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Das Ende der Psychowelle. Aktuelle Entwicklungen sozialarbeiterischer Methodik.

Referat, gehalten auf der Jahrestagung Beratung und Diagnostik für Kinder und Jugendliche, 18.Mai 2006 in Wagrain.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

Der Titel meines Referats hat – zugegeben – eine polemische Schlagseite. Das Ende der Psychowelle, das wirkt wie eine Verabschiedung vom Psychischen und wie eine Hinwendung zum – ja zu was eigentlich? Ich werde versuchen, das zu rekonstruieren. Meine Behauptung ist, dass die Dominanz psychotherapeutisch orientierter Zugänge in der Sozialarbeit an ein Ende zu gelangen scheint, aus mehreren Gründen.

Gesellschaftlich ist die Psychowelle keineswegs erledigt. Sie blüht und gedeiht, die Psychotherapie und die Psychologie werden ihre Bedeutung zweifelsohne behalten. So weit zur Beruhigung all jener, die sich vielleicht durch den Titel in der Tagungsankündigung angegriffen gefühlt haben.

Mein Thema heute sind die Entwicklungen in der professionellen Sozialarbeit. Die werden, wie ich annehme, Auswirkungen auf die Rolle der Sozialarbeit im Sozial- und Gesundheitswesen haben. Damit vielleicht auch auf das Bundessozialamt.

Die österreichische Sozialarbeit befindet sich an einem Wendepunkt ihrer Entwicklung, in einer Phase des Umbaus, der Transformation. Das äußere Zeichen dafür ist die Eingliederung der Qualifikation in das Hochschulwesen. Bis dahin gab es nur ein einziges Qualifikationslevel für Sozialarbeit, und das war der Abschluss einer Akademie.

Die Sozialarbeiterinnen als ausgesprochen weiterbildungswilliges Volk machten und machen Zusatzausbildungen, als PsychotherapeutInnen, als SupervisorInnen, als Mediatoren, in Sozialmanagement und so weiter.

Die Eingliederung ins Hochschulwesen hat 2001 mit dem Start der ersten Fachhochschul-Diplomstudiengänge begonnen. Ein weiterer Meilenstein war das Erscheinen der ersten FH-Absolventinnen und Absolventen auf dem Arbeitsmarkt im Vorjahr.

Heuer folgt der nächste Meilenstein, nämlich der Start der ersten Bachelor-Studiengänge in Graz, Linz und St.Pölten. Dem werden Master-Studiengänge folgen, und damit eine Hierarchisierung der Qualifikation für die Soziale Arbeit.

Damit nicht genug, sind bereits die ersten Doktoratsstudiengänge in Sozialarbeitswissenschaft in Vorbereitung.

Sie sehen, eine vermeintliche Mauerblümchenprofession ist im Umbau begriffen. Sie wird in absehbarer Zukunft über ExponentInnen auf fast allen akademischen Levels verfügen.

Das sollte Auswirkungen auf die gesamte Profession haben. Die beiden wichtigsten Auswirkungen werden sein:

  • die Sozialarbeit wird einen forschenden und lehrenden Braintrust haben, der sich mit der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Grundlagen und der Handlungskonzeptionen beschäftigt.
  • Lernbegierige SozialarbeiterInnen müssen nicht mehr die Disziplin wechseln, wenn sie weiterstudieren wollen.

Die kommende Verwissenschaftlichung der Sozialarbeit schickt ihre Vorboten bereits voraus. An den FHs beginnt sozialarbeitsspezifische Forschung, eine hochrangige österreichische Fachzeitschrift mit einem internationalen wissenschaftlichen Beirat ist in Vorbereitung. Und dann gibt´s noch die Tendenzen in Theorie und Handlungskonzeptionen der Sozialarbeit, die ich Ihnen heute vorstellen werde.

Warum erzähl ich Ihnen das alles? Sie sollen verstehen, dass Ihre Sozialarbeitskolleginnen in ihrem professionellen Umfeld mit Veränderungen konfrontiert sind, wie es sie in dieser Größenordnung in der österreichischen Sozialarbeit noch nie gegeben hat.

In Österreich: das heißt, dass das, was sich hier abspielt, keineswegs ohne Beispiel ist. Denn zum Beispiel in den USA ist Social Work längst auf den Universitäten etabliert, und sozialarbeitswissenschaftliche Forschungsjournale gibt es in den USA und Großbritannien in großer Zahl.

Doch nach dieser Einleitung will ich auf die eigentliche Frage kommen, die Anlass für dieses Referat ist. An den wissenschaftlichen Beirat wurden eine Anfrage gestellt, die sowohl auf die historische Entwicklung als auch auf die aktuellen Tendenzen der Sozialen Arbeit zielt. Kurz gefasst wollten die Anfrager folgendes dargestellt wissen:

  • Entwicklung der Methoden bis zum aktuellen Stand (Schwerpunkte)
  • Strömungen und Trends (Überblick)

Eine titanische Aufgabe für ein relativ kurzes Referat. Ich habe mich darauf vorbereitet und habe versucht, die praxiswirksame Diskussion der letzten 90 Jahre in Österreich mit dem Schwerpunkt Österreich in einer Tabelle zusammenzufassen.

Ich hab ja ein Problem mit solchen Tabellen, denn sie müssen mehr unberücksichtigt lassen, als sie zeigen können. Ich entschuldige mich also bei all jenen Strömungen, jenen Autorinnen und Praktikerinnen, die hier einen Platz finden sollten, aber nicht finden können.

Es fällt auf, dass die Sozialarbeit eine Profession ist, die sehr spät auftritt. Sie ist ein Kind des 20. Jahrhunderts, ein Kind der Moderne. Und ihre Gründungsmütter waren Praktikerinnen und Wissenschafterinnen, die im Weltbild der bürgerlichen Frauenbewegung verankert waren. Ilse Arlt, Wienerin, gehörte zu jenen, die die inhaltlich interessantesten Beiträge zu einer frühen Theorie der Sozialarbeit geleistet haben.

Am Beginn der Professionalisierung stand die Leistung der sogenannten Sozialen Diagnose. Die Sozialarbeit sollte jene große Lücke füllen, die eine körperfixierte Medizin und eine logischerweise auf innerpsychische Vorgänge fokussierte Psychologie offenließen: Die Beschäftigung mit der Einbindung der Menschen in ihre soziale Umwelt, ihre Probleme mit der Meisterung des alltäglichen Lebens. An diesem Anspruch hat sich bis heute nichts geändert.

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde die Soziale Arbeit durchgebeutelt wie die gesamte Gesellschaft. Sie rezipierte alle wichtigen Strömungen der Sozialwissenschaften und der Psychologie, und sie war den politischen Verwerfungen ausgesetzt. Das rote Wien wollte Fürsorgerinnen als brave Erfüllungsgehilfinnen der Tandlerschen Volksgesundheitspolitik.

Gleichzeitig brachte August Aichhorn als Schüler Sigmund Freuds revolutionäre Neuerungen in der Erziehungsberatung und der Arbeit mit Verwahrlosten.

Dann war da das Desaster der Teilnahme vieler Fürsorgerinnen an den nationalsozialistischen Auslesemaßnahmen. Sie schickten zahllose behinderte Menschen, Roma/Romni, Sinti und sogenannte Asoziale in den Tod.

Nach der Niederlage des Nationalsozialismus bestimmten Rückkehrerinnen – in Österreich vorwiegend aus dem britischen Exil – die Entwicklung. Sie brachten ein zutiefst demokratisches Verständnis einer Sozialarbeit mit, die bestimmt war durch den Respekt vor dem Individuum und einem leidenschaftlichen Engagement für eine demokratische und soziale Gesellschaft. Sie verbreiteten das sogenannte Case Work, eine gesprächs- und verständnisorientierte Form der Sozialen Arbeit. Die verband sich mit einem „hands-on-approach“, also einer Orientierung auf zupackende Hilfe, wie sie ja die gute Seite der klassischen Fürsorgerinnen war.

Die Auswirkungen der 68er-Bewegung zeigten sich in einem Erstarken von Ansätzen der Gemeinwesenarbeit: Sozialarbeit als eine Technologie zur Organisation von demokratischer Beteiligung. Allerspätestens zu diesem Zeitpunkt sprengte die Sozialarbeit mit der Breite ihres Anspruchs, mit der Qualität ihrer theoretischen Reflexionen den lächerlichen Ausbildungsrahmen von bloß 2-jährigen Lehranstalten abseits vom Hochschulwesen.

Nun zeigten sich Auswirkungen der besonderen österreichischen Situation: Während die Studierendenzahlen auf den Universitäten (auch beim Psychologie-Studium) explodierten, gab es limitierte Studienplätze in den Akademien für Sozialarbeit und den fortdauernden Ausschluss der Sozialarbeit aus dem Hochschulwesen. SozialarbeiterInnen, die sich weiterbilden wollten, waren fast ausschließlich auf therapeutische Angebote angewiesen. Und als fortbildungswillige Profession nahmen sie diese Chancen wahr. Eine Folge war die Verunsicherung der eigenen professionellen Identität – und in der Praxis ein sinkendes Verständnis der eigenen Leistung. Psychotheerapie erschien als „der eigentliche Stoff“. Die humanistische Psychologie und dann die systemischen Therapieformen wurden angeeignet.

Diesbezüglich brachten die 90er-Jahr eine Wende. Ohne die Therapeutisierung ganz zu verdrängen, bildete sich mit den Weiterbildungsschienen zum Sozialmanagement eine antitherapeutische Richtung. Hier wurde Sozialarbeit als Organisationsarbeit verstanden, als eine betriebswirtschaftlich informierte Form der Realisierung wirksamer sozialer Dienstleistungen. Sozialmanagement brachte endgültig den Anspruch der professionellen Sozialarbeit, im wachsenden Sozialwesen eine führende Rolle zu spielen.

Erst spät wurden in Österreich Case Management und die Lebensweltorientierung rezipiert, zwei bestimmende Ansätze in der deutschen Sozialen Arbeit. Beide verbinden den Anspruch, bei der Organisation des Sozialen mitzureden, mit einer konsequenten Ausrichtung an den individuellen Bedürfnissen des Klientels. Die praktischen Konzepte könnten allerdings unterschiedlicher kaum sein. Während Case Management auf eine Kooperation der Institutionen zielt, hat Lebensweltorientierung die Schwierigkeiten des Verstehens der letztlich fremden sozialen und individuellen Welten im Blick.

Jetzt sind wir endlich bei der Gegenwart angelangt, also bei der zweiten Frage, die mir gestellt worden ist. Sie erinnern sich: Entwicklung bis zum heutigen stand war die erste Frage, aktuelle Strömungen und Trends die zweite. Für die historische Zeittafel habe ich die gegenwärtigen Tendenzen der Methodik auf zwei Punkte zusammengefasst: Sozialraumorientierung und Soziale Diagnostik. Sie werden bemerken, dass die Sozialarbeit nach 90 Jahren wieder dort ankommt, wo sie an ihrem Ausgangspunkt schon einmal war. Diagnostik wird wieder zum Thema, allerdings – wie könnte es anders sein – auf einem anderen Niveau, als dies zu Zeiten von Mary Richmond möglich war. Man hat also etwas dazugelernt.

Nun also zu den derzeitigen Tendenzen in der Sozialarbeit.

Ich werde 5 Entwicklungslinien kurz skizzieren, und zwar sind das

  • Case Management
  • Sozialraumorientierung
  • neue Soziale Diagnostik
  • neue Thematisierung von Arbeit im Zwangskontext und mit Widerstand
  • neuere Gesprächsführungstechniken


Case Management

Beginnen wir mit Case Management. Das ist eine Reaktion auf Wachstumsprobleme des Gesundheits- und Sozialwesens. Die Spezialisierung schreitet munter voran, und während Patientinnen und Klienten früher mit ein bis drei Einrichtungen zu tun hatten, sind es heute oft 7, 8, 9 oder gar mehr professionelle HelferInnen, die an einem Fall gleichzeitig oder nacheinander „dran“ sind. Case Management beruht auf der Idee, eine zentrale Koordinatorin einzusetzen, am besten direkt von der Klientin beauftragt.

Andererseits ist der Case Manager natürlich der finanzierenden Institution verantwortlich.

Der Case Manager sucht auf dem Markt der Dienstleister des Sozial- oder Gesundheitswesens die passenden Hilfen für die Klienten, vermittelt, verhandelt, schließt Verträge und kontrolliert.

Da ist noch ein weiteres Versprechen des Case Managements: Es soll das tun, wofür die meisten Organisationen blind sind: Der Case Manager soll das natürliche soziale Umfeld der Klienten / Patienten einbeziehen und soweit möglich den Klienten dabei unterstützen, von dort auch Hilfe zu bekommen. Die sogenannten „Important Others“ werden in die Pflicht genommen.

Zugegeben, so ähnliches macht Sozialarbeit schon lange. Es gibt einen bedeutenden Unterschied: Der Case Manager muss mit der Vollmacht ausgestattet sein, diese koordinierende Funktion wahrzunehmen. Der schönste Beweis für die Vollmacht ist: Cash. Geld. Knödel. Moos. Verfügungsgewalt über die Mittel. Als Gegenleistung erhält die finanzierende Institution das Versprechen, dass passgenaue Dienstleistungen letztlich billiger sein werden, als unkoordiniertes Werken am Fall.

Damit das funktioniert, braucht es

  • eine politische Entscheidung
  • so etwas wie einen Markt bei den Anbietern von Hilfen
  • und schließlich unabhängige Einrichtungen, die sich um den Konsumentenschutz kümmern.

Neu am Case Management ist auch der klar strukturierte Phasenablauf der Betreuung. Er beginnt mit einer umfassenden Einschätzung der Lebenslage und der Bedürfnisse der Klienten / Patienten. Daraus wird ein Hilfeplan entwickelt, auf dessen Basis dann die verschiedenen Leistungen, die der Klient benötigt, zugekauft oder ausgehandelt und organisiert werden.

In der Monitoring-Phase besteht die Case-Management-Aufgabe in der Beobachtung und Feinsteuerung: Werden die Hilfen ordentlich erbracht?

Schließlich wird bei der Evaluation der Hilfeplan wieder in die Hand genommen und es wird überprüft, ob die angestrebten Ziele tatsächlich erreicht werden konnten. Und so weiter.

Neu am Case Management ist auch die ausführliche Dokumentation des Gesamtprozesses. Kernstück dieser Dokumentation ist der mit dem Klienten ausgehandelte Hilfeplan, der der Gesamtsteuerung des Prozesses dient.

Case Management ist eine aufwändige und doch ökonomische Form der Bearbeitung von komplexen Fällen, von Multiproblemfällen. Seine Einführung scheitert jedoch auch oft. Scheitert, weil keine der beteiligten Organisationen freiwillig Macht an einen koordinierenden Case Manager abgeben will.

Sozialraumorientierung

Kommen wir zur zweiten Tendenz, zur Sozialraumorientierung. Ein seltsames Wort. Wenn man im Internet eine Suche nach Sozialraum startet, dann findet man Links zu Architekten, die Teeküchen in Firmengebäuden gestalten. Das ist nicht gemeint. Unter dem Stichwort Sozialraumorientierung werden einige Herangehensweisen verstanden, die den sozialen Raum im Blick haben: Jenen Raum des gesellschaftlichen Austauschs, in dem Menschen sich bewegen, sich organisieren, einander gegenseitig unterstützen.

Am deutlichsten wird es wohl mit einer Grafik.

Sie sehen hier das soziale Unterstützungsnetz einer Person. Neben der Familie rechts oben gibt es links oben noch die Freunde und Bekannten, links unten die Kolleginnen und Kollegen, und rechts unten die professionellen Helfer. Hier das Netz eines 24-jährigen Studenten. Wie Sie sehen, ist die linke Seite gut bestückt. 21 Freunde/Bekannte, die es auf die Karte geschafft haben.

Und hier oben ist das Netz einer 32-jährigen alleinstehenden Frau, hochqualifiziert und mit einem interessanten Job.

Im Sektor links oben finden sich 25 Personen, links unten 12 gute Kolleginnen und Kollegen. Die Suche wurde frühzeitig abgebrochen. Wenn man genauer nachfragt, kann so ein personenbezogenes Netz 70 oder 100 Personen umfassen.

So ein Netz zu haben, das ist Gold wert. Im Bekanntenkreis kann man für die meisten Alltags- und Lebensprobleme Rat finden. Zumindest kennt eine Bekannte jemanden, der einen kennt, der mir bei der Sache helfen kann.

Der französische Sozialwissenschafter Pierre Bourdieu nannte dieses Vermögen, das in den sozialen Beziehungen steckt, Soziales Kapital. Man kann damit so ähnlich agieren, wie mit Kapital im ökonomischen Wortsinn. Es öffnet mir Wege, und wenn ich viel habe, dann kann ich es leicht vermehren. Hab ich keins, dann ist es nur sehr schwer zu vergrößern. Und: soziales Kapital kann an die nächste Generation weitergegeben werden. Es besteht in den vorhandenen Beziehungen, die wir in den Netzwerkgrafiken darstellen, die Sie soeben gesehen haben. Soziales Kapital besteht aber auch in der Fähigkeit, solche Beziehungen aufzubauen und zu halten.

Ich habe Ihnen bisher die Netzwerke von gut eingebundenen Menschen gezeigt. Nehmen wir jetzt einen 25-jährigen Mann, bei dem sich ein ganz anderes Bild ergibt.

Der junge Mann ist behindert, und abgesehen von den Resten seiner Familie gibt es in seinem Leben nur mehr Profis und Mitklienten, also andere Behinderte, die ebenfalls in der Werkstatt arbeiten. Wir kennen das als einen unerfreulichen Nebeneffekt, als fatale Nebenwirkung dessen, wie unser Sozial- und Gesundheitswesen funktioniert: je mehr Personen mit Hilfseinrichtungen zu tun haben, umso dünner wird ihr natürliches soziales Netz.

Ich zeige Ihnen das noch an einem zweiten Beispiel. Hier: eine junge Frau, gerade mal 20 Jahre alt. Man sollte erwarten, dass es viele Freunde und Freundinnen gibt.

Das Pech von Karin S. lässt sich benennen. Sie hat seit gar nicht so langer Zeit mit einer psychischen Erkrankung zu kämpfen, und bei ihr zeigt sich bereits dieser Effekt: die linke Hälfte ihres sozialen Netzes, die freundschaftlichen und kollegialen Beziehungen verschwinden.

Wir sollten ein schlechtes Gewissen haben, wenn wir uns solche Grafiken anschauen. Solche Situationen werden von uns produziert, von unseren sozialen Einrichtungen, und von denen, die froh sind, wenn unangenehme Menschen ohnehin von den Spezialisten versorgt werden. Wie sie an diesem Netz von Karin sehen, verständigen sich die Spezialisten dann auch noch besonders gern mit den allernächsten Angehörigen der Klientin. Auch das ist kein besonders kluger Schachzug: die allernächsten Angehörigen, oft nur eine oder zwei Personen, werden besonders mit Verantwortung belastet, und das Netz wird noch enger.

So funktionieren spezialisierte und bürokratische Organisationen: Sie kümmern sich um den Fall, und damit meinen sie in aller Regel die Person, deren Name auf dem Aktendeckel steht. Und das erste, das spezialisierten Organisationen als „Lösung“ einfällt, ist immer wieder eine andere spezialisierte Organisation. So vermehren sich die professionellen Helfer in einem Fall sehr rasch. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass das auch noch eine teure Lösung ist – eine scheinbare Lösung. Wessen natürliches soziales Netz ausgedünnt ist, der bleibt auf Dauer abhängig von professioneller Hilfe. Verlorenes soziales Kapital ist nur schwer wieder aufzubauen.

Eine der Maximen sozialraumbezogener Arbeit ist, durch institutionelle Eingriffe möglichst keine Beziehungsabbrüche zu verursachen, sondern im Gegenteil Klienten dabei zu unterstützen, abgebrochene Beziehungen wieder aufzunehmen.

Was wir heute unter Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit verstehen, hat mehrere Komponenten, funktioniert auf 3 Ebenen:

auf der fallspezifischen, auf der fallübergreifenden, und auf der fallunspezifischen Ebene. Fallspezifisch wird mit den Klienten am Erhalt und Aufbau ihres sozialen Netzes gearbeitet. Fallübergreifend werden unterstützende Strukturen geschaffen. Und fallunspezifisch wird an der Förderung des Sozialen Kapitals von Gemeinwesen gearbeitet.

Ich würde ihnen gerne einige Beispiele erzählen, vielleicht habe ich ja dazu in der anschließenden Diskussion die Gelegenheit.

Nun aber zum nächsten Thema, zur neuen Sozialen Diagnostik.

In den letzten Jahren hat die Beschäftigung mit der Diagnostik in der Sozialen Arbeit Konjunktur. Die Anforderungen an eine nachvollziehbare Entscheidungsfindung steigen. Diagnostische Verfahren für die Soziale Arbeit werden definiert, beschrieben und eingesetzt. Eines davon ist die Netzwerkkarte, von der Sie vorhin schon Beispiele gesehen haben. Biografische Verfahren, verschiedene Formen der Visualisierung werden angewendet.

Die Entwicklung diagnostischer Instrumente für die Sozialarbeit und deren zunehmender Einsatz in der Praxis wird das Bild der Sozialarbeit verändern: In Richtung mehr Klarheit und Nachvollziehbarkeit.

Die diagnostischen Verfahren der Sozialarbeit zielen nicht auf Persönlichkeitsdiagnostik, sondern auf das Verhältnis Person / Umwelt. Sie konkurrieren nicht mit der psychologischen Diagnostik.

Ich zeige Ihnen noch einmal diese Grafik. Das ist das Netz von Personenbeziehungen in einer Firma. Und erstellt ist die Grafik mit einer sehr intelligenten Software. Die sogenannte „Social Network Analysis“ ist die Analyse von Netzwerken mit Hilfe von Modellen unter Anwendung soziometrischer Verfahren. Wir beginnen gerade, das für die soziale Diagnostik zu nutzen.

 

Zwangskontext und Umgehen mit Widerstand

Bevor sich hier Widerstand regt, weil ich zu lange rede, mach ich die restlichen beiden Punkte kurz.

Neu thematisiert wird derzeit die Rolle der Sozialarbeit im Kontext staatlichen Handelns. Unter den Titeln „erzwungene Hilfe“ oder „Arbeit mit unmotivierten Klienten“ werden die methodischen Anforderungen neu ausbuchstabiert. Hier handelt es sich nicht um eine völlig neue Strömung in der Sozialen Arbeit, nur um einen nüchternen Umgang mit dem, was ist und sein muss.

Wenn wir von Widerstand sprechen, so muss man auch die neueren Gesprächsstrategien nennen, die eine intelligente Form des Umgangs mit mäßig motivierten Klienten ermöglichen.

In der Sozialen Arbeit werden insbesondere die Lösungsorientierte Kurzberatung nach DeShazer, das Motivational Interview nach Miller & Rollnick und Elemente der provokativen Gesprächsführung mit sehr gutem Erfolg genutzt.

Zusammenfassung

Ich habe Ihnen nun die Entwicklung der Sozialarbeit in Österreich skizziert, wie ich sie sehe. Wo der interdisziplinäre Austausch schon jetzt funktioniert, wird er das wohl auch in Zukunft tun. Es kann aber sein, dass Soziale Arbeit in Zukunft eine stärkere Rolle in der Diskussion spielt, wie Organisationen gestaltet sein müssen, damit sie ihre Ziele erfüllen können. Darin liegt z.B. die Herausforderung des sozialräumlichen Ansatzes.

Ich wünsche Ihnen eine spannende Zukunft. Herzlichen Dank.