Texte

Die Fallstudie im Sozialarbeits-Studium.

Karin Goger / Peter Pantucek
Herbst 2007

fallwelten

Es gibt einige Wörter, die in der Sozialarbeit allgegenwärtig sind. So allgegenwärtig, dass sich kaum jemand die Mühe macht, sie zu definieren und sich konsequent mit ihnen zu beschäftigen. Diese Wörter scheinen sich selbst zu verstehen und von allen verstanden zu werden. „KlientIn“ ist so ein Wort, dem zwar über müßige Debatten und Versuche, es zu ersetzen (KundIn, AdressatIn …) die Selbstverständlichkeit genommen wurde, aber präziser wurde der Begriff inhaltlich dadurch nicht. Ein weiteres weit verbreitetes Vokabel ist „Problem“. Die außerhalb der Sozialpädagogik vorhandene Literatur zum Problembegriff ist noch unzureichend aufgearbeitet, eine Diskussion des Problembegriffs im Studium der Sozialarbeit findet meines Wissens jedoch kaum statt. Schließlich, und das ist der Gegenstand dieses Beitrags, gehört „Fall“ zu dieser Vokabelfamilie.

Der „Fall“, das evoziert Gedanken an „the real thing“, an die Praxis. Der Fall ist das, womit man es wirklich zu tun hat. Studierende begegnen dem echten Fall in ihren Praktika, wo er ihnen von den PraxisanleiterInnen vor Ort ausgedeutet wird. Vorher noch hören sie Erzählungen und Beispiele ihrer LektorInnen. Noch früher machen sie im Auswahlverfahren mit einem sozialarbeiterischen Fall Bekanntschaft, wo sie über eine Fallvignette zu diskutieren haben und sich so erstmals in die zweifelhafte Position der besserwisserischen ExpertInnen begeben müssen – und das noch bar jeder fachspezifischer Kenntnisse.

Was sie hören, wenn sie einen Fall vorgestellt bekommen, sind zuallererst Informationen über eine Situation. Die ProtagonistInnen sind zumindest ein Klient / eine Klientin und eine Sozialarbeiterin / ein Sozialarbeiter. Meist werden auch noch andere Personen, andere MitspielerInnen, genannt. Kaum liegt ein „Fall“ vor, steht schon die Frage im Raum, was denn in diesem Fall zu tun sei. Beim Aufnahmeverfahren erwischt die künftigen Studierenden der Fall zu einem Zeitpunkt, an dem sie noch naiv an die Sache herangehen bzw. sich gerne an dem orientieren, was sie glauben, dass die beobachtenden DozentInnen hören wollen. Wir sehen hier also SozialarbeiterInnen in statu nascendi. Sie zeigen uns die Ausgangsposition, von der aus wir das Curriculum zu planen haben.

Wie diskutieren sie den Fall? Sie haben wenige Informationen, was sie auch gerne bedauern. Die wenigen Informationen hindern sie aber nicht, aus dem Alltagswissen, das meist durch banalisierte psychologische Theorien kontaminiert ist, Kausalhypothesen zu generieren. Sie versuchen eine Erklärung, wieso alles so ist wie es ist. Und dann sammeln sie Möglichkeiten der Überweisung. Nicht, was sie selbst tun könnten, steht im Vordergrund der Überlegungen, sondern wem man für welches Teilproblem die Verantwortung zuschieben könnte. Das ist einerseits verständlich, haben sie doch vom Handlungspotenzial der Sozialarbeit noch keine Ahnung. Das Profil der Sozialarbeit ist wesentlich undeutlicher als das von angrenzenden Berufen. Andererseits verwundert es, dass eine intensivere Kontaktaufnahme mit den KlientInnen nur eher selten auf der Agenda steht. Man sieht: am Fallverständnis muss im Studium intensiv gearbeitet werden. Mangelhafte Lebenserfahrung der StudienanfängerInnen, ihre dürftigen Vorstellungen von dem, was Sozialarbeit ist und sein kann, ist ihnen nicht anzukreiden. Beides muss aber in Rechnung gestellt werden, will man das Studium nicht an den Studierenden vorbei planen.

Der Fall in der Sozialarbeitspraxis

Zumindest für unseren Beitrag hier wollen wir aber die Unbestimmtheit des Fallbegriffs suspendieren. Wir wollen, u.E. korrekterweise, eine Unterscheidung treffen zwischen der Einschätzung der Lebenssituation der KlientInnen und der Einschätzung des Falles[1]. Lebenssituationen sind vorerst keine Fälle. Sie haben ihre eigene Struktur, die sich nicht entlang den Begriffen der Bearbeitungsprogramme, nicht entlang organisatorischer Regeln entfaltet. Die Lebenssituation hat die Person als Zentrum. Die wichtigsten Kontexte sind die soziale Einbindung der Person, der biografische Zeitpunkt, die anstehenden Probleme bei der Alltagsgestaltung.

Diese Lebenssituation ist in der Terminologie der Programme, Verordnungen, Gesetze und der Organisation nicht adäquat zu erfassen. Oder, wie Wolf Rainer Wendt (2007:14) schreibt: „Prekäres Leben – mit sich und miteinander auskommen müssen – bedeutet eine Konkretion, die sich keiner vorgegebenen Einrichtung fügt und so gewissermaßen ´disziplinlos´ bleibt.“

„Fall“ ist ein organisationsbezogener Begriff. Ein Fall entsteht durch die Beschäftigung einer Profession und/oder einer Organisation mit der Lebenssituation von KlientInnen. In die Fallsituation finden die Handlungs- und Entscheidungsprobleme der professionellen Beteiligten Eingang, durch sie wird der Fall wesentlich strukturiert. Die Falleinschätzung umfasst also sowohl die Beurteilung der Dynamik der Lebenssituation, als auch der Logiken des Hilfe- und Sanktionssystems. Einen „Fall“ zu untersuchen, bedeutet also notwendigerweise, die Aktionen der SozialarbeiterInnen und anderer professioneller Akteure ebenso in den Blick zu nehmen, wie die Lebenssituation der KlientInnen. Oder anders gesagt: Die Sozialarbeiterin und ihre Organisation sind immer wichtiger Teil des Falles.

Wenn wir den „Fall“ als Anwendungsfall von Sozialer Arbeit sehen, so kann auch keine Beschränkung auf das gelten, was gemeinhin als „Einzelfall“ bezeichnet wird, nämlich länger dauernde Unterstützungsprozesse mit identifizierbaren Individuen als KlientInnen. Dieser Falltypus ist zwar recht häufig, aber doch nur Teil eines vielfältigen Spektrums der Praxis. Um dieses Spektrum anzudeuten, sei auf die Präambel eines Dokuments der US-amerikanischen National Association of Social Workers hingewiesen:

„<Clients> is used inclusively to refer to individuals, families, groups, organizations, and communities. (…) These activities may be in the form of direct practice, community organizing, supervision, consultation, administration, advocacy, social and political action, policy development and implementation, education, and research and evaluation. Social workers seek to enhance the capacity of people to address their own needs. Social workers also seek to promote the responsiveness of organizations, communities, and other social institutions to individuals' needs and social problems.“ (NASW 1996)

Ein „Fall“ in der Sozialarbeitspraxis kann also sowohl die Kurzberatung einer Besucherin sein, als auch der Umbau des Leistungsprogramm einer Organisation angesichts aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen. Sozialarbeiterischer Fall ist es jeweils insoweit, als darin auf Wissensbestände und Zielvorstellungen der Profession zurückgegriffen wird. Jeder dieser „Fälle“ wird durch (mindestens) eine Problemformulierung inhaltlich vorstrukturiert und harrt einer „Lösung“, mindestens aber einer „Prozedierung“, deren Fachlichkeit beschrieben, beurteilt und diskutiert werden kann.

Wir haben es also in der Sozialarbeitswissenschaft mit einem bereits durch die professionelle Praxis vorbelegten Fallbegriff zu tun. Für die wissenschaftliche Fallstudie wird dieser Fallbegriff vorerst zu akzeptieren sein, was hinzukommt, ist eine spezielle Art der Beschäftigung mit den Fakten des Falles. 

Der Fallbegriff von Fallstudien

Ob es sich bei der Sozialarbeitswissenschaft um eine eigenständige Disziplin handelt, wird bekanntlich kontroversiell diskutiert. Verfügt die Sozialarbeit über eine eigenständige Theorie, einen definierbaren Gegenstand und ein theoretisch begründetes Methodenset? Oder handelt es sich bei der Sozialarbeitswissenschaft lediglich um eine angewandte Soziologie, genauer eine Ausprägung der Professionssoziologie? Oder um eine Spezialform der Pädagogik?

Während der Gegenstand einer Sozialarbeitswissenschaft in Anlehnung an die angewandte Sozialarbeit noch – relativ – klar von dem anderer Disziplinen unterschieden werden kann, so veranlasst die kritische Würdigung der zur Anwendung kommenden Erhebungs- und Auswertungsmethoden doch zu einer gewissen Skepsis, sowohl was die Eigenständigkeit, als auch, was die theoretische Fundierung betrifft. Vielleicht unterscheidet sich die Sozialarbeit hier nicht von akademischen Disziplinen wie der Politikwissenschaft, der Ethnologie u.a. Dennoch: vielfach entsteht der Eindruck, dass sozialwissenschaftliche Methoden in der Sozialarbeitswissenschaft sehr pragmatisch adaptiert und geforderte Qualitätskriterien allzu großzügig interpretiert werden.

Ähnliches geschieht auch mit dem Forschungsansatz der Fallstudie: eine Analyse des sozialarbeitswissenschaftlichen Umgangs mit dem Begriff zeigt, dass scheinbar alles eine Fallstudie ist, was sich in irgendeiner Form mit Fällen befasst. Das Spektrum reicht von didaktisch konstruierten „Case Studies“ bis zum hermeneutisch-forschungsmethodisch beschriebenen „Fallverstehen“ als Vorschlag für eine (vermeintlich einzig dadurch professionelle) Praxis (Heiner 2004; Fischer / Goblirsch 2004, 2005; Möller 2006; Pantucek 2006; Schütze 1993).

Das sozialwissenschaftliche Verständnis sieht Fallstudien als Konzentration auf einen sehr abgegrenzten Untersuchungsgegenstand, anhand dessen allgemeingültige Thesen bis hin zu Theorien entwickelt werden. (vgl. Lamneck 1995; Glaser / Strauss 1967, Ackermann / Owszarski 2000). Fallstudien in der Sozialwissenschaft sind Studien, die sich auf einen Untersuchungsgegenstand – EINE Biographie, EIN Familiensystem, EINE Organisation, EIN Versorgungsnetzwerk – konzentrieren, diesen umfassend analysieren und Deutungen entwickeln, die für vergleichbare Fälle vor einem geteilten gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund ebenso Gültigkeit beanspruchen können.

Eine vom Mitautor dieses Beitrags vorgelegte Konzeption (Pantucek 2006) siedelt sich im Konkretisierungsgrad zwischen diesen beiden Ansätzen an: Die Perspektive einer Fallstudie wird weiter gefasst als die der Case Studies, jedoch enger als die der Fallstudie in der Soziologie. Es wird beansprucht, dass eine Fallstudie etwas mit dem Fallverständnis der angewandten Sozialarbeit zu tun hat.

Genau hier liegt der Unterschied zu Fallstudien in anderen Sozial- oder kulturwissenschaftlichen Disziplinen: Da Soziale Arbeit eben nicht nur Wissenschaft, sondern auch (und vorerst: in erster Linie) professionelle Praxis ist, ist ihrer Wissenschaftsabteilung der Bezug zu dieser Praxis eingeschrieben, ist er konstitutierend für die Disziplin. Als anwendungsorientierte und professionsbezogene Wissenschaft kann Sozialarbeitswissenschaft nicht die Struktur der Praxis ignorieren, ohne Schaden an sich selbst, an ihrer Wissenschaftlichkeit und an ihrer Legitimation zu nehmen. Sie verlöre ihren Gegenstand. Insofern sind sozialarbeitswissenschaftliche Fallstudien wissenschaftliche Betrachtungen von sozialarbeiterischen „Fällen“.

Man könnte davon sprechen, dass SozialarbeitspraktikerInnen eine fachliche Herangehensweise an den „Fall“ erlernt haben müssen, um als ExpertInnen gelten und fachgerecht agieren zu können. Und da zu wissenschaftsbasierter Professionalität die Fähigkeit zur „Beobachtung zweiter Ordnung“ gehört, die Fähigkeit, die eigenen Entscheidungen als kontingent wahrzunehmen, brauchen sie auch eine gewisse Schulung im objektivierenden, nicht von Handlungszwängen belasteten Blick auf die Praxis, auf den Fall. Reflexive Praxis schließt die Möglichkeit ein, zwecks Reflexion zumindest für eine gewisse Zeit die eigenen Handlungszwänge „einklammern“ zu können. Daraus ergeben sich die Berechtigung und die Notwendigkeit des Lernens wissenschaftlicher Fallbetrachtung im Zuge des Studiums. 

Fallverständnis im Studium der Sozialen Arbeit

Was ist zu lernen im Laufe des Studiums? Zuerst lernen die Studierenden den sozialarbeiterischen Blick auf prekäre Lebenssituationen. Dieser Blick stellt Fragen, die auf die Möglichkeit der Veränderung zielen. Er benötigt gleichzeitig eine Distanzierung und eine Hinwendung zur Situation. Distanziert ist er insofern, als die spontanen, dem Alltagswissen entspringenden Kategorisierungen „eingeklammert“ werden müssen. Der Alltagsblick zielt darauf ab, schon anhand weniger Merkmale eine Situation immer schon verstanden zu haben (d.h. sie möglichst schnell als in ihrer Struktur „bekannt“ einzuordnen und so den raschen Zugriff auf Handlungsmuster zu erlauben, die man für Situationen von diesem Typus parat hat). Hier sind schnelle moralisierende Wertungen (Schuldzuschreibungen), klischeehafte Erklärungsmuster und emotionale Positionierungen typisch. Ebenso typisch sind naive Vorstellungen von der Wirksamkeit der Intervention. Diese so praktischen Abkürzungen bei der Einschätzung von Situationen müssen vorerst einmal in Frage gestellt und verlernt werden.

Im Zuge des Studiums und der Praxiskontakte begegnen die Studierenden allerdings einem breiten Angebot für das bloße Ausgestalten des schnell urteilenden Alltagszugangs mit neuen (psychologischen, gruppendynamischen, juristischen, medizinischen) Deutungsmustern. Berufliche Praxis der Sozialen Arbeit ist ja aufgrund des Zeit- und Entscheidungsdrucks ebenfalls auf Abkürzungen, auf das rasche Erkennen von Handlungsmöglichkeiten angewiesen. Insofern unterscheidet sie sich in ihren Anforderungen nicht strukturell von Alltag, insofern greift berufliche Praxis auf – auch fachliches – Alltagswissen zurück.

Unterstützt wird diese bloße Ergänzung alltäglicher Deutungsmuster durch einen Zugang, der vorgibt, die jeweils „richtige“ Lösung für Fälle parat zu haben. Die besteht i.d.R. in einer Ausdeutung als „Fall von“ (z.B. sexuellem Missbrauch, Arbeitslosigkeit, Verschuldung etc.) und dem Aufzählen von Unterstützungsprogrammen, an die anzudocken wäre. Studierende, die sich diesen Modus des Herangehens an Fälle aneignen, können zu jedem Fall Überweisungsmöglichkeiten sonder Zahl nennen und eine Reihe von möglichen „Diagnosen“ (hier handelt es sich meist um Kausalhypothesen zu den vermeintlichen Ursachen der aktuellen Problemsituation). Im Vordergrund steht dabei die Beantwortung der Frage, was denn nun getan werden könne. Das sozialarbeiterische Wissen erscheint dann als Wissen, das zu einer Zuordnung des Falles zu Handlungs- und Unterstützungsprogrammen befähigt, und das diese Zuordnung mit der Passung des Falles zu den Anspruchs- oder Zugangsvoraussetzungen begründen kann. Die Diplomprüfungsfälle in den Akademien hatten meist eine solche Struktur, und ein Wissen dieser Art wurde dabei geprüft. Auch einige der Fälle im Projekt „Telesozial“ waren so gestrickt.

Tatsächlich ist die Zuordnung von Fällen zu materiellen oder anderen Unterstützungsprogrammen ein Aufgabenbereich, der der Sozialarbeit in manchen Feldern zugeordnet wird. Es handelt sich also keineswegs um nutzloses Wissen. Nach unserer Auffassung bliebe Sozialarbeit allerdings weit hinter ihren Möglichkeiten zurück, wenn sie sich darauf beschränken wollte. Die spezifische professionelle Stärke wird u.E. erst dann entwickelt werden können, wenn über die Klassifizierung von Fällen und die Zuordnung zu Unterstützungsprogrammen hinaus die Fähigkeit zu einer reflexiven Durchdringung der Fälle gegeben ist, wenn Sozialarbeit selbst als problemlösende (und nicht nur zur Problemlösung zuweisende) Profession verstanden wird.

Ein solches Professionsverständnis scheint aber keineswegs mehr selbstverständlich zu sein. Mit der technokratisch und bürokratisch pervertierten Rezeption von Case Management-Konzepten hat sich offensichtlich wieder ein Sozialarbeitsverständnis in den Mainstream eingeschlichen, das schon in den 1970er-Jahren überwunden schien[2]. So kann Bernd Dewe (2007:22ff) „klinische“ Sozialarbeit als reflexive, problembearbeitende und „behandelnde“ Version der Profession vorschlagen. Also all das, was im Zuge der Professionalisierung zum eigentlichen Kern der Professionalität gezählt wurde, nun einer Sparte, einer Variante der Sozialarbeit als Aufgabe zuweisen[3]. Wahrscheinlich geschieht das in der Absicht, das Erbe einer nicht-bürokratischen, einer sich der Komplexität individuell-menschlicher Problemlagen zuwendenden Sozialen Arbeit zu retten.  

Wissenschaftliche Fallstudie als Bachelorarbeit

Wir bemühen uns seit einigen Jahren, die Fähigkeit der Studierenden zur Betrachtung von Fällen als „Fälle zweiter Ordnung“ (Hörster 2002) systematisch zu trainieren. Dafür muss es ihnen gelingen, eine Draufsicht auf die Fälle zu gewinnen, und zwar auf Fälle im Sinne des oben beschriebenen Fallverständnisses: Die SozialarbeiterInnen und beteiligte Organisationen werden als konstituierende Teile des Falles gesehen.

Am Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit an der FH St.Pölten pflegen wir mehrere Varianten der Fallanalyse. In den (exemplarisch angebotenen) Lehrveranstaltungen zu den Handlungsfeldern wird an der Erweiterung des Repertoires an Deutungsmustern gearbeitet. Im Unterschied zu früheren Ausbildungsprogrammen besteht allerdings nicht mehr der Anspruch, einen möglichst kompletten Überblick über die Handlungsfelder anzubieten. Vielmehr soll am Beispiel ausgewählter Felder gezeigt werden, wie man sich selbst das erforderliche Wissen aneignen kann, um sich in einem Feld zu orientieren. Im Wesentlichen bleibt das Programm aber konventionell.

In Praxisseminaren und Supervision stehen Selbstbeobachtung und Selbstthematisierung im Zentrum der Aufmerksamkeit, notwendige Elemente von Professionalität.

Als dritte Form der systematischen Beschäftigung mit dem Fall wurde die wissenschaftliche Fallstudie eingeführt. Sie ist als 1. Bachelorarbeit vorgesehen und wird in zeitlicher Nachbarschaft zum langen Praktikum erstellt.

Die wesentlichen Merkmale der wissenschaftlichen Fallstudie im Sozialarbeitsstudium sind:

  • Die Studierenden müssen sich in eine distanzierte Position zum Fall begeben, ihn „von oben“ bzw. „von außen“ betrachten.
  • Sie müssen Fragen formulieren, die anhand der ihnen zur Verfügung stehenden Daten beantwortbar sind.
  • Die Untersuchung hat ergebnisoffen zu sein.
  • Sie müssen ihre Fragen bzw. Hypothesen operationalisieren.
  • Anhand des Bezugs auf Fakten (Daten) ist die Fragestellung zu untersuchen.
  • Die Ergebnisse der Untersuchung sind zusammengefasst mit Bezug auf die Ausgangsfragestellung darzustellen und einzuschätzen.
  • Die Ergebnisse sind zu kontextualisieren, d.h. in ihrer Bedeutung für den Fall in einer ganzheitlichen Betrachtung einzuschätzen.

Wie ersichtlich, sind es übliche Forderungen an eine wissenschaftliche Untersuchung, die hier erhoben werden. Wie wir allerdings aus der Erfahrung einiger (teils misslungener) Lehrveranstaltungen wissen, stößt dieses Programm auf erhebliche Widerstände. Es scheint in der beruflichen Kultur äußerst ungewöhnlich, wird von PraktikerInnen und Studierenden vorerst nicht oder kaum verstanden.

Das äußert sich zuerst einmal in der Ratlosigkeit, was denn überhaupt untersucht werden könnte. Bei ersten Rundfragen dominieren solche Fragen, wie „Wäre eine Fremdunterbringung doch eine bessere Alternative gewesen?“ oder „Wie kann die Sozialarbeiterin hier am besten vorgehen?“. Also Fragentypen, die faktenbasiert kaum zu klären sind. Im ersten Fall wäre ein Nicht-Ereignis zu untersuchen, über das es auch keine Daten geben kann. Im zweiten Fall reicht die Fragestellung in die Zukunft und kann deshalb kaum faktenbasiert beantwortet werden. Beide Typen von Fragestellungen sind in der praktischen Arbeit relevant und sind von praktizierenden SozialarbeiterInnen in Reflexion oder Entscheidungsbegründungen zu beantworten, können Gegenstand von Teamdiskussionen sein und dabei zu einer Optimierung von Fachlichkeit beitragen. Für eine wissenschaftliche Fallstudie sind sie allerdings wenig geeignet und führen i.d.R. weg von den Daten in Richtung Spekulation.

Die Studierenden brauchen beim Finden beantwortbarer Fragestellungen Unterstützung, und diese Unterstützung ist für sie vorerst frustrierend. Sie besteht im konsequenten Wiederholen von Fragen, die ihrerseits die Brauchbarkeit/Operationalisierbarkeit von Fragen zum Thema haben: „Anhand welcher Daten wollen Sie das feststellen?“ „Wie könnten Sie anhand von Ihnen zugänglichen Daten erkennen, dass es nicht so ist, wie Sie vermuten?“.

Das Finden von geeigneten Fragestellungen erfordert die meiste Zeit bei Lehrveranstaltungen, die die Erstellung einer wissenschaftlichen Fallstudie zum Thema haben. Zuerst muss man sich durch den Wust an sich anscheinend von selbst aufdrängenden unbeantwortbaren Fagestellungen durcharbeiten. Und man muss versuchen, die Lähmung der Studierenden zu überwinden, wenn sie aufgrund der vielen Gegenfragen dann allem misstrauen, was ihnen noch einfällt.

Hier hilft es manchmal, den Formulierungsstress rauszunehmen, z.B. mit der Aufforderung, ganz einfach einmal darüber zu erzählen, was sie an diesem Fall interessiert, was sie sich schon dazu gedacht haben. Meist steckt hinter umständlich formulierten Fragen eine recht klare Hypothese oder eine durchaus bearbeitbare Frage. Die wurden nur nicht ausgesprochen, weil sie in ihrer Einfachheit „unwissenschaftlich“ schienen. Aus der Erzählung entspringen dann die geeigneten Hypothesen und Fragestellungen.

Die Studierenden suchen sich gerne einen Fall aus, weil sie eine "heimliche" Hypothese haben, das heißt, dass sie eigentlich schon eine Vorstellung davon haben, was da falsch gelaufen ist oder was das "typische", das "charakteristische" Element in diesem Fall ist. Wenn sie verquaste Fragestellungen formulieren, dann hilft gelegentlich folgende Aufforderung: "Eigentlich haben sie ja schon eine Einschätzung von der Sache und haben eine Vorstellung, was da schief gegangen ist (oder was da warum besonders gelungen ist). erzählen sie mir davon." oder einfacher: "Sie haben im Hinterkopf einen Grund, warum sie gerade diesen Fall untersuchen wollen. Was ist dieser Grund?". Dann erzählen sie davon (meist haben sie sowas, und wenn sie´s nicht haben, haben sie wirklich schon eine Frage). und dann sagt man: "Sehen Sie, das ist schon eine erste Hypothese. Schaun wir uns an, wie sie die untersuchen könnten.“ Als Hypothese gilt hier eine Annahme über Zusammenhänge, über Kausalbeziehungen. und die kann untersucht werden, quantitativ oder qualitativ.

Mit der Forderung nach einer ersten Frage sind viele Studierende also überfordert. Gemäß methodologischen Lehrbüchern mag dieser Weg über die Frage zur Forschungsmethode zwar der korrekte sein, aber er scheitert oft genug an der geringen Erfahrung der Studierenden, welche Fragen denn überhaupt bearbeitbar sein mögen. Logischerweise haben sie noch keine erfahrungsgestützte Phantasie bei der Entwicklung eines Forschungsdesigns.

Zumal Studierende die Gegenstände ihrer Fallstudien aus ihren Praktika mitbringen, wo sie mit dem Handlungszwang der angewandten Sozialarbeit konfrontiert sind, stellt es sich für sie besonders schwierig dar, eine BeobachterInnenrolle einzunehmen. Die Beobachtung zweiter Ordnung wird zwar rational als Konzept durchwegs verstanden, in der Umsetzung spiegelt sich aber die Handlungslogik der PraktikerInnen wider. Hier bedarf es eines wiederholten Innehaltens und der Reflexion des bisherigen Forschungsvorgehens (bestenfalls in einem Team / einer Gruppe), wie es die qualitative Methodenlehre der Sozialwissenschaften durchwegs empfiehlt. Die Einübung der Differenzierung zwischen den beiden Perspektiven zeigt positive Effekte nicht bloß für die sozialarbeitswissenschaftliche Methodenkompetenz, sondern auch für die Handlungspraxis von SozialarbeiterInnen – indem der Anspruch des (hermeneutischen) Deutens und Verstehens vor den der normativen Bewertung gestellt wird.

Ein weiteres Hindernis stellen die Daten dar. Die (wenigen) forschungsmethodologischen Lehrveranstaltungen an den Studiengängen Soziale Arbeit beschränken sich meist auf Standardmethoden wie Interviews und Fragebogenerhebungen, eher selten wird der Umgang mit vorgefundenen Daten geübt. So entsteht bei Studierenden der Eindruck, „wissenschaftlich“ zu arbeiten bedeute zwangsläufig auch die Produktion von Daten über solche Verfahren, was besonders dort eher gekünstelt wirkt, wo es eigentlich jede Menge vorfindliche (allerdings i.d.R. noch ungeordnete bzw. nicht aufbereitete) Daten gibt, wie z.B. Erzählungen, Beobachtungen, Dokumentationen, Artefakte. Hier gilt es, die Studierenden zu ermutigen, auf das zurückzugreifen, was ohnehin vorhanden oder leicht zu beschaffen ist.

Als hilfreich erweist es sich, den Studierenden Beispiele für die Aufbereitung und Strukturierung von Daten zu geben: die Anordnung von Kontaktdaten auf einer Zeitleiste; die Erstellung von Listen über fallbeteiligte Personen, über behandelte Themen; die Umwandlung von Beobachtungen in schriftliche Daten durch Protokollierung und so weiter[4]. Schließlich ist genau das ja wesentlicher Teil eines wissenschaftlichen Habitus: der Versuch, das Vorfindliche vorerst einmal zu sortieren, um im sortierten Material dann nach Strukturmerkmalen suchen zu können.

Eine zweite Strategie, den Studierenden den Einstieg in eine wissenschaftliche Fallstudie zu erleichtern, besteht also in einer Umkehrung des hehren methodologischen Prinzips. Zuerst werden Möglichkeiten der Datenstrukturierung vorgeschlagen, dann ergeben sich vielleicht Fragestellungen von selbst.

Daraus ergibt sich als Forderung an die Lehrenden, das Methodenspektrum deutlich zu erweitern. Kompetenzen in der Durchführung von narrativen Interviews, Gruppendiskussionen bzw. Fokusgruppen sind ebenso zu vermitteln wie die Analyse von bereits vorhandenen Dokumenten. Darüber hinaus stellt sich die Beschränkung auf schriftliche Texte als Datenmaterial dort als nachteilig dar, wo es um die Untersuchung von Lebenswelten geht: Anzuregen ist eine Auseinandersetzung mit ethnografischen Herangehensweisen ebenso wie das Heranziehen von visuellen Daten wie Bildern, Filmen u.ä. Insbesondere in Zusammenhang mit der Gemeinwesenarbeit lohnt sich aus unserer Sicht auch die Anwendung von Sozialraumanalysen (inklusive Begehungen, dem Wahrnehmen und Interpretieren von öffentlichen / privaten Räumen[5]) .

Bei den Auswertungsmethoden lohnt sich eine Erweiterung des zur Anwendung kommenden Spektrums, und zwar nicht so sehr im Sinne methodologisch „korrekter“ Verfahrensweisen, als vielmehr im Sinne einer respektvollen Würdigung des Datenmaterials, dem Mut zur Deutung und Interpretation und der Verabschiedung von Legitimationsansprüchen bzw. normativen Bewertungsansprüchen.

Die Fragestellungen, die Studierende bei der Umsetzung von Fallstudien interessieren, sind vielfältigst und beinhalten eine Fülle an Erkenntnissen sowohl für vertiefte wissenschaftliche (beispielsweise im Rahmen von Diplomarbeiten) als auch anwendungsbezogene Auseinandersetzungen:

Studierende interessieren sich dafür,

  • wie sich Prinzipien der Sozialarbeit (z.B. die Ressourcenorientierung) in einer konkreten KlientIn-SozialarbeiterIn-Beziehung darstellen,
  • wie es einzelnen KlientInnen gelingt ganze Teams an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit zu manövrieren
  • auf welches professionelle Handlungsrepertoire zurückgegriffen wird wenn standardisierte Verfahren fehlen (z.B. Wie gehen SozialarbeiterInnen mit Fällen von Erziehungsschwierigkeiten um, wenn Eltern ihre jugendlichen Kinder fremdunterbringen lassen wollen)
  • wie SozialarbeiterInnen ihre Tätigkeit dokumentieren und welche Relevanzsysteme sich daraus ableiten lassen
  • welche Erwartungen SozialarbeiterInnen an die Interventionen anderer Professionen haben und inwiefern diese in Zusammenhang mit Überforderungserscheinungen oder methodischen Unsicherheiten stehen (z.B. Welche Effekte auf die Beziehungsgestaltung zwischen KlientIn und SozialarbeiterIn werden Psychopharmaka zugeschrieben?)
  • wie belastende Lebensereignisse (z.B. Scheidung) als nutzbringende Veränderung genutzt werden können
  • welche Faktoren für Problemlösungen von Einfluss sind (z.B. Welche Faktoren haben den Ausstieg aus der Sucht im Fall Anna unterstützt?)
  • wie sich strukturelle Bedingungen (z.B. hohe Personalfluktuation) auf die Qualität des beruflichen Handelns auswirken
  • wie SozialarbeiterInnen relevante Begriffe, respektive Tatbestände, operationalisieren um Entscheidungen hinsichtlich ihres professionellen Handelns zu treffen (z.B. Selbstgefährdung / Fremdgefährdung)
  • wie es KlientInnen gelingt, trotz einer Vielzahl von Benachteiligungen und Einschränkungen, den Ansprüchen von Funktionssystemen / Lebenswelten gerecht zu werden („Wie ist es Herrn Moser gelungen, trotz seiner psychischen Erkrankungen  über längere Zeit ein Arbeitsverhältnis aufrechtzuerhalten?“)
  • welche Strategien Einrichtungen entwickeln um den Förderbedingungen ihrer GeldgeberInnen genüge zu tun („Wie gehen Sozialökonomische Beschäftigungsprojekte mit der Erhöhung der Vermittlungsquote als Förderkriterium um?) und welche Auswirkungen dies für die Arbeit mit den KlientInnen hat (Im genannten Beispiel: „Nach welchen Kriterien erfolgt die Aufnahme in das Beschäftigungsprojekt?“)

All diese Fragestellungen bieten bei einer nachvollziehbaren und vor allem evidenzbasierten Analyse Erkenntnispotenziale, die über den einzelnen Fall hinaus gehen, also verallgemeinerbar sowohl für Praxis als auch Forschung sind.

Wie bei allen Vorhaben der Sozialarbeit braucht es dazu einen begleiteten Rahmen für die Reflexion der Vorgehensweise, den wir an der FH St. Pölten nun durch eine spezifische Lehrveranstaltung zur Verfügung stellen. Wir sind gespannt auf die zukünftigen Fallstudien.

 

Literatur

Ackermann, Friedhelm / Owczarski, Silke (2000): Soziale Arbeit zwischen Allmacht und Ohnmacht. Eine exemplarische Fallrekonstruktion zur Logik sozialarbeiterischen Handelns. In: Kraimer, Klaus (2000): Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Frankfurt am Main. 321-344

Castel, Robert (2001): Von der Gefährlichkeit zum Risiko. Auf dem Weg in eine post-disziplinäre Ordnung?. In: episteme. Online-Magazin für Philosophie und Praxis: http://www.episteme.de/htmls/Castel.html.

Dewe, Bernd (1997): `Klinische Soziologie´ als Orientierungsrahmen für die Sozialpädagogik. Fallbezug, Strukturdeutung und Wissensnutzung qua Verfahren. In: Jakob, Gisela / von Wensierski, Hans-Jürgen (Hg.): Rekonstruktive Sozialpädagogik. Konzepte und Methoden sozialpädagogischen Verstehens in Forschung und Praxis. Weinheim und München. S. 61-76.

Dewe, Bernd (2007): Reflexive Professionalität als Perspektive moderner Sozialarbeit. In: Sozialarbeit in Oesterreich - SiO Nr. 2/2007.  S. 22-27.

Fischer, Wolfram / Goblirsch, Martina (2004): Konzept und Praxis der narrativ-biographischen Diagnostik. In: Schrapper, Christian (Hrsg.) (2004): Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe. Anforderungen, Konzepte, Perspektiven. Weinheim und München. 49-59

Flaker, Vito / Schmid, Tom (Hg.) (2006): Von der Idee zur Forschungsarbeit. Forschen in Sozialarbeit und Sozialwissenschaft. Wien

Glaser, Barney / Strauss, Anselm (1967): Grounded Theory. Bern

Heiner, Maja (2004): Fallverstehen, Typen der Falldarstellung und kasuistische Kompetenz. In: Hörster, Reinhard / Küster, Ernst-Uwe / Wolff, Stephan (2004): Orte der Verständigung. Beiträge zum sozialpädagogischen Argumentieren. Freiburg im Breisgau. 91-108

Hörster, Reinhard (2002): Sozialpädagogische Kasuistik. In: Thole, Werner (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Opladen. S. 549-558.

Hörster, Reinhard (2005): Kasuistik / Fallverstehen. In: Otto, Hans-Uwe / Thiersch, Hans (Hg.) (2005): Handbuch Sozialarbeit Sozialpädagogik. 3. Auflage. München. 916-926

Kraimer, Klaus (2000): Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Frankfurt am Main.

Lamnek, Siegfried (1995): Qualitative Sozialforschung. Band 2. Methoden und Techniken. 3. korrigierte Auflage. Weinheim. 4-34

Müller, Burkhard (2006): Sozialpädagogisches Können. Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit. 4. vollständig überarbeitete Auflage. Freiburg im Breisgau.

National Association of Social Workers - NASW (1996): Code of Ethics. Washington D.C..

Pantucek, Peter (2005): Soziale Diagnostik. Verfahren für die Praxis Sozialer Arbeit. Wien und Köln.

Pantucek, Peter (2006): Fallstudien als “Königsdisziplin” sozialarbeitswissenschaftlichen Forschens. In: Flaker, Vito / Schmid, Tom (Hg.): Von der Idee zur Forschungsarbeit. Forschen in Sozialarbeit und Sozialwissenschaft. Wien. 159-177.

Schütze, Fritz (1993): Die Fallanalyse. Zur wissenschaftlichen Fundierung einer klassischen Methode der Sozialen Arbeit. In: Rauschenbach, Thomas / Ortmann, Friedrich / Karsten, Maria-E. (Hrsg.) (1993): Der sozialpädagogische Blick. Lebensweltorientierte Methoden in der Sozialen Arbeit. Weinheim und München. 191-221 



[1] Unter den vielen Ungenauigkeiten in der wissenschaftlichen Diskussion der Sozialarbeit sticht die Ungeklärtheit des Fallbegriffs hervor und ist m.E. besonders folgenreich. Die mangelnde Unterscheidung zwischen der Lebenssituation der KlientInnen und dem Bedingungsgefüge, das sich aus der Tatsache der organisatorischen Beschäftigung damit ergibt, behindert eine saubere Unterscheidung zwischen den beiden Logiken. Weil für das sozialarbeiterische Handeln die organisatorische Realität stets bedeutender ist – an ihr hängt schließlich die berufliche Zukunft der Profis – bedeutet diese Nicht-Unterscheidung in der Praxis eine tendenzielle Missachtung der Eigendynamik der Lebenssituation der KlientInnen. Ansätze zu einer differenzierteren Betrachtung des Fallbegriffs finden wir bei Burkhard Müller (2006) mit seiner Unterscheidung zwischen „Fall für ...“, „Fall von ...“ und „Fall mit ...“.

[2] Vielleicht erklärt sich dadurch auch das verdächtige Interesse mancher an der nun lebendigen Diskussion zur sozialen Diagnostik. Während z.B. meine Arbeiten zum Thema (Pantucek 2005 und 2007) sich mit Diagnose als Mittel zur Verbesserung des sozialarbeiterischen Hilfsprozesses beschäftigen, wollen viele Trägerorganisationen des Sozial- und Gesundheitswesens die Diagnostik als objektivierte Zuweisungsverfahren, die eine abwägende Falleinschätzung durch sozialarbeiterische Fachkräfte ersetzen oder hinreichend vorstrukturieren sollen. Die ExpertInnen als „Schwachstelle“ eines technokratischen Kalküls sollen dadurch in die Schranken gewiesen werden (vgl. dazu z.B. den klassischen Artikel von Castel 2001).

[3] Originellerweise hat der selbe Autor zehn Jahre zuvor „klinische Soziologie“ als Orientierungsrahmen für die Sozialpädagogik empfohlen (Dewe 1997).

[4] Einige der in Pantucek (2005) vorgeschlagenen Notationssysteme eignen sich dazu, z.B. die Personalliste und das Ablaufdiagramm Interventionsgeschichte,

[5] Beispiele: Was lässt sich aus der Gestaltung eines Jugendzimmers über die Lebenswelt des / der Jugendichen herauslesen? Was lässt sich aus der Einrichtung eines Sozialen Dienstes über Werte, Arbeitsabläufe etc. ableiten?