit der Andeutung. Lesen Sie den Augustin, sprechen Sie mit Wohnungslosen oder mit SozialarbeiterInnen, mit Betreuerinnen und Hausarbeitern aus der Wohnungslosenhilfe. Vielleicht verstehen Sie Wohnungslosigkeit dann besser. Ich beanspruche, sie nicht ganz verstehen zu können und verstehen zu wollen. So erzählt auch in Zukunft jede individuelle Geschichte etwas Neues, lässt staunen über die Wege des Unglücks und die Möglichkeiten vergeblicher, manchmal sogar erfolgreicher individueller Auflehnung gegen das Unglück.

Eine Rückkehr: die Bilder in unseren Köpfen

Selbst eine genaue Betrachtung des Hauses und seiner Bewohner scheint nicht zu klären, weshalb die Meldemannstraße 27 so großes Interesse hervorruft. Es sind bloß einige tausend Personen, die in den Zeiten seines Bestehens als Männerheim in diesem Haus gewohnt haben. Die Zahl kann es wohl nicht sein – oder würde sich jemand für ein Buch über die BewohnerInnen der Strebersdorfer Straße interessieren? Über die Meldemannstraße 27 zu schreiben heißt über uns zu schreiben, die wir Wohnung haben und Familien. Wir verhandeln uns im Diskurs über das Haus selbst. Weil das Haus und seine Bewohner ungewöhnlich sind, ihre bloße Existenz unser Selbstverständnis und das Verständnis der Gesellschaft, die wir bewohnen, herausfordert. Und weil mit Adolf Hitler das Grausig-Dämonische des 20. Jahrhunderts seine ganze Banalität und Jämmerlichkeit hier früh offenbart hatte, als das noch niemand erkennen konnte, nicht einmal Schlomo Herzl aus George Taboris „Mein Kampf“.

Das sind die Bilder, die im Bild des Hauses Meldemannstraße 27 aktiviert werden:

Naturhaftigkeit: Wo ist die Welt heute noch naturhaft, dem Dschungel ähnlich, der am Anfang der Entwicklung der Menschheit als Lebensraum stand? In der Straße als Lebensraum. Menschliche Gesellschaft, ihre Institutionen, gegenständlichen Hervorbringungen und Regeln erscheinen dort als fremde Umwelt. Wir in der Gesellschaft und ihren Regeln Lebenden neigen zu einem wohligen Erschauern, denken wir an die Möglichkeit, Außenseiter zu sein. Ein archaisches Gefühl. Das Heim mag in der Vorstellung einem Biwak gleich sein. Notdürftige Versorgung, bevor der Überlebenskampf wieder beginnt.

Regression: Da ist die Vorstellung der Regression, der Möglichkeit, sich fallen zu lassen, wenn ohnehin alles verloren ist. Wenn die Möglichkeit des Erfolgs sich verflüchtigt hat, bleibt dies als Letztes übrig.

Zügellosigkeit: Wir leben im Alltag kontrolliert, erlauben uns nur hin und wieder, über die Stränge zu schlagen. Die Vorstellung vom ungehemmten Alkoholkonsum bietet ein schaurig-schönes Gegenbild, ein Bild der Schamlosigkeit auf tiefstem Niveau. Es ist mit den Sandlern verbunden.

Befreiung: Schulden? Egal! Beziehungen? Egal! Vorgesetzte? Egal! Einmal draußen aus der Gesellschaft, hat sich das scheinbar erledigt. In der Fantasie hat der Außenseiter, der Gescheiterte auch den Kampf der Anpassung und den Krampf der Kompromisse nicht mehr zu erleiden. All dies findet sich kultivierter auch im Traum von der Insel, auf die man sich zurückzuziehen wünscht. Aber die Insel ist weit, und auf jeder Insel sitzen die Touristen, damit wieder die Zivilisation.

Rache: Und wenn es jenen schlecht geht, so ist ihnen Recht geschehen: Wer die geheimen Wünsche des „Normalbürgers“ auslebt, soll erfahren, dass es so nicht gehen kann. Dass dieses Leben eben kein Leben ist.

Warnung: Nachbarin der Rache. Der schwarze Mann, Symbol dafür, was aus einem wird, der nicht fähig ist, sich an die Regeln zu halten. Stütze der eigenen täglichen Selbstüberwindung.

Exotik: Ein neugierig-kicherndes Interesse auch. Das Fremde so nah, zum Angreifen fast. Und besonders skurril dort, wo es der eigenen Welt ähnelt: Puppen auf dem Sofa, Südseestrand an der Wand, Bierdose in der Hand. So vertraut. So fremd.

Mitleid: Besonders dankbar hat man Sandlern für das Mitleid zu sein, das sie wecken. Zuerst vielleicht ein bisschen Ekel, dann – spätestens nach Andeutungen einer tragischen Lebensgeschichte – Mitleid. Wir sind stolz darauf, dass wir noch Vorurteile überwinden und mitleiden können. Einige Euro für den Augustin-Verkäufer und schon sind wir wieder überzeugt, ja bewegt von unserer Fähigkeit zur Mitmenschlichkeit.

Angst: Eine Mitspielerin. Auch wenn wir es gerne verleugneten: Allzuweit ist diese Existenz von unserer nicht entfernt, tief drinnen wissen wir, wie nahe wir selbst dem Scheitern sind. Könnten nicht auch wir nach einigen Schicksalsschlägen, einer psychischen Erkrankung ähnlich entgleisen?

Abscheu: Der Gestank, der Schmutz. Selbst Wohlmeinende berichten davon. Ein Naserümpfen, ein Schauder.

Selbsterhöhung: In der fiktiven Hierarchie der Gesellschaft, einer Hierarchie des „gelingenden Lebens“, reihen wir uns höher ein als jene (und am liebsten tun das Menschen, deren Sicherheit eine brüchige ist, bei denen morgen alles schon anders sein kann). Ungefährliche, machtlose Existenzen: ein gutes Gegenbild zum eigenen prachtvollen Selbst.

All diese Bilder haben mit der Wirklichkeit zu tun, aber sie sind nicht die Wirklichkeit. Die ist anders. Langweiliger. Dramatischer. Aber könnten wir der Wirklichkeit motiviert begegnen ohne all diese Fiktionen?

Die Bewohner des Hauses Meldemannstraße 27[20] sind keine besonderen Menschen, und ihre Situation ist eine für uns nicht-alltägliche. Das macht sie interessant, das macht sie brauchbar als Metapher und als Referenz für vieles. Der Orte des Elends gibt es viele, selbst im beginnenden 21. Jahrhundert, selbst in einem der reichsten Länder der Welt. Alters- und Pflegeheime, feuchte Wohnungen und Häuser, Aufbewahrungsorte für Behinderte, Gefängnisse, Familienwohnungen als Hölle und doch einzig bekannte Welt für misshandelte und missbrauchte Kinder. Orte der Armut und Entwürdigung bilden ein anderes, weitgehend unbekanntes Österreich. Einen Archipel der Tristesse, der Apathie, der hilflosen Aggression, der Überlebenskämpfe. Es ist nicht das „wirkliche“ Bild dieses Landes, aber es ist unlösbarer Bestandteil jedes kompletten Bilderbogens von diesem Land. Die Sozialpolitik – unter dem Einfluss der Sozialpartner über Jahrzehnte auf die Sicherung jener konzentriert, die eine Normalbiografie vorweisen konnten – hat die Armut nicht beseitigt.

Die Inseln des Elends in unser Gesellschafts- und Weltbild zu integrieren, stellt eine anspruchsvolle Herausforderung dar. Vielleicht ist es am ehrlichsten zuzugeben, dass uns die Männer der Meldemannstraße nichts zu sagen haben. Wir können von ihnen nicht lernen, wie man weise lebt, nicht, woran es in unserer Gesellschaft krankt. Ihre Erzählungen relativieren höchstens unseren eigenen Drang zum Selbstmitleid. Sich als RetterInnen der Meldemänner aufzuspielen, kam zu Recht selbst den SozialarbeiterInnen des Teams nicht in den Sinn.

Wenn ich heute auf den Höchstädtplatz komme, ist fast alles verschwunden, was diesen Platz früher zu einem Platz gemacht hat. Weitläufig ist er geworden. Der neue Bau der Fachhochschule Technikum erstreckt sich auf dem Areal der Niederösterreichischen Molkerei, wo einst die Pferde die Milchkannen holten. Auch im Haus des Zentralkomitees der KPÖ haben honorigere Organisationen Einzug gehalten. Der proletarische Touch scheint sich zu verlieren, obwohl er zwei Gassen weiter noch unverändert zu besichtigen ist. Die Brigittenau wird bald sauberer sein, das Areal rund um den Höchstädtplatz verwechselbarer. Die Bewohner des Hauses Meldemannstraße 27 werden sich verstreut haben, oder doch nicht ganz: Eine große Gruppe von ihnen wird in der Floridsdorfer Siemensstraße eine neue, schönere Unterkunft beziehen. Ein Schlussstrich unter das 20. Jahrhundert?

 

Literatur

Avramov, Dragana (1997): Social Images of Homelessness. In: FEANTSA (Hg.): Third International FEANTSA Congress. Where to sleep tonight? Where to live tomorrow?. Brüssel. S. 23–38.

BAWO – Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (2001): Dokumentation der Fachtagung 2001. Wohnungslosenhilfe zwischen Ethik, Recht und Praxis. Wien.

BAWO – Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (2002): Wiener Wohnungslosenhilfe – Sozialstatistikbericht 2001. Wien.

Bill, Edgar / Doherty, Joe / Mina-Coull, Amy (1999): Services for Homeless People. Innovation and Change in the European Union. Bristol.

Bourdieu, Pierre u. a. (1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz.

Caritas der Erzdiözese Wien (Hg.) (o. J.): UNFREI_WILLIG wohnungslos in Wien und Niederösterreich. Wahrnehmungen und Antworten der Caritas. Wien.

Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes: Der Krieg gegen die Minderwertigen. http://www.gedenkstaettesteinhof.at

Ehn, Michael (1989): Abweichende Lebensgeschichten. Angehörige sozialer Randgruppen erzählen. Wien.

Eitel, Gerhard / Schoibl, Heinz (1999): Grundlagenerhebung zur Wohnungslosensituation in Österreich. Wien.

FEANTSA (1997): Third International FEANTSA Congress. Where to sleep tonight? Where to live tomorrow? Orientations for future action. Brüssel.

Foucault, Michel (1992): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/Main.

Girtler, Roland (1980): Vagabunden in der Großstadt. Teilnehmende Beobachtung in der Lebenswelt der „Sandler“ Wiens. Stuttgart.

Goffman, Erving (1972): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/M.

Grassl, Gerald (o. J.): Der schwarze Winkel. Internet: http://mitglied.lycos.de/wienpoet

Hamann, Brigitte (xxxx): Hitlers Wien. xxxx.

Hertzberger, Hermann (1995): Vom Bauen. München.

Hirtl, Theresia (2003): Wohnungslosigkeit mit besonderer Berücksichtigung der Alkoholproblematik. Diplomarbeit an der Bundesakademie für Sozialarbeit St. Pölten.

John, Michael (1986): Obdachlosigkeit – Massenerscheinung und Unruheherd im Wien der Spätgründerzeit. In: Ehalt, Hubert Ch. / Heiß, Gernot / Stekl, Hannes (Hg.): Glücklich ist, wer vergisst …? Das andere Wien um 1900. Wien. S. 173–194.

Kaiser Franz Joseph I. Jubiläums-Stiftung für Volkswohnungen und Wohlfahrts-Einrichtungen (1911): Fünfzehnter Jahres-Bericht über das Jahr 1910. Wien.

Kläger Emil (1908): Durch die Quartiere der Not und des Verbrechens – Wien um die Jahrhundertwende. Wien.

Nutzungsstudie Obdachlosenasyl Wien 20 Meldemannstraße im Auftrag der MA 21a. Zwischenbericht Oktober 1998.

o. A. (1906): Männerheim (Wien, XX. Bezirk, Meldemannstraße Nr. 27). In: Österreichische Wochenschrift für den öffentlichen Baudienst, Jahrgang XII, Heft 48. Wien. S. 759–766.

Rader, Barbara (2003): Der Beginn des Abenteuers. Unveröffentlichtes Manuskript. Wien.

Scharinger, Christian (1993): „Du wülst wissn, wo i schlof?“ Zur sozialen Situation von akut Obdachlosen in Wien. Eine Studie des Interdisziplinären Forschungszentrums Sozialwissenschaften im Auftrag der MA12 der Stadt Wien. Wien.

Schmidinger, Andrea (2002): Überlebensstrategien im Teufelskreis der Obdachlosigkeit. Diplomarbeit an der Bundesakademie für Sozialarbeit. Wien.

Team Haus Meldemannstraße (2003): Baba und foi net (auf) II. Der letzte Jahresbericht seiner Gattung. Wien.

Winter, Max (1904): Im dunkelsten Wien. Wien.

 


 

[1] Alle diese Angaben aus der Zeitschrift für den öffentlichen Baudienst 1906.

[2] Der Stellwagen war ein von Pferden gezogenes öffentliches Verkehrsmittel.

[3] Eigentlich waren es nur 3,5 Quadratmeter, aber in den Schriften der Betreiber durfte man wohl ein wenig aufbessern.

[4] Anfang dieses Jahrhunderts hielt Emil Kläger an der Wiener Urania Lichtbildervorträge zum Thema „Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens“, die großen Zuspruch in der Wiener Öffentlichkeit fand. Kläger war zusammen mit dem Fotografen Hermann Drawe monatelang durch die Wiener Sammelkanäle, Männerheime, Wärmestuben und Wasserquartiere gezogen. Der Vortrag lieferte dem gleichnamigen Buch Grundlage, das 1908 in einer für damalige Verhältnisse riesigen Erstauflage von 10.000 Stück erschien.

[5] Angaben aus dem Jahresbericht 1910 der Kaiser Franz Josef I. Jubiläums-Stiftung.

[6] Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Gedenkstätte Steinhof, www.gedenkstaettesteinhof.at

[7] Österreichische Zeitschrift für den öffentlichen Baudienst 1906.

[8] Zu deren Charakterisierung siehe die Publikationen von Ulrich Beck.

[9] Genaueres zu männlicher und weiblicher Obdachlosigkeit findet man in der Dokumentation der Fachtagung 2001 der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe.

[10] Avramov 1997, S. 31.

[11] Caritas o. J., S. 13.

[12] Schmidinger 2002, S. 25.

[13] Diese bildhafte Bezeichnung stammt von Sykes und Matza (erwähnt bei Ehn, S. 36).

[14] Diese und die folgenden Zahlen beziehen sich, wo nicht anders angegeben, auf das Jahr 2002 und finden sich im Bericht der BAWO über die Situation der Wohnungslosen in Wien 2002 bzw. in den Jahresberichten des Sozialarbeitsteams im Haus Meldemannstraße.

[15] Rader: Der Beginn des Abenteuers.

[16] Edgar Bill et alii 1999, Seiten 22ff.

[17] diese Sichtweise schließt an Foucault an.

[18] Der Augustin wurde im Jahr 1995 als erste österreichische Obdachlosenzeitung nach Londoner Vorbild gegründet und erscheint 14-täglich. Vertrieben wird der im Frühjahr 2003 mit dem renommierten Concordia-Preis ausgezeichnete Augustin im Rahmen eines Sozialprojekts von rund 400 Obdachlosen um derzeit 2,-.

[19] Die Gruft ist eine Betreuungseinrichtung für obdachlose Frauen und Männer direkt unter der Wiener Mariahilfer Kirche. 1986 ins Leben gerufen, deckt das Team der 24 Stunden geöffneten Gruft – diplomierte SozialarbeiterInnen, SozialbetreuerInnen, Zivildiener und ehrenamtlichce MitarbeiterInnen – heute von den Grundbedürfnissen bis hin zur Beratung ein breites Spektrum an Hilfestellungen für Wohnungslose ab.

[20] Schon in dieser Adressierung zeigt sich eine Vereinfachung, eine Ungenauigkeit. Genauer müsste es 25–29 heißen. Wir lieben Vereinfachungen, selbst so unschuldige, weil sie plakativer, leichter zu handhaben sind als die Differenzierung und die Genauigkeit. Und weil Vereinfachungen die Produktion von Sinn erleichtern.