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Transparente Körper, transparente Individuen, transparente Gesellschaft?

Referat auf der Tagung "Produzieren die Neurowissenschaften den gläsernen Menschen?", Hospitalhof Stuttgart, 18./19. April 2008.

 Sehr geehrte Damen und Herren,

Die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren einiges an Aufmerksamkeit bekommen. Durchaus zu Recht, denn auch sie konnten mit den neuen technischen Möglichkeiten Untersuchungen realisieren, die vor nicht allzulanger Zeit noch undenkbar gewesen wären. Das Wissen über den Aufbau und die Funktionsweise des Gehirns zum Beispiel hat sich deutlich verbessert, und als Sozialarbeiter kann ich das mit Interesse, aber auch mit etwas Gelassenheit verfolgen. Denn noch, so scheint mir, wird das, was wir bisher schon über die Bedingungen der Lebensführung wussten, nicht wesentlich in Frage gestellt.

Und trotzdem kommt man der Diskussion nicht aus: Denn einige Neurowissenschafter geben uns Ratschläge. Gut, reden wir darüber.

Ich weiß, ich begebe mich auf sehr schwieriges Terrain. Ich versuche einem überzogenen Deutungsanspruch zu begegnen, wie ihn einige Biowissenschaften heute erheben. Um den zurückweisen zu können, muss ich selbst über die Grenzen hinausschauen, die mir mein wissenschaftlicher Schrebergarten setzt. Dieser Schrebergarten ist die Sozialarbeitswissenschaft, eine junge professionsbezogene Wissenschaft von den Möglichkeiten und Untiefen organisierter Hilfe. Es ist ein heikles Unterfangen, sich auf fremdes Terrain zu begeben. Es kann leicht sein, dass man dort die Orientierung verliert. Ich nehme das in Kauf, und hoffe, dass aus den Begegnungen Irritation und Orientierung gleichermaßen erwächst.

Folgt man der Diskussion zu den Biowissenschaften, vor allem in den letzten Jahren zur Hirnforschung, so findet man immer wieder einen Vorwurf: Einige Vertreter der modernen Biowissenschaften neigen in ihrer Euphorie über reale Erkenntnisfortschritte dazu,  die Erklärungskraft ihrer Ansätze zu überschätzen. Ich ergänze: Vielleicht sind sie dabei aber auch bloß realistisch. Vielleicht schätzen sie die Aufnahmebereitschaft der Organe des Staates für neue Mittel der Steuerung des Unkontrollierbaren, der Kontrolle von Menschen und Gesellschaft ganz richtig ein. Vielleicht ist das Thema weniger ein wissenschaftliches, als ein politisches.

In dem Maße, in dem WissenschafterInnen auf Basis ihrer Forschungen Vorschläge für die Gestaltung der Gesellschaft unterbreiten, wird es Einspruch und Diskussion geben müssen. Ich formuliere meinen Einspruch als Sozialarbeiter, als Sozialwissenschafter und als Bürger. Und ich formuliere ihn vor einem historischen und Erfahrungs-Hintergrund, den ich gerne offen legen will.

Staatskritik und Fortschrittsoptimismus

Als ich in den 1970er-Jahren Sozialarbeit studierte, erregte uns die Frage, ob Menschen durch Vererbung oder durch Sozialisation ihr Verhalten herausbilden. Ich war natürlich auf der „richtigen“ Seite in dieser Auseinandersetzung. Als angehender Sozialarbeiter musste ich annehmen, dass mein künftiges Wirken Sinn haben könnte. Menschen seien von Natur aus gleich und zum Guten fähig. Der damalige Streit war auch ein Streit über eine wünschenswerte Gesellschaft. Die Übel der Menschheitsgeschichte seien durch eine vernünftige und demokratische Organisation des Gemeinwesens zu beseitigen. Der österreichische Justizminister sprach von der Vision einer gefängnislosen Gesellschaft, der Bundeskanzler von einer Durchflutung aller gesellschaftlichen Bereiche mit Demokratie. Ich wurde, wie gar nicht so wenige meiner Studiengangskolleginnen und –Kollegen für die Kommunistische Partei aktiv.

Wir sahen das als Fortführung des Projekts der Aufklärung, als die vernünftige Option, im Gegensatz zur unvernünftigen der extremen bzw. terroristischen Linken. Wir kritisierten den vorfindlichen Staat als ungerecht, repressiv und undemokratisch, hatten aber eine positive Staatsvision: die Vision eines gerechten, partizipativen und demokratischen Staates.

Man kann sicher unsere damalige Naivität kritisieren, unsere Weigerung, die Realität der kommunistisch regierten Länder zur Kenntnis zu nehmen. Fakt bleibt, dass für uns der Marx´sche Satz, dass das Menschliche Wesen das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse sei, zentral für unser Menschenbild war. Oder, wie der Satz aus den Feuerbachthesen genau lautet: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“

Das war ein optimistischer Satz. Die gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden wir im Gegensatz zum Erbgut als formbar und veränderbar. Das Projekt schien riesengroß, aber machbar. Im Ergebnis sollte es eine Gesellschaft der Freien und Gleichen geben, in der Verbrechen keinen Vorteil mehr brächte. Einen „Verein freier Menschen“  oder „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.

Das hatte Folgen für das Verständnis unserer Profession. Sollte man den KlientInnen die Schuld für ihre missliche Lage geben? Waren ihre Körper, ihr Gehirn der Ort, an dem die Ursache für ihren sozialen Ausschluss, für ihre Delinquenz und/oder Armut zu suchen und zu beseitigen wären? Nein. Sozialer Ausschluss wurde als Funktion der Gesellschaft verstanden. So war es klar, dass stets auch die soziale Umwelt zu bearbeiten sei, wenn sich individuelle Lebenslagen verbessern sollten. Beratung war zu verstehen als eine Beratung der KlientInnen im Umgang mit ihren körperlichen, vor allem aber sozialen Rahmenbedingungen, als Hilfe bei der Wahrnehmung ihrer wohlverstandenen Interessen. Und diese Interessen schienen klar auf der Hand zu liegen.

Naja, klar auf der Hand lagen sie vor allem für uns, unsere KlientInnen waren da keineswegs immer der gleichen Meinung. Trotzdem: sie erhielten von uns einen Vertrauensvorschuss, wir nicht immer von ihnen. Unter diesen meinen Klientinnen und Klienten waren Pädophile, Gewalttäter, Männer und Frauen, die ihre Kinder schwerstens vernachlässigten, zur Prostitution zwangen. Darunter waren jugendliche Delinquenten, Schulverweigerer, Kinder, die ihre Geschwister quälten. Und es waren viele ganz einfach arme, mit der Lebenführung und der Kindererziehung überforderte Menschen darunter.

Einige Kinder mussten in Heime, Wohngemeinschaften, zu Pflegeeltern gebracht werden, bei einigen von diesen waren auch die Einrichtungen der Ersatzerziehung überfordert.

Ganz ohne Gehirnscan war klar, dass unter diesen Bedingungen des Aufwachsens schwere und nur bedingt reversible Schädigungen der Kinder wahrscheinlich sind.

Was konnte man tun? Ich arbeitete an einem Jugendamt, an das ich immer noch mit Respekt zurückdenke. Im Team fanden sich eine Reihe ganz ausgezeichneter Kolleginnen und Kollegen, und wir versuchten die Schwelle so niedrig wie möglich zu machen. Es sollte ein leichtes sein, sich an uns zu wenden, und wir sollten rasche Unterstützung anbieten.

Dass frühe Gewalterfahrungen, dass anregungsarme und lieblose Umgebung, dass die Unfähigkeit der Eltern, das eigene Leben zu bewältigen, die Entwicklungs-Chancen der Kinder dauerhaft ruinieren können, das wussten wir längst. Entwicklungspsychologie, Sozialisationstheorie, die Psychoanalyse usw. hatten dazu schon genügend Befunde angesammelt, und wir erlebten die Fallbeispiele Tag für Tag, so wie die Kolleginnen, die jetzt in den Jugend- und Sozialämtern, in den verschiedensten Beratungs- und Betreuungseinrichtungen arbeiten, es ebenfalls täglich erleben.

Gleichzeitig war aber klar, dass dieses Wissen allein nicht für eine Lösung ausreicht. Zum einen benötigte und benötigt man eine Technologie der Annäherung an die KlientInnen, um sie zu erreichen, um jenen Teil ihrer Persönlichkeit, der sich gegen die Verelendung zur Wehr setzen kann, zu erreichen. Solche Techniken der Kommunikation und der Beziehungsgestaltung gibt es, wir setzten und setzen sie ein.

Dann müssen die Umwelten so verbessert werden können, dass die Chance auf ein besseres Leben besteht. In Zeiten der ökonomischen Tristesse, der Chancenlosigkeit für wenig fitte Leute, ist das sehr schwierig.

Und schließlich, wenn Kinder aus ihrer Herkunftsfamilie genommen werden müssen, benötigt man die Unterstützung der Gerichte, und man benötigt Heime, Wohngemeinschaften und Pflegefamilien, in denen die Kinder nicht neuerlichen Traumata ausgesetzt werden. Auch das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die nicht immer gelingt.

Ich betone: Förderliche Sozialisationsbedingungen für Kinder sind ein Wert an sich, ich spreche über Menschenrechte für Kinder, über die Kinderrechte, die auch von den Vereinten Nationen deklariert wurden. Sie gelten auch dann, wenn keine Gefahr bestehen mag, dass die missachteten und misshandelten Kinder einmal Verbrecher werden.

In den 1970er-Jahren waren viele Heime noch sehr autoritär geführt. Schlecht ausgebildetes Personal übte sich oft in Steinzeitpädagogik. Auch das Jugendamt hatte noch einen schlechten Ruf als Repressionsbehörde. Erst zögerlich begannen die Menschen, die Sozialarbeit auch als Hilfe wahrzunehmen.

Es war eine Zeit der Wissenschaftsgläubigkeit, wobei Hoffnungen vor allem in die Sozialwissenschaften gesetzt wurden. Eine Zeit des pädagogischen Optimismus, des soziologischen Optimismus, des politikwissenschaftlichen Optimismus. Der Fortschritt würde kommen, und er würde durch die Überwindung des Naturhaften der menschlichen Gesellschaft kommen. Und er würde durch eine Zurücknahme der Repression kommen.

Im Österreich der 1970er-Jahre wurden die repressiven Elemente des Staates Stück für Stück zurückgenommen. Eine Entwicklung in Richtung mehr Demokratie schien unumkehrbar zu werden. Und um über meinen Schrebergarten zu sprechen: „Fürsorge“ wurde zu Sozialarbeit, das Leitbild der strengen, fürsorglich-autoritären Fürsorgerin wurde durch das von Profis der solidarischen Beratung abgelöst. Immer noch war das ein pädagogischer Ansatz, aber durchwirkt mit Elementen eines aufgeklärten politisch-bürgerschaftlichen Engagements und des Sendungsbewusstseins jener, die die Geschichte auf ihrer Seite wähnten.

Die Erfahrung der Menschheitskatastrophe Nationalsozialismus war in den 1970er-Jahren noch präsent. 1975, als ich mein Studium vorerst abschloss, waren gerade 30 Jahre seit dem Ende der Schreckensherrschaft und des 2. Weltkriegs vergangen, eine historisch sehr kurze Zeit. Über die Schrecken der Konzentrationslager erfuhr ich noch von zahlreichen ehemaligen Insassen aus erster Hand. Sie waren damals so alt, wie ich jetzt bin. Aber noch präsenter waren die Täter und Täterinnen. Unter vielen Opfern und unter vielen Tätern war es üblich, Kinder mit Schlägen zu bestrafen. Erst damals begann sich die Überzeugung durchzusetzen, dass Schläge kein Erziehungsmittel sein dürfen.

Heute sind etwas mehr als weitere 3 Jahrzehnte vergangen. Es gibt kaum mehr lebende MitbürgerInnen, die Erinnerungen an das europäische Trauma haben. Das Denken der Menschen ist ein anderes geworden.  Im Mainstream hat der Staat seinen Schrecken verloren. Der terroristische, der repressive Staat ist ein Phänomen, das man, wenn überhaupt irgendwo, dann in fernen Weltgegenden verortet. Staatskritisches Denken scheint zu einem Hobby paranoider Subkulturen geworden zu sein. Nur marginalisierte Schichten erleben den Staat als Feind. Die Jugendlichen in den Pariser Banlieus zum Beispiel.

Unterdrückung durch den Staat?

Staat als unterdrückender Gewaltapparat wird in den entwickelten Demokratien für die Mehrheit weitgehend unsichtbar: Sie erkennen das an der Polizei, die im Alltag kaum mehr anzutreffen ist. Das Militär ist in den Kasernen. Man erkennt den Unterschied erst, wenn man in ein Land kommt, wo das noch nicht so ist. Und doch leben wir in einer Zeit, in der Gewalttaten äußerst selten geworden sind. Der klassische Marxismus definierte den Staat noch als Gewaltapparat (was er zweifelsohne weiterhin auch ist). Trotzdem bleibt die Frage, wie denn da noch Ordnung/Herrschaft funktionieren könnte. In der heutigen Diskussion, die sich noch mit Fragen der Herrschaft auseinandersetzt, wird daher immer wieder auf Michel Foucault Bezug genommen, auf sein Konzept der „Gouvernementalité“. Er richtet das Augenmerk auf Regieren als Denkweise, und zwar nicht nur als die Denkweise der Herrschenden.

„Nicht der staatliche Eingriff ist das allein entscheidende Moment, sondern diese „Führung der Führungen“, wie Foucault schreibt, d.h. die im wohlfahrtsstaatlichen Arrangement als Normalisierung eines Bevölkerungskörpers realisierte „Regierung über Freiheit“(vgl. Krasmann1999; Hervorh., F.K.). Prägendes Instrument wohlfahrtsstaatlicher Regierungsweisen ist somit nicht mehr primär die staatliche Disziplinierung Einzelner, obwohl diese weiterhin eine große Rolle spielt, sondern die Normalisierung der Lebensführungsweisen – Formen der  Führung also,  die auf die Selbstführung der individuellen wie kollektiven Subjekte zielen und damit zugleich auf diese angewiesen sind: „Government in this sense only becomes possible at the point at which policing and administration stops; at the point where government and self-government coincide and coalesce“ (wenn Regierung und Selbst-Regierung übereinstimmen und eins werden)

Wenn die Herrschaft unsichtbar ist, dann muss sie überall sein, müssen die Bürgerinnen und Bürger selbst die Herrschaft in ihren Handlungen ständig produzieren und reproduzieren. Ähnlich lautete 1990 die Diagnose von Ulrich Beck: In der sogenannten zweiten Moderne haben durch Geburt vorbestimmte Lebenswege weitgehend ausgedient. Den Menschen wird zugemutet, selbst zu entscheiden. Sie sind frei, weil sie frei sein müssen, und indem sie ihr eigenes Leben unter den Bedingungen der heutigen Gesellschaft planen, planen sie auch ihre Selbstbeherrschung, indem sie sich den Erfolg in ihrem Leben selbst zurechnen, müssen sie sich auch den Misserfolg selbst zurechnen. Die sozial und im Arbeitsleben gescheiterten werden vom Arbeitsmarktservice immer wieder durch Kurse geschleust, in denen sie aufgefordert werden, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ich erspare mir einen Kommentar zu diesen zynischen Ausformungen von Freiheit.

Staat und Wissenschaft

Heute ist der Staat vielfach Adressat der Appelle der neuen Wissenschaften. Die Scham nach dem menschlichen und moralischen Desaster zum Beispiel der Erbgesundheitslehre im Nationalsozialismus scheint abgeklungen. Das Halbwissen mancher Wissenschaften (und jedes wissenschaftliche Wissen ist unumgänglich Halbwissen) soll wieder die Grundlagen der Moral revolutionieren, den Irrglauben von der menschlichen Freiheit korrigieren.

Was dabei irritiert, ist weniger der Eifer jener Naturwissenschafter, die glauben, endlich so weit zu sein. Endlich den Geistes- und Sozialwissenschaften die komplizierten Illusionen, die vermeintlichen Spekulationen austreiben zu können. Der Eifer ist nicht neu, er ist Teil des Spiels.

Was neu zu sein scheint, ist die Bereitschaft des Staates, all das aufzugreifen, was der Form nach „technologisch“ zu sein scheint. Ich erspare es Ihnen hier, auf die Überwachungstechniken einzugehen, die bei Ihnen in Deutschland und auch bei uns in Österreich diskutiert werden. Auf die umfassende Registrierung sogenannter biometrischer Daten, die endlich das Erkennen von Individuen maschinell ermöglichen sollen.

Man kann das als Versuch verstehen, die Beamten als Unsicherheitsfaktoren zu entmachten. Zuerst war das Erkennen von Menschen an ein individuelles Wiedererkennen gebunden: Daran, dass man die Gesichtszüge, die Körperhaltung, schon einmal gesehen hat. Darüber hinaus musste man Personen glauben, dass sie sind, wer sie vorgeben zu sein. Ein deutlicher Sprung nach vorn war da die Ausstellung von Ausweisen. Zuerst war es der bloße Besitz eines offiziellen Papiers, der eine Person identifizierte. Dann kam ein Foto dazu, das zusätzliche Sicherheit brachte. Aber auch Fotos mussten von Menschen mit dem Gesicht verglichen werden, das das Gegenüber präsentiert, und da gibt es noch eine Fülle von Unsicherheiten. Erst maschinenlesbare biometrische Daten entziehen den Sicherheitsbeamten vor Ort ihren Entscheidungsspielraum, und sie sind geeignet, verbunden mit einer Datenbank, in kürzester Zeit eine Fülle von Informationen zur Verfügung zu stellen. Das Gedächtnis des Staates steht dem Exekutivbeamten zur Verfügung.

Die Möglichkeiten, sich zu verstellen, zu verkleiden, zu verändern, die bleiben zwar aufrecht, aber sie können den Staat nicht mehr täuschen, wenn er einmal soweit aufmerksam geworden ist, dass er mich überprüfen will. Das System ist natürlich noch zu perfektionieren: Das Scannen der Identitäten kann automatisiert werden, Bewegungsprofile können angelegt werden. Fraglich bleibt, was der Staat mit diesen Informationen eigentlich anzufangen gedenkt.

Viele Klienten der Sozialarbeit haben die Verstellung gut gelernt. Sie wissen, wieweit sie sich einsichtig und besserungsbereit geben müssen, um auch materielle Unterstützung zu bekommen. Das ist eine durchaus legitime Überlebensstrategie. Solange ihre BetreuerInnen sich von ihrem Charme berühren lassen, kann das gut gehen. Und so lange die betreuenden Experten noch Entscheidungsmacht über mögliche Unterstützungen haben.

Die Zeiten der relativen Selbständigkeit der ExpertInnen scheint aber dem Ende entgegen zu gehen, glaubt man der Diagnose von Robert Castel.

Hier und heute interessiert, wie der Staat auf Abweichung reagiert, auf Delinquenz, auf die Gefährlichkeit von Individuen. Hirnforscher wie Hans Jörg Markowitsch sprechen ja gern von Mördern und Gewalttätern. Und dass Morde ein absolutes Skandalon darstellen, darüber besteht Einigkeit. Wir wünschen uns eine Gesellschaft, in der Morde so selten wie nur irgend möglich sind. Und wir bewegen uns in diese Richtung. In unseren Städten gibt es recht wenige Gewaltverbrechen. Immer noch zu viele, keine Frage. Aber es wäre vermessen, zu behaupten, dass wir heutzutage im historischen Vergleich besonders viele Morde hätten.

Trotzdem: Jeder Mord, jedes Gewaltverbrechen, fordert uns heraus, erschreckt uns. In einer zivilisierten Welt sind körperliche Gewalterfahrungen in hohem Grade irritierend. Als Sozialarbeiter weiß ich, dass die am häufigsten vorkommenden Grausamkeiten allerdings kaum jemals die Presse interessieren. Es sind Misshandlungen, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch im familiären Nahraum. Psychische und physische Gewalt gegen Frauen und Kinder, psychische Gewalt auch gegen Männer. Auch alte Menschen werden hier zu Opfern.

Am Arlt-Institut für Soziale Inklusionsforschung beschäftigen wir uns mit diesen Problemen, und wir kennen die Schwierigkeiten der öffentlichen Einrichtungen des Kinderschutzes, rechtzeitig zu intervenieren und zumindest die gefährdeten Kinder zu schützen. Sie haben in Deutschland den Fall Kevin gehabt, der breite Aufmerksamkeit erregte. Auch in Österreich gab es große Unfälle, gab es Kinder, die bei laufender Betreuung der Familie durch das Jugendamt sterben mussten.

Wir erleben eine verstörende Diskrepanz. Eine Diskrepanz zwischen der Aufmerksamkeit, die den Gefahren des Terrorismus und den Gefahren durch pathologische Verbrecher gewidmet wird, während jene Institutionen, die der relativ häufigen familiären Gewalt entgegentreten können, unter einem gravierenden Mangel an Aufmerksamkeit und finanzieller Dotierung leiden.

Markowitsch und Siefer weisen diesen Einrichtungen eine Rolle zu: Wenn ein potenzielles Verbrechergehirn bei einem Neugeborenen gescannt werde, dann sollten die Pädagogen und Sozialarbeiter in Aktion treten. Meine Frage: und wenn nicht, dann nicht?

Dort, wo der Staat sich kümmert, wo er bereit ist, seine Aktivitäten neu zu organisieren, scheint er ein neues Paradigma zu verfolgen. Robert Castel hat in einem grundlegenden Artikel 2001 diese Zugangsweise und ihre Folgen beschrieben. Er hat dies am Beispiel der Psychiatrie und der französischen Politik gegenüber Menschen mit Behinderung ausgeführt. Wovon spricht er?

Castel beschreibt den Wandel vom Paradigma der Gefährlichkeit zum Paradigma des Risikos. Früher, da habe man von Gefährlichkeit gesprochen. Die Gefährlichkeit von Personen habe von Experten festgestellt werden müssen. Dabei gibt es immer ein Dilemma, vor dem die Experten stehen: Die Einschätzung ist stets mit Unsicherheit behaftet. Gefährlich ist jemand, noch bevor er tatsächlich eine Tat begangen hat. Schon dadurch ergab sich eine Tendenz, dass die Experten Personen „sicherheitshalber“ als gefährlich eingestuft haben. Schließlich waren sie damit auf der sicheren Seite. Setzten die begutachteten Personen eine Straftat, dann hatte sich die Voraussage als richtig erwiesen. Setzten sie keine Straftat, dann konnte man das dem rechtzeitigen Einsetzen der Behandlung oder der Verwahrung zurechnen. Null Risiko für die Experten. Charakteristisch für dieses Paradigma war allerdings die Einheit von Begutachtung und Behandlung. Der Begutachter arbeitete auch mit den Personen, die er begutachtet hatte.

Ich betrachte dieses Modell als Sozialarbeiter, und denke mir meinen Teil: Die Experten müssen in diesem Modell mit ihren KlientInnen auskommen. Wie auch immer sie ihre Funktion auffassen mögen, wie auch immer ihre Urteile und Vorurteile begründet sein mögen, es kann sich eine Beziehung zwischen ihnen entwickeln. Sie stehen einander face to face gegenüber, zwangsläufig damit als Menschen, als Mit-Menschen. Ein unangenehmer Gedanke für staatliche Steuerung: die Experten kommen in den Verdacht, nicht „objektiv“ zu entscheiden, sondern sie können sich aus sentimentalen oder anderen nicht-objektiven Gründen beeinflussen lassen. Und die Kriterien für die „Gefährlichkeit“ der Klienten sind nicht eindeutig definiert. Die Entscheidung wird vom Experten abwägend getroffen, er ist dabei auf seine fachliche Weisheit verwiesen. Es ist der komplexe Einzelfall, die Gewichtung der Daten obliegt ihm.

Die Experten haben so einen beachtlichen Interpretationsspielraum. Und genau dieser Spielraum wird im neuen Paradigma tendenziell eliminiert.

Nach Castel ist das neue Paradigma das des Risikos. Während Personen, die als gefährlich eingestuft wurden, zumindest schon irgendetwas getan haben müssen, das diese Einschätzung rechtfertigen kann, ermöglicht die moderne Statistik die Einstufung einer Person als Risikoperson, die noch gar nichts getan hat, was sie auffällig gemacht hätte. Es reicht, dass auf sie einige Daten zutreffen, die auf eine erhöhte statistische Wahrscheinlichkeit hinweisen, dass sie abweichend sein könnte.

Die neuen Entscheidungen sind statistisch, sind mathematisch begründet. Das ermöglicht, dass die Bürokratie die Grenzen vorgibt, ab denen einzugreifen ist. Der Spielraum der Experten wird reduziert. Nicht mehr der Augenschein der Experten, die direkte Konfrontation des Experten mit dem einzigartigen Individuum ist Basis für die Zuweisung zu Hilfsprogrammen oder zu separaten Laufbahnen, es sind Merkmale, die in einer Datenbank erfasst werden können. Eine Entpersönlichung findet statt.

Für den Staat spielt der Einzelfall nur eine marginale Rolle, für ihn zählt die große Zahl. An ihr erweist sich der Erfolg oder Misserfolg von Programmen zur Bearbeitung sozialer Probleme. So wie die einzelnen Sicherheitsbeamten als Unsicherheitsfaktor durch automatisierte Zugangsschranken eliminiert werden, so soll durch die Politik des Risikomanagements die Gesellschaft besser steuerbar werden. Die Wissenschaft gibt nicht mehr den einzelnen Experten Hilfestellungen bei ihren Entscheidungen, sondern der Verwaltung, der Politik. Castel spricht von der Zuweisung von Laufbahnen für Personen, auf die ein Ensemble bestimmter Merkmale zutrifft, die sie als risikogefährdet ausweisen. Er erläutert das am Beispiel von Behinderten in Frankreich, die einem separaten Arbeitmarkt von Behindertenwerkstätten etc. zugewiesen werden.

Für Individuen ist es bekanntlich umgekehrt: Für sie zählt nicht die Statistik, für sie zählt nur ihr Einzelfall. Und auch ihr Einfluss auf dessen Verlauf schwindet.

Zusammenfassend kann man also die Paradoxie benennen: Während der Staat Schicksale zuweist, weist er auch Verantwortung zu. Eine Rhetorik der Selbststeuerung der Individuen begleitet die Einschränkung von Chancen für erfolgreiche Selbststeuerung.

Wissenschaft und Selbststeuerung

Die Ökonomie der Wissenschaft ist bekanntlich auch eine Ökonomie der Aufmerksamkeit. Wissenschaften, die es verstehen, ihre Produkte in das Alltagsleben einzuspeisen, in das Alltagsbewusstsein, die haben gute Chancen, mit ausreichend Mitteln dotiert zu werden. In den letzten Jahrzehnten spielte dabei die Visualisierung eine große Rolle, und das Versprechen eines künftigen Nutzens.

Für den Siegeszug der Bilder mit Suggestionskraft gibt es einige sehr bekannte Beispiele:

Sie kennen diese Bilder von unserem blauen Planeten. Sie haben das Bewusstsein der Menschen über ihre Situierung im Kosmos deutlich verändert.

In unserem Zusammenhang sind allerdings andere Ikonen der Visualisierung von Interesse:

Da ist zum Beispiel die Doppelhelix der DNS, die geradezu zur Ikone der Biowissenschaften wurde. Das Riesenprojekt der Kartographierung des menschlichen Genoms ist vorerst abgeschlossen, die hochtrabenden Hoffnungen, die sich damit verbunden hatten, sind aber noch kaum eingetroffen. In der populärwissenschaftlichen Propagierung des Human Genome Projects waren Vorstellungen von einer vollen Erklärbarkeit menschlichen Wesens, menschlichen Verhaltens, menschlicher Eigenschaften lanciert worden. Heute zeigt sich, dass alles viel komplexer ist, als angenommen. Und es zeigt sich, dass die Genforschung weit davon entfernt ist – und wahrscheinlich auf Dauer unfähig sein wird – „die“ Menschenwissenschaft zu sein.

In der Berühmtheit der Bilder haben die feuernden Neuronen der Hirnforschung die Doppelhelix noch nicht erreicht, aber sie sind auf einem guten Weg. Dieses Bild vermittelt die Illusion, man könne Menschen beim Denken zuschauen. Bis zu einem gewissen Grad stimmt das ja auch. Es bleibt abzuwarten, wie diese Bilder das Alltagsbewusstsein beeinflussen werden.

Etwas verweilen will ich aber bei den Bildern, die im Zusammenhang mit der Reproduktionstechnologie entstehen, die in menschliches Leben bereits sehr stark eingegriffen hat und das wahrscheinlich weiter tun wird. Sie ist ein wesentliches Element der Politik des Eingriffs in die Prozesse des Körpers.

Die Fotos von Foeten sind wie die Bilder vom blauen Planeten in unser aller Bewusstsein tief eingedrungen. Ich werde darauf noch zurückkommen.

Biowissenschaften und menschliche Lebensführung

Während die Reproduktionstechnologie, die anderen medizinischen Wissenschaften, die Gentechnologie, die Hirnforschung den Menschen zerlegen, ihn jedoch noch nicht in seinem Mensch-Sein näher erklären können, wird, wie ich bereits mit Ulrich Beck angedeutet habe, den einzelnen immer mehr Verantwortung für das je eigene Leben zugeschrieben.

Der Wissenschaft ist es gelungen, die Eingriffsmöglichkeiten zu vergrößern, und es ist ihr gelungen, die Zuverlässigkeit ihrer Voraussagen zu erhöhen. Diese Voraussagen bleiben trotzdem unsicher, sie sind statistische Voraussagen. Es geht gar nicht anders, als die Entscheidung, was denn nun mit der Voraussage zu tun sei, wieder in die Kompetenz von Entscheidern zurückzugeben.

Die mehr oder weniger rationale Entscheidung ist m.E. aus einem Modell des menschlichen Lebens nicht zu eliminieren, solange wir noch im Rahmen dessen bleiben wollen, was wir unter Mensch-Sein, unter Menschlichkeit verstehen. Unser Alltagsleben ist auf dem Denkmodell der freien Entscheidung aufgebaut, auf einer Annahme, dass Menschen grundsätzlich menschlich handeln.

Ich werde die Entwicklung der letzten Jahrzehnte anhand eines Beispiels explizieren, das mir sehr nahe liegt. Vor 28 Jahren wurde meine Tochter geboren. In 2 Wochen wird sie heiraten. Während der Schwangerschaft meiner damaligen Frau hatten wir keine Ahnung, ob das erwartete Kind weiblich oder männlich sein würde. Wir hatten keine Ahnung, ob die Gefahr einer Missbildung besteht. Niemand stellte uns vor die Entscheidung, ob wir das Geschlecht vorzeitig wissen wollen. Ob wir wissen wollen, ob denn eine Gefahr für Missbildungen bestehe. Vieles konzentrierte sich auf den Zeitpunkt der Geburt. Ein schicksalhafter Moment. Wenn wir religiös gewesen wären, hätten wir vielleicht gebetet. Alles ist gut gegangen, die erwünschte Tochter wurde geboren und war offensichtlich gesund. Es dauerte noch Jahre, bis sich langsam herausstellte, welche Persönlichkeit sie denn sein würde. Konnten wir das beeinflussen? Ja, in gewissen Grenzen.

Leicht karikierend könnte ich sagen, alles Gute an ihr, dafür sind wir verantwortlich. Alles irritierende, schwierige, dafür sind wohl ihre Gene verantwortlich, schlechte Freunde oder ähnliches außerhalb unseres bewussten Einflussbereichs.

Ödipus: Schicksal, Wissen und Unwissen

Andere Paare haben behinderte Kinder zur Welt gebracht, und sie konnten das als Schicksal verstehen. Ein Schicksal, mit dem man sich abfinden oder gegen das man aufbegehren kann. Aber wie das so ist mit dem Schicksal, es kommt unerbittlich. Und es hat den Nachteil und gleichzeitig den Vorteil, dass man ihm nicht entkommen kann.

Wir kennen die griechische Mythologie, die Erzählungen vom unentrinnbaren Schicksal. Ödipus lud Schuld auf sich in unglaublichem Ausmaß. Seinen Eltern Laios und Iokaste war vorausgesagt worden, dass ihr Sohn seinen Vater töten und seine Mutter heiraten werde. Als dieser Sohn tatsächlich geboren wurde, wurde er von seinen Eltern misshandelt – es wurden ihm die Füße durchbohrt und zusammengebunden – und einem Hirten übergeben, der ihn im Gebirge aussetzen sollte. Der mitleidige Hirte aber erfüllte seinen Auftrag nicht, und so wuchs Ödipus bei Zieheltern auf. Auch ihm wurde vom Orakel der Vatermord und der Inzest prophezeit. Um seinem vermeintlichen Schicksal zu entgehen, verließ er seine geliebten vermeintlichen Eltern. In einem Handgemenge tötete er seinen wirklichen Vater Laios, und weil er durch sein Wissen Theben von der Sphinx befreien konnte, deren Rätsel er löste, erhielt er die verwitwete Königin, seine leibliche Mutter, zur Frau.

Die Schuld des Ödipus war eine schicksalhafte Schuld. Er suchte sie zu vermeiden, und genau dieser Versuch führte doch zu einer Erfüllung des Schicksals. Die Erzählung von Ödipus handelt eine Frage ab, die auch Markowitsch zu beantworten versucht. Er meint die Frage von Schuld ausschließen zu können, wenn Menschen nicht anders handeln können, als sie handeln. Das ist keineswegs selbstverständlich. Wir wissen, dass Menschen Schuld empfinden, auch wenn sie objektiv keine andere vernünftige Wahl gehabt haben. So wie für Ödipus seine Schuld außer Zweifel stand, gibt es viele Beispiele für dieses Bewusstsein der Schuld. Ein extremes Beispiel: Die Überlebenden des Holocaust, die ihr Glück, überlebt zu haben, als Schuld empfinden. Als unverdientes Bevorzugtsein vom Schicksal.

Der Ödipus-Mythos thematisiert aber auch die Zwiespältigkeit des Wissens. Ödipus wusste viel: Er wusste von der Bedrohung, er war klug und wissend genug, um das Rätsel der Sphinx zu lösen. Sein Wissen leitete seine Handlungen, und doch konnte er dem Schicksal nicht entrinnen, sein Wissen erzeugte das Böse. Er wusste nämlich nicht alles. Man könnte sagen, das ist nur natürlich: Neben Wissen gibt es immer Unwissen. Alles zu wissen, übersteigt die Möglichkeiten des Menschen. Noch deutlicher: Ödipus wusste nicht, was er nicht wusste. So konnte er auch sein Unwissen nicht in seine Handlungsstrategien einfließen lassen.

Was soll der Ödipus-Mythos in diesem Zusammenhang? Was hat er mit Hirnforschung zu tun, was hat er mit individuellen und gesellschaftlichen Steuerungsmechanismen zu tun?

Da ist einmal der Topos der Schuld, über ihn haben wir schon gesprochen. Subjektiv befreit das Wissen von der eigenen „Veranlagung“ zum Verbrechen nicht von der Schuld. Warum nicht? Solange ich mich als Mensch begreife, muss ich meine Entscheidungsfreiheit postulieren. Wenn ich nicht mehr entscheiden kann, nicht mehr handlungsfähig bin, dann verliere ich das, was mich noch als Menschen auszeichnet. Mir als Schuld zuzurechnen, was ich im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit oder des Nichtwissens getan habe, ist so immer noch die bessere Möglichkeit, als die Kontingenz zu verleugnen. Kontingenz, dass ist das Wissen, dass es zwar ist, wie es ist, dass es aber auch anders sein könnte.

Psychische Verelendung ist dort an ihr Ende gekommen, wo die Frage nach der anderen Möglichkeit nicht mehr gestellt wird. Wo das eigene Leben nur mehr fremdbestimmt erscheint, ohne Alternativen.

In der Sozialarbeit: Die schwierigsten Klienten sind jene, die ganz Resignation, ganz Opfer sind. Deren einzige aktive Empörung nicht ihrem Schicksal gilt, sondern der Zumutung, sie könnten auch nur den geringsten Einfluss darauf haben. Sie zu beraten, das ist besonders aufreibend.

Manche beschreiben das als Widerstand, doch es darf bezweifelt werden, dass diese Beschreibung hilfreich ist. Die Verleugnung der Möglichkeiten, das eigene Leben zu beeinflussen, das kann ein erfolgversprechender Weg der Selbstheilung sein.

Bilder.

Am 7. März wurde mein Sohn Paul Felix geboren. Bereits Monate davor wurde durch die Kombination einiger Tests festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit, er könnte eine Behinderung haben, sehr gering ist. Wir standen nicht vor dem Dilemma, entscheiden zu müssen, ob wir ein möglicherweise schwer behindertes Kind haben wollen oder doch eine Abtreibung vorziehen. Eine Kollegin war einige Monate davor vor dieser Entscheidung gestanden. Sie war am Rande der Verzweiflung. Ihr war mit dieser Entscheidung eine kaum zu tragende Last aufgebürdet worden. Die Voraussagen der Ärzte machten ihr Angst, die Vorstellung vom Leben mit einem schwerst behinderten Kind waren fast genauso beängstigend wie die Vorstellung, für eine (in diesem Fall späte) Abtreibung verantwortlich zu sein. Sie entschied sich dafür, die Warnungen der Ärzte in den Wind zu schlagen. Sie gebar ihr Kind, viel zu früh. Es gedeiht, es ist sehr bedürftig, aber es gedeiht. Ein gutes Ende für sie und für das Kind. Die Fortschritte der pränatalen Diagnostik aber hatten ihr eine Entscheidungslast aufgebürdet, die so früher undenkbar gewesen wäre. Eine Entscheidungslast, die dadurch noch verschärft war, dass die Prognosen der Ärzte ja keine sicheren Prognosen waren. Es handelte sich um Prognosen, die sich in Wahrscheinlichkeiten ausdrückten. Niemand konnte sagen, ob ihr Kind tatsächlich schwer beeinträchtigt sein würde. Die Prognose besagte nur, dass die Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung sehr hoch sei. Ihr wurde also eine Entscheidung unter Bedingungen der Unsicherheit aufgenötigt.

Das wiederum ist typisch für zahlreiche Entscheidungen, die Menschen heute fällen müssen. 1990 war der Band „Das ganz normale Chaos der Liebe“ von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim erschienen. Hier wurde dieses Muster beschrieben, das in der Gesellschaft der – von Ulrich Beck so genannten – „zweiten Moderne“ allen Menschen auferlegt ist. Sie werden für ihr eigenes Schicksal verantwortlich gemacht, ihnen werden Entscheidungszwänge auferlegt. Sie entscheiden über ihre Zukunft, ohne die Bedingungen zu kennen, die in dieser Zukunft gelten werden. Trotzdem wird ihnen das Resultat ihrer Entscheidungen zugerechnet werden, und werden sie es sich selbst als Entscheidung zurechnen müssen. Wir sind frei geworden, zu entscheiden. Das Schicksal ist nicht mehr eine Macht, der wir ausgeliefert sind, sondern eine Macht, die wir beeinflussen hätten können, wenn wir nur richtiger entschieden hätten. Oberflächlich betrachtet ist es nicht mehr der soziale Ort, in den wir hineingeboren werden, der unsere Zukunft determiniert. Die Gesellschaft weist uns nicht mehr je nach Stand fixe mögliche Laufbahnen zu. Ich kann die Wege verlassen, die vorbestimmt scheinen. Es scheint ein Leichtes, das einmal gelegte Gleis zu verlassen, einen Schritt auf die Seite zu machen und sich seinen eigenen Weg zu suchen.

Ödipus entging seinem Schicksal nicht, obwohl er es versucht hatte. Wie auch immer er entschieden hätte, hätte sich wohl sein Schicksal erfüllt. Seine Schuld war vorbestimmt, und die Strafe eine logische Folge. Der mögliche Rekurs auf das Schicksal kann tröstlich sein. Das Aufbegehren des Menschen gegen das Schicksal ist ein uralter Topos. Die modernen Wissenschaften vermitteln uns die Illusion, das Schicksal in die eigene Hand nehmen zu können. Eine Illusion, die man nicht missen möchte. Angesichts der Unsicherheiten der Prognose bei den Entscheidungen, die man nun selbst treffen darf und muss, bleibt allerdings ein beträchtlicher Leerraum des Unsteuerbaren und Unvorhersagbaren übrig: Ja, ich habe entschieden, nein, es ist alles anders gekommen, als ich gedacht habe. Ja, ich hätte anders entscheiden können. Deshalb bleibe ich schuldig, nicht, weil mein Schicksal mich als Schuldigen vorgesehen hat, sondern weil ich falsch entschieden habe. Die Erfahrung der Kontingenz ist es, was dominiert: Kontingenz, das heißt, dass alles auch anders sein könnte, hätte man nur …

Ein erstes Portrait von Paul Felix, Sie sehen es hier, erhielten wir bereits im Oktober des vorigen Jahres, also 5 Monate vor der Entbindung. Mit diesem Bild ging meine Frau durch die restlichen Monate der Schwangerschaft. Ein unsicheres Wissen hat das bloße Hoffen ersetzt.

Gewisse Technologien der Sichtbarmachung zielen auf die Individuen. Ihnen wird die Verantwortung zugeteilt, nun zu entscheiden, scheinbar „ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen“. Viele Entscheidungszumutungen sind uns bereits selbstverständlich geworden: Die Wahl der Ausbildung, die Wahl, ein Kind bekommen zu wollen oder nicht, die Wahl des Arbeitsplatzes, wenn sich denn mehr als einer anbietet, die Wahl des Lebensstils. Für jede dieser Wahlen sind wir verantwortlich. Oder, wie es Wolfgang Fach in einem mitreißenden Beitrag zum Glossar der Gegenwart formuliert:

„Wir müssen Abschied nehmen vom unglücklichen Zufall oder unvermeidlichen Schicksal: from chance to choice geht die Reise. Das Regime des Risikos macht Schluss mit all den schlampigen Weisheiten, deren Rat und Trost unseren gottlosen Alltag einstmals entspannt haben: Dass Kinderlein eben kommen, wie sie kommen; Hunger jeden Koch übertrifft; kein Meister vom Himmel fällt; Probieren über Studieren geht; einmal keinmal sein soll; Pech in der Liebe wie Glück im Spiel eben „gehabt“ wird. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß? Genau umgekehrt: Was ich nicht weiß, macht mich heiß, weil ich es eben wissen soll. Guter Rat ist teuer, guter Rat ist nie gut genug."

Bilder des Sozialen

Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften produzieren die Soziologie, die Sozialarbeit kaum eindrucksvolle Bilder. Mit einer Visualisierung will ich Sie aber doch bekanntmachen. Wir verwenden Netzwerkkarten zur Kartographierung der sozialen Austauschverhältnisse, in denen Personen stehen.

 Im Sektor rechts oben werden verwandtschaftliche Beziehungen eingetragen, links oben Nachbarschaftliche und freundschaftliche Beziehungen, links unten kollegiale Beziehungen, recht unten die Beziehungen zu porfessionellen HelferInnen.

 Zur Interpretation haben wir hier auch die Mathematik auf unserer Seite. Die Graphentheorie, die Social Network Analysis und die empirische Sozialforschung Forschung zur Funktionsweise von Netzwerken bringen uns eine gute Basis für Interpretation und für Interventionsentscheidungen. Wir können abbilden, wie Menschen durch Handicaps und durch die Maßnahmen der staatlichen oder staatlich finanzierten Hilfe weiter soziales Kapital verlieren, wie sie in ihren Lebensmöglichkeiten eingeschränkt werden.

Am Ende bleiben karge Netzwerke, die fast nur noch Profis umfassen.

Es besteht ein eklatantes Missverhältnis zwischen den Geldern, die in die Erforschung der biologischen Komponenten des Lebens fließen, und jenen, die in die Erforschung der sozialen Komponenten des individuellen Lebens fließen. Mit einem Bruchteil der Mittel, die für die Biowissenschaften locker gemacht werden, könnte eine wesentlich bessere Basis für die soziale Unterstützung von Personen mit Handicaps geschaffen werden. Dieses Missverhältnis beeinflusst auch die Diskussion zwischen den Biowissenschaften als "Naturwissenschaften" und den Sozialwissenschaften bzw. hier der Sozialarbeitswissenschaft als Wissenschaft von der organisierten Hilfe und der Lösung von Problemen des Verhältnisses von Individuen zur Gesellschaft, zum Sozialen.

Abschluss

Ich habe Ihnen über Sozialarbeit berichtet. Das ist das, was man auch auf Empfehlung von Hans Jörg Markowitsch bei gefährdeten Kindern einsetzen sollte. Danke für die Empfehlung, wir sind dran. Was Sozialarbeit tut, abgesehen von der kundigen Beeinflussung der materiellen und sozialen Rahmenbedingungen, das ist die mitunter schwierige Suche nach dem „autonomen Zentrum“ einer Person.

Das autonome Zentrum, das ist jener Teil im Bewusstsein der Menschen, der entscheiden kann, der auch über das andere, das sich noch im Kopf abspielt, reflektieren kann. Psychische Verelendung, das ist der partielle oder weitgehende Verlust des Gefühls, dass „je ich“ Kontrolle über meine Gedanke habe.

Wir gehen praktisch von einigen Annahmen aus, die sich bewährt haben:

… dass Menschen entscheiden können

… dass diese Fähigkeit zur Entscheidung eingeschränkt, ja verschüttet sein kann

… dass die Beziehungen der Menschen zu ihrer Umwelt wesentlich für ihre Entwicklung sind

… dass es sich lohnt, Geduld bei der Arbeit mit dem „inneren Team“ von Menschen zu bewahren

Das innere Team, das ist das Bild für die widerstreitenden Perspektiven im Kopf. Das sind die Teilpersönlichkeiten, mit denen ich zu kämpfen habe. Das ist die Ambivalenz, das sind auch die Teile meines Denkens und Fühlens, die mir fremd sind.

Um unsere Arbeit zu ermöglichen, brauchen wir diese Annahme. Eine Vorstellung, dass Menschen völlig frei in ihrem Denken seien, scheint genauso unangemessen, wie jene, dass sie völlig unfrei seien. Beiden Extremen fehlt das, was wir aus gutem Grund unter Mensch-Sein verstehen.

 

 

Beck, Ulrich / Beck-Gernsheim, Elisabeth (1990): Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt/M..

Castel, Robert (2001): Von der Gefährlichkeit zum Risiko. Auf dem Weg in eine post-disziplinäre Ordnung?. In: episteme. Online-Magazin für Philosophie und Praxis: http://www.episteme.de/htmls/Castel.html.

Fach, Wolfgang (2004): Selbstverantwortung. In: Bröckling, Ulrich / Krasmann, Susanne /Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt am Main . S. 228-235.

Heintel, Peter / Broer, Kurt (2005): Hirnforschung als dialektische Sozialwissenschaft. Wien.

Kessl, Fabian (2007): Wozu Studien zur Gouvernementalität in der Sozialen Arbeit? Von der Etablierung einer Forschungsperspektive. In: Anhorn, R. / Bettinger, F. / Stehr, (Hg.): Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit: Macht und Wissen. Wiesbaden.

Markowitsch, Hans Jörg / Siefer, Werner (2007): Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens. Frankfurt / New York.

Miller, W.R. / Rollnick, S. (2002): Motivational Interviewing. Preparing people for change (2nd edition). New York: Guilford.

Schrödter, Mark / Ziegler, Holger (2007): Wirkungsorientierte Jugendhilfe Band 02. Was wirkt in der Kinder- und Jugendhilfe? Internationaler Überblick und Entwurf eines Indikatorensystems von Verwirklichungschancen. Münster.

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