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Lebensqualität im Mittelpunkt
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- Erstellt am Montag, 11. Oktober 2010 21:36
„Lebensqualität im Mittelpunkt – der Beitrag Sozialer Diagnostik“
Referat auf der Tagung „Soziale Gesundheit stärken“, veranstaltet vom ECCSW
24.-25.9.2010, Berlin.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen
Herzlichen Dank für die Einladung zu dieser Tagung.
Die rasante Entwicklung der Produktionskräfte, von Medizin, Hygiene und Bildung haben seit dem Entstehen der beruflichen Sozialen Arbeit eine ungeahnte Erhöhung der Lebenserwartung und der Möglichkeiten der Lebensgestaltung für die breite Mehrheit der Bevölkerung gebracht. Die Gesellschaft hat sich in vieler Hinsicht ausdifferenziert. Die Menge an Wissen und Technologien produzierte auch große Organisationen und Funktionssysteme, die sich der Erledigung spezialisierter Aufgaben widmen.
Eines dieser Funktionssysteme ist das Gesundheitswesen mit seinen Großorganisationen, den Krankenhäusern, den Sozialversicherungsanstalten. Wir können beobachten, dass diese Organisationen im Großen und Ganzen ihre Aufgaben sehr gut erfüllen. Das gilt aber nicht für alle möglichen NuizerInnen gleichermaßen. Die Formen der Wirtschaftsorganisation und der organisierten Daseinsvorsorge entscheiden über die Lebens-Chancen von Individuen, und die können, wie Sie wissen, sehr unterschiedlich sein. Und trotz Wissenszuwachs und Technologieentwicklung erhalten viele Menschen nicht die Hilfe, die sie brauchen.
Soziale Arbeit arbeitet sich an diesen partiellen Disfunktionalitäten ab. Sie versucht, die Zugänge zu den gesellschaftlichen Ressourcen auch für jene zu organisieren, die sie aufgrund ihrer Biografie oder von Diskriminierungen von sich aus und ohne Unterstützung nicht nutzen können.
Die Mittel der Sozialen Arbeit sind unverändert Individualisierung, Respekt, und Aufmerksamkeit für die Logiken der Lebensführung. Und diese liegen quer zur Logik der Funktionssysteme. Ich behaupte, dass gute Sozialarbeit immer dadurch gekennzeichnet ist, dass sie sich dem notwendigerweise eingeengten Code der Funktionssysteme nicht unterwirft. Dass sie die Logik der individuellen Lebensgestaltung und Lebensführung, der Bedürfnisse beachtet und zur Geltung zu bringen versucht. Sie verteidigt den Zusammenhang, die Einheit des individuellen Lebens mit seinem Eigen-Sinn gegen die funktionalistischen Kategorisierungen. Sie versucht, Voraussetzungen zu schaffen, damit ihre KlientInnen diese Einheit aufrechterhalten können. Manche bezeichnen das mit einem etwas verwaschenen Begriff als Ganzheitlichkeit. Die Ganzheit, um die es dabei geht, ist die Ganzheit des individuellen Lebens im gesellschaftlichen Zusammenhang.
Lebensqualität verstehen wir so auch als einen umfassenden Begriff. Er enthält Aspekte, die von der Medizin unterstützt werden können, wie zum Beispiel die Freiheit von chronischen Schmerzen. Darüber hinaus enthält er aber auch ganz andere Komponenten. Solche, die vom Gesundheitswesen nicht garantiert werden, die sogar durch die Organisation dieser Maschinerie tendenziell gefährdet sein können, zum Beispiel die individuelle Autonomie, befriedigende menschliche Beziehungen, die Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Soziale Arbeit versucht das über Arbeit an der Inklusion zu fördern.
Soziale Arbeit kann nicht alles bereitstellen, was dafür erforderlich ist. Sie ist auf die Mitwirkung von Personen und Organisationen angewiesen. Sie ist Moderatorin, Beraterin und Vermittlerin. Das ist ihre Stärke und ihre Schwäche zugleich. Für manche sieht es so aus, als fehlte ihr das eigene Profil.
Tatsächlich ist es nicht leicht, dieses Profil darzustellen. Und tatsächlich gelingt es vielen Kolleginnen und Kollegen nicht, ihr fachliches Profil gegenüber den anderen Berufen im Gesundheitswesen zu bewahren.
Wir entwickeln in St. Pölten seit einigen Jahren Verfahren der Sozialen Diagnostik. Eine Diagnostik, die der medizinischen und der psychologischen Diagnostik etwas Neues hinzufügt. Eine Diagnostik, die eine genuin sozialarbeiterische ist. Die abbildet, was für unsere Interventionen relevant ist. Damit arbeiten wir auch an einer Klärung des Profils der Sozialen Arbeit. Wir versuchen einen Beitrag zu einer Verdeutlichung dessen zu leisten, was die Soziale Arbeit zu einer Verbesserung der Lebensqualität ihrer KlientInnen leistet. Unsere Arbeit ist eine Arbeit an einer praxistauglichen theoretischen und methodischen Fundierung der Sozialen Arbeit. Die Theorie nimmt die Form von Grafiken, Tabellen und Verfahren an.
Besondere Aufmerksamkeit haben wir bei der Verfahrensentwicklung einigen Komponenten gewidmet, die wir für essenziell halten:
· Anschaulichkeit
· Faktenorientierung (Realitätsbezug)
· Praxistauglichkeit (= Kompatibilität mit Beratungsprozess)
· Vergleichbarkeit
Ich sag lieber gleich, was wir nicht leisten wollen:
· Wir wollen kein Instrument für alle Lebenslagen und alle Anwendungsbereiche entwickeln
· Wir wollen nichts automatisieren: Die Entscheidung über die Intervention kann nicht ausschließlich von einem diagnostischen Verfahren abhängig sein
· Wir wollen erfahrungsbasierte Intuition nicht eliminieren, sondern ihr faktenbasierte Diagnostik an die Seite stellen
· wir wollen den Dialog mit den KlientInnen und deren Angehörigen nicht ersetzen
· und wir wollen nicht mit medizinischer und psychologischer Diagnostik konkurrieren
· allerdings wollen wir auch nicht, dass diese sozialarbeiterisches Handeln dominiert.
Letzteres nicht aus berufspolitischen Gründen, sondern weil wir es für einen Kunstfehler, für ein fachliches Unglück halten, wenn Soziale Arbeit ihre Interventionen nicht auf der Basis eigener fachlicher Einschätzungen aufsetzt.
Wir haben Verfahren gesucht, vergessene ausgegraben und aufpoliert, neue entworfen. Aus dieser Sammlung wurden einige von PraktikerInnen bevorzugt aufgegriffen. Denen widmen wir nun unsere besondere Aufmerksamkeit.
Ich stelle Ihnen Beispiele vor, und bitte um Verzeihung, wenn Sie das eine oder andere schon kennen.
Netzwerkdiagnostik
Die erste sozialarbeiterische Diagnosevariante ist die Erfassung und Einschätzung des Sozialen Netzwerks, in dem sich die KlientInnen bewegen. Dafür liegen zahlreiche unterschiedliche Verfahren vor. Wir haben eine klare und begründete Präferenz für eines dieser Verfahren – und das will ich Ihnen hier vorstellen. Es ist eine spezielle Variante der Netzwerkkarte, also einer grafischen Darstellung der sozialen Beziehungen.
Man nimmt ein Blatt Papier, teilt es in 4 Sektoren, und markiert die Mitte durch einen Knödel.
Dieser Knödel steht für die Person, mit der man das Interview führt. Der Sektor rechts oben steht für familiäre Beziehungen. In den Sektor links oben werden die freundschaftlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen eingetragen. Links unten ist Platz für kollegiale Beziehungen.
Und rechts unten findet man die Beziehungen zu professionellen Helferinnen und Helfern.
Im Netzwerkinterview zeichnen wir gemeinsam mit den KlientInnen nun das Netz.
Sie werden aufgefordert, jene Personen zu nennen, die es in ihrem Leben gibt, mit denen sie in Austauschbeziehungen stehen. Die meisten fangen rechts oben an. Der Partner, die eigenen Kinder, Eltern, Geschwister, Großeltern, Onkel, Tanten und so weiter. Die Knoten und Linien werden von der Sozialarbeiterin eingezeichnet, das hat zwei große Vorteile:
Erstens – Es hält das Gespräch am Laufen, über jeden Knoten und seine Platzierung muss gesprochen werden.
Zweitens – über die „richtige“ Platzierung entsteht ein Diskurs. Der Part der Sozialarbeiterin ist, dafür zu sorgen, dass Beziehungswirklichkeit abgebildet wird. So neigen KlientInnen manchmal dazu, Personen, mit denen sie in einem intensiven Konflikt stehen, gar nicht oder nur ganz am Rande zu platzieren. Richtigerweise wären sie aber recht nahe einzuzeichnen.
Inzwischen haben wir in enger Zusammenarbeit mit PraktikerInnen die Software easyNWK entwickelt. Die Erstellung der Grafik erfolgt nicht mehr auf Papier, sondern auf dem Bildschirm. Das ist flexibler, macht Korrekturen einfach. Die KlientInnen haben überaus positiv darauf reagiert. Für sie ist es eine interessante Erfahrung, einmal neben der Sozialarbeiterin vor dem Bildschirm zu sitzen. Auch das Setting zeigt: wir betrachten gemeinsam meine soziale Situation.
Sie sehen, dass wir bei der Digitalversion 3 Horizonte haben, das engere, mittlere und weite Netzwerk. Im Hintergrund wird hier noch weiter differenziert und werden die Beziehungen mit einem Gewicht versehen. Das variiert von 9 bei den nächsten Knoten bis zu 1 bei den weitest entfernten.
Nach der Familie kommen meist die Freundinnen und Bekannten dran, Nachbarinnen und Nachbarn. An dieser Stelle muss man meist noch nachfragen: Die meisten Menschen haben Personen, die ihnen nicht so nahe stehen, mit denen sie aber trotzdem über ihre Alltagsprobleme reden, manchmal auch dann, wenn es Krisen gibt. Solche Personen in seinem Umfeld zu haben, ist für die eigene Stabilität sehr wichtig. Sie können unaufgeregt Rückmeldung geben.
In unserem Beispiel sind das eine Friseurin, eine Verkäuferin, und eine alte Schulfreundin, die man nur mehr sehr selten trifft.
Jetzt kommen noch einige Kollegen hinzu
…und rechts unten, bei den Profis, findet sich meist ein Hausarzt, oft auch ein Facharzt. Unsere Beispielsperson, die keine Sozialarbeitsklientin ist, sucht auch noch eine Beraterin auf. Lassen wir einmal offen, ob das eine Astrologin oder eine Stilberaterin ist.
Die Ergebnisgrafik können wir ausdrucken und der Klientin mitgeben. Wir können aber auch eine mathematische Analyse abrufen.
Hier werden Kennzahlen zur Struktur des Netzwerks ausgeworfen. Frieda hat ein nicht übermäßig großes, aber sehr gut strukturiertes Netzwerk an sozialen Beziehungen.
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So sieht ein nettes kleines soziales Netzwerk aus.
Sozial gut eingebundene Menschen, also solche wie Sie zum Beispiel, die haben ein recht umfangreiches persönliches Netzwerk. Meine StudentInnen müssen im Zuge ihres Studiums ein Netzwerkinterview machen. Manche hören nicht auf meine Warnungen und suchen sich Interviewpartner mit einem umfangreichen sozialen Netz. ich zeige Ihnen noch eher harmlose Exemplare:
Hier das Netz eines 24-jährigen Studenten. Wie Sie sehen, ist die linke Seite gut bestückt. 21 Freunde/Bekannte, die es auf die Karte geschafft haben.
Und hier ist das Netz einer 32-jährigen alleinstehenden Frau, hochqualifiziert und mit einem interessanten Job.
Im Sektor links oben finden sich 25 Personen, links unten 12 gute Kolleginnen und Kollegen. Die Suche wurde frühzeitig abgebrochen. Wenn man genauer nachfragt, kann so ein personenbezogenes Netz 70 oder 100 Personen umfassen.
Wie schon erwähnt, erleichtert die digitale Netzwerkkarte die statistische Auswertung. Ohne hier alle Möglichkeiten beschreiben zu können – ein Beispiel. Wir untersuchen eine Fremdunterbringungseinrichtung für Kinder. Wir haben Netzwerkinterviews mit den Kindern gemacht, und haben zu jedem Kind eine Betreuungsperson interviewt. So haben wir für jedes Kind 2 Netzwerkkarten gehabt. Das Betreuungspersonal entwickelte einen besonderen Ehrgeiz, die soziale Einbindung der Kinder als gut darzustellen. Sie produzierten die deutlich umfangreicheren Netzwerkkarten. Noch interessanter ist allerdings die sehr unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Sektoren. Die Profis überschätzten die Profis massiv. Sie gaben ihnen 39% des Beziehungsgewichts, die Kinder gaben ihnen nur 24%. Gleichzeitig unterschätzten die BetreuerInnen die kollegialen Beziehungen in der Schule. Sie gaben ihnen nur 5% des Gesamtgewichts, die Kinder selbst 21%. Auch die Familie wurde von den BetreuerInnen unterschätzt, wenn auch nicht so stark. Soweit nur ein kleiner Ausschnitt, der zeigen soll, wie solche Netzwerkkarten auch in der Evaluationsforschung eingesetzt werden können.
Damit ist angedeutet, was intelligente diagnostische Verfahren leisten können: Sie sind Beratungsinstrument, sie geben Hinweise für die richtige Platzierung von Interventionen, und sie können quantitativ ausgewertet werden. Damit sind sie über den Einzelfall hinaus Forschungsinstrumente, die der empirischen Fundierung unserer Arbeit dienen können. Letzteres gilt allerdings nur, wenn man sie wie ein standardisiertes Verfahren behandelt: Den im Manual festgehaltenen Regeln ist zu folgen, die sind gut überlegt, jedes Abweichen von den Regeln verhindert die Vergleichbarkeit und macht die Interpretation beliebig.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Manche Menschen wollen ein Haustier in das Netzwerk eingetragen sehen. Die Regel lautet: Haustiere, verstorbene Personen und „imaginäre“ Personen wie z.B. Jesus oder Gott sind nicht Teil des auf sozialen Austauschbeziehungen beruhenden Netzwerks. Daher werden sie hier nicht abgebildet. Die Regeln sehen auch einen Kompromiss vor, der von den meisten KlientInnen ohne große Diskussionen akzeptiert wird: Man sagt: „Auf die Netzwerkkarte gehören eigentlich nur lebende Menschen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich zeichne den Knoten ein, aber keine Linie zu Ihnen. So sehen wir, dass Ihnen Struppi / Ihr verstorbener Gatte / Gott wichtig ist.“ Dadurch ist dann auf den ersten Blick erkenntlich, dass es sich hier um keine aktuelle soziale Austauschbeziehung handelt. In der statistischen Analyse werden diese Knoten übergangen, obwohl die qualitative Information gewahrt bleibt.
Wir wissen, dass Haustiere, die lebendige Erinnerung an verstorbene Partner bzw. eine gedachte spirituelle Beziehung zu Gott wichtige Ressourcen sein können. Das große Aber: Die Qualität eines diagnostischen Verfahrens liegt letztlich in der konsequenten Beschränkung. Es kann nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden. Den allerdings umso genauer und erhellender, je klarer dieser Teil beschrieben und abgegrenzt ist.
In unserem Zusammenhang interessanter ist die Frage, inwiefern das, was mit der Netzwerkkarte erhoben wird, Bedeutung für Fragen der Gesundheit hat! Im Titel meines Referats ist von Lebensqualität die Rede. Die Existenz familiärer, freundschaftlicher und kollegialer Beziehungen ist ein wesentlicher Aspekt der Lebensqualität.
Wir reden über das Leben in seiner ganzen Breite und Vielfalt. Mit Mitmenschen Austauschbeziehungen zu haben, mit ihnen streiten zu können, über das Wetter reden, lachen, sich um sie Sorgen machen zu können oder die letzte Bundesligarunde besprechen. All das macht soziales Leben aus, ist Teil von Lebensqualität und realisierter Menschlichkeit. Ein zugegebenermaßen nicht unwesentlicher Nebenaspekt solcher Austauschbeziehungen ist die Möglichkeit, Hilfe empfangen, aber auch selbst helfen zu können. Auf diesen zweiten Aspekt, der oft übersehen wird, weist Ilse Arlt mit Recht besonders hin. Für Andere bedeutsam sein ist ein Teil sozialer Gesundheit.
Deshalb sind wir strikt gegen eine funktionalistische Verkürzung der Betrachtung von Netzwerken. Im Gegensatz etwa zum sonst von mir sehr geschätzten Pearson sind für uns die persönlichen Netzwerke der KlientInnen nicht nur unter dem Aspekt interessant, von wo denn nun welche Hilfe zu bekommen wäre. Alle Austauschbeziehungen sind wichtig, sind vielfältig und ambivalent. Manchmal belastend, manchmal hilfreich. Abgebrochene Beziehungen können ein großes Potenzial haben, aktuell als hilfreich erlebte Beziehungen können problematisch werden, weil sie Abhängigkeit und Einengung produzieren. Ich empfehle daher dringend, auf eine qualitative Bewertung der Beziehungen bei der Grafikdarstellung zu verzichten. So bleibt die Zukunft offen, so kann in der Beratung unbelastet mit der Ambivalenz von Beziehungen gearbeitet werden.
Die Netzwerkkarte hat einen theoretischen und einen empirischen Hintergrund. Eine fachgerechte Interpretation beruht auf den Ergebnissen der Erforschung von sozialen Unterstützungsnetzen. Eine enge Verbindung gibt es zur sogenannten „Social Network Analysis“, einer mathematischen Disziplin, die das Funktionieren von Netzwerken untersucht und eine Reihe von Berechnungsverfahren zur Verfügung stellt. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass wir derzeit aufbauend auf die sogenannte Soziologie der Reziprozität (aber auch in kritischer Auseinandersetzung mit ihr) zu einer genaueren Definition dessen zu kommen versuchen, was denn nun eigentlich in dieser Netzwerkkarte unter „Beziehung“ zu verstehen ist.
Die Sache ist deswegen so faszinierend, weil die Grafik jedem/jeder einleuchtet. Sie schließt an Alltagsmetaphorik an. Sie ist ein hervorragendes Beratungsinstrument. Gleichzeitig erlaubt sie eine sehr ausführliche und präzise Analyse durch ExpertInnen, und es lassen sich daraus Interventionsstrategien schlüssig und empiriegestützt ableiten und begründen. Und es bleibt ein großer Raum für den Dialog.
BioZeit
Der biographische Zeitbalken ist ein relativ aufwändiges anamnestisches Instrument. Mit dem Patienten, der Klientin, wird ein biographisches Interview geführt, und zwar anhand einer Timeline. Auf dieser Zeitlinie sind, wie Sie sehen, mehrere Dimensionen der Biographie benannt und haben jeweils eine eigene Zeile: Familie, Wohnen, Bildung, Arbeit, Gesundheit, Behandlung. Darüber hinaus können weitere Zeilen eingefügt werden; z.B. Devianz, wenn es sich um Personen handelt, die mit dem Strafrecht in Konflikt gekommen sind, oder anderes, was für die Person bedeutsam sein mag, bei einem Interview haben wir eine Zeile „öffentliche Funktionen“ hinzugefügt, weil die Person in vielfältiger Weise politisch aktiv war. Die Kerndimensionen bleiben aber immer gleich.
Anhand der biographischen Erzählung wird nun der Zeitbalken sukzessive gefüllt. Sie sehen bei der Zeitlinie, dass Jahreszahl und Alter untereinander stehen. Das ist so, weil Menschen sich an manche Ereignisse anhand der Jahreszahlen erinnern, an andere anhand ihres damaligen Alters.
Jede erinnerte Episode wird auf dem Zeitbalken eingeordnet. Ereignisse werden mit einer Ereignislinie verortet, was Dauer hat, z.B. das Zusammenwohnen mit den Eltern, wird als Balken eingetragen mit einem Beginn und einem Ende. Die Grafik steht im Zentrum des Interviews, liegt vor, einsichtig für Interviewer und Interviewte.
Grafiken haben den Vorteil, dass sie selbst Fragen stellen. Die Wohnbiografie muss zum Beispiel vollständig sein. Irgendwo hat man immer gelebt, mit anderen (welchen anderen?) oder allein. Alle Lücken stellen die Frage: war da wirklich nichts?
Die Zeitbalkengrafik ist leicht durchschaubar. Sie benötigt nicht ausführliche Erklärungen, fast alle KlientInnen verstehen ihre Logik recht schnell. Schon bald im Interview beziehen sie sich selbst auf die Grafik, machen sie es zu ihrem Anliegen, ein vollständiges und auch für sie zufrieden stellendes Bild zu generieren.
Die Besonderheit dieser Form eines biografischen Interviews ist, dass die erinnerte Biografie immer wieder zurückbezogen wird auf die Fakten und auf Plausibilität. Während eine einfache biografische Erzählung eher den Gesetzen der Erzähllogik gehorcht, wird durch die Grafik eine genaue zeitliche Verortung verlangt. Das führt dazu, dass die Interviewten selbst bei der Suche danach behilflich sind, was denn nun wirklich genau wann und in welcher Reihenfolge stattgefunden hat. Nach einem Interview mit dem Zeitbalken hat sich in den meisten Fällen die Sicht auf die eigene Biografie geändert, sie hat sich mehr der Wirklichkeit angepasst, ist vollständiger geworden.
Während des Interviews, obwohl es vorrangig am Sammeln von Fakten orientiert ist, spielen natürlich auch Fragen der Bewertung von biografischen Ereignissen eine Rolle. Sozusagen nebenbei, als Nebenprodukt, entspinnt sich ein Beratungsgespräch. Wesentliche Elemente des Selbstbilds der PatientInnen werden sichtbar. Und das unter Bedingungen, die äußerst günstig sind: Die Interviewten fühlen sich ernst genommen, sie sind nach allen unseren Erfahrungen mit großem Ernst bei der Sache. Nachfragen werden nicht als respektlos wahrgenommen, sondern ergeben sich logisch aus den Notwendigkeiten und Offensichtlichkeiten der Grafik. Mögliche Zusammenhänge zwischen Ereignissen auf den verschiedenen Dimensionen / Zeilen drängen sich fast auf. Als InterviewerIn wird man aber bei der Interpretation sehr zurückhaltend sein.
So entsteht im Laufe des Interviews eine vollständige Grafik, eine schematische Darstellung der Biografie. Und es werden einige Fragen aktualisiert: Wie ist mein Leben? Wo stehe ich jetzt? Was ist zu erwarten? Wie soll es weitergehen? War ich schon einmal in einer ähnlichen Situation? Wie habe ich das damals bewältigt? Was will ich bewahren, was anders machen?
Sehr interessant kann es sein, nach Erstellung des Zeitbalkens die Interviewten noch einmal zu bitten, nun eine Verlaufskurve zu zeichnen: Fast alle kennen Bilanzkurven, wissen, was es heißt, wenn die Kurve nach oben, wenn sie nach unten weist. Sie sollen nun den Zeitbalken mit einer solchen Kurve unterlegen.
Damit addieren wir zu den Daten noch eine kompakte subjektive Bewertung, die einiges an Überraschungen bringen kann.
Diese Diagnostik führt nicht zu einer eindeutigen Klassifizierung der PatientInnen oder ihrer Situation. Was wir erhalten, ist eine strukturierte Darstellung der Biografie, ein ausführliches Beratungsgespräch mit der Patientin bzw. dem Klienten, die Möglichkeit von Analyse und Interpretationen, und eine Fülle von möglichen Themen und Anknüpfungspunkten für die weitere Arbeit mit den Klienten.
Das Instrument bringt reiche Ernte. Wir haben es nicht erfunden, sondern es wurde bereits Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre in der niederländischen Sozialpsychiatrie eingesetzt als Teil des Intakes. Wir haben es ausgegraben, ein wenig aufpoliert und mit Interpretationsregeln versehen und der Fachwelt angeboten. Überraschenderweise wurde es zwar gelobt, aber seltener in der Praxis aufgegriffen als andere Verfahren.
Woran das liegt? Die Schlussfolgerungen für die weiteren Interventionsstrategien sind nicht so eindeutig, und das Verfahren ist relativ aufwändig. Man muss pro Erstellung eines Zeitbalkens mit mindestens 60 Minuten, wahrscheinlich aber deutlich mehr, rechnen. Nicht selten ist ein zweites Interview erforderlich. Einen solchen Aufwand leisten sich nur mehr wenige Einrichtungen.
Herr Ebner und Frau Lüdtke, zwei Studierende dieser Hochschule, verwenden den Zeitbalken in einem Projekt mit Drehtürpatienten der Psychiatrie. Sie erstellen ihn auf Basis der Vorakten und bereiten sich so auf ihre Klienten vor. Sichtbar werden Wiederholungen erfolgloser Interventionen, sichtbar wird eine Prozedierungsgeschichte. Das hilft, ausgetretene und erfolglose Pfade nicht neuerlich betreten zu wollen.
Lebenslagendiagnostik: die IC2
Nun müssen wir uns ein wenig von der Anschaulichkeit verabschieden.
Netzwerkkarten bilden die Beziehungen ab, die eine Person zu anderen Personen hat. Soweit so klar und so banal. Die Lebenslage, der Grad der Inklusion in diese Gesellschaft, der mögliche Zugriff auf Ressourcen des Gemeinwesens, das hängt aber nicht nur und nicht in erster Linie von persönlichen Beziehungen des sozialen Austauschs ab.
Das Instrument Inklusions-Chart, das ich Ihnen nun noch vorstellen will, ist tatsächlich eine Eigenentwicklung und es hat eine erfreulich positive Aufnahme im Praxisfeld gefunden.
Am Anfang der Entwicklung dieses Instruments stand die Unzufriedenheit mit der Praxis bei der Erstellung von Sozialanamnesen. Es wird oft einiges an Daten erhoben, vom Einkommen über die Wohnsituation bis zu den Familienverhältnissen. Wie sich daraus aber systematisch Interventions- und Unterstützungsschritte begründen ließen, bleibt oft unklar.
Die Inklusions-Chart umfasst 3 Dimensionen:
- Die Inklusion in wichtige Funktionssysteme der Gesellschaft
- die Existenzsicherung mit den Aspekten Wohnen, Lebensmittel und Sicherheit
- die Funktionsfähigkeit mit den Aspekten Gesundheit, Bildung/Wissen und Sorgepflichten
Damit sind die wesentlichsten Elemente der Lebenslage abgebildet, in denen Interventionen sinnvoll und erfolgreich sein können.
die erste Achse: Inklusion
Es werden Niveau und Tendenzen der Inklusion der KlientInnen in relevante gesellschaftliche Funktionssysteme auf einer einfachen 5-stufigen Skala erfasst, daneben wird die derzeitige Tendenz festgehalten und schließlich in einer Textspalte der Stand kurz erläutert.
Inklusion, das erfasst den tatsächlichen Stand der Zugänglichkeit von lebensführungsrelevanten Funktionssystemen, vorerst unabhängig davon, ob die Gründe für teilweise oder vollständige Ausschlüsse in der Person der KlientInnen oder in ihrer Umwelt liegen. Es ist sozialarbeiterisch, weil es nicht Personen diagnostiziert, ihnen keine „Eigenschaften“ zuschreibt, sondern weil es eine Person-Umwelt-Relation in den Blick nimmt. Die Frage, wo denn nun das „Defizit“ liege, beim System oder beim Klienten / der Klientin, die bleibt aus einem guten Grund unentschieden.
Betrachtet man dieses Beispiel, so sehen wir z.B. eine weitgehende Exklusion der Klientin aus dem Gesundheitswesen. Dessen Leistungen sind ihr derzeit kaum zugänglich. Das liegt daran, dass sie unter den Bedingungen ihrer Adipositas bereits eine Serie von schlechten Erfahrungen mit Repräsentantinnen und Repräsentanten des Gesundheitswesens gemacht und sie sich deshalb eine Strategie der Vermeidung solcher Kontakte zurechtgelegt hat. Man könnte nun moralisierend den de-facto-Ausschluss der Klientin von den Leistungen des Gesundheitswesens als Folge ihrer Coping-Strategien betrachten und ihr zurechnen. Man könnte aber auch sagen, dass die Konstruktion des Gesundheitswesens für PatientInnen wie Frau Czech nicht geeignet ist, dass das Gesundheitswesen bestimmte Personen systematisch abstößt. Schließlich kommen die persönlichen Vermeidungsstrategien nicht aus dem Nirgendwo, sondern entspringen persönlichen Erfahrungen. Und das Gesundheitswesen hat noch keine Verfahren entwickelt, um solche Personen zu erreichen, tut sich leicht mit der Fremdattribuierung von Schuld.
Der Radiosender Ö1 hat anlässlich des Todes von Christoph Schlingensief ein langes Gespräch mit ihm wiederholt, das 2009 aufgenommen worden war. Darin schildert er die Abwertungen und Respektlosigkeiten, die ihm von so manchen VertreterInnen des Gesundheitswesens widerfahren sind. Seine Berichte geben eine Ahnung davon, wie es mitunter statusniedrigeren Personen gehen muss, und was für Folgen das für deren Bereitschaft, Hilfe zu suchen und anzunehmen, wohl hat.
Für die Arbeit mit der Klientin bleibt die beste Wahl, die Schuldfrage offenzulassen, die Nichtpassung zu konstatieren und eine Doppelstrategie zu fahren: Einerseits wird man medizinische Einrichtungen suchen, die sich gegenüber Klientinnen wie dieser inklusiv verhalten, man wird also Anschlussmöglichkeiten zu finden versuchen. Andererseits wird man mit der Klientin an ihrer Bereitschaft arbeiten, Hilfe anzunehmen, wo sie Hilfe braucht. Genau diese Doppelstrategie ist charakteristisch für gelingende Soziale Arbeit, und genau eine solche Doppelstrategie wird durch dieses Instrument begünstigt, nahegelegt und diagnostisch begründet.
Für die Interventionsplanung gilt eine Faustregel: Man sollte maximal 3 Interventionsthemen parallel angehen. Zuerst wird dort interveniert, wo eine akute Verschlechterung droht. Dann kann es um eine weitere Intervention dort gehen, wo die Tendenz auf Ausschluss zeigt. Und schließlich sucht man sich eine Dimension mit einer positiven Tendenz, wo leicht weitere Erfolge zu erzielen sind.
Die Stärke des Instruments liegt sicher darin, dass es einen raschen Überblick über die Inklusion der KlientInnen liefert und Gefahrenmomente sichtbar macht. Es ist nach kurzer Einarbeitung durch Personen mit einem einschlägigen professionellen Hintergrund leicht handhabbar.
Wir dachten, dass die IC Im Gegensatz zur Netzwerkkarte nicht für kooperative Diagnostik geeignet sei. Inzwischen wurden wir eines besseren belehrt. Es liegen mir eine Reihe Berichte von Praktikerinnen vor, die das Formular auf den Tisch legen und sich gemeinsam mit den Klienten daran abarbeiten. Wir haben das dann im Labor selber probiert, und siehe da, es funktioniert tatsächlich.
Hier ist eine wichtige Klarstellung erforderlich: Die diagnostischen Verfahren, die ich vorschlage, dienen der Abbildung der realen Situation, nicht der Abbildung des Abbilds im Kopf der KlientInnen. Anders gesagt: Es geht um die reale Inklusion/Exklusion, nicht um die „gefühlte“.
Der Grad der Inklusion kann grundsätzlich an beobachtbaren Merkmalen festgemacht werden. Hinweise darauf finden sich im Manual. Die gemeinsame Arbeit an der InklusionsChart (aber auch am Biographischen Zeitbalken und an der Netzwerkkarte) enthält damit Elemente der Konfrontation. Würde man sie bloß als Instrumente der Selbsteinschätzung der KlientInnen verwenden, dann gäbe man freiwillig eine mächtige beraterische Dimension aus der Hand. Pathetisch gesprochen: Sie sind richtig angewandt Instrumente der Aufklärung. Das unterscheidet die Netzwerkkarte von einer Familienaufstellung, den Biographischen Zeitbalken von einem narrativen biographischen Interview. Die Netzwerkkarte enthält in ihrer bildhaften Eindringlichkeit zwar Elemente von Aufstellungen, bei der Erstellung des Zeitbalkens werden Narrative quasi als Nebenprodukt entstehen. Gemeinsam ist ihnen aber der systematische Rückbezug auf Daten und Fakten. So auch bei der Inklusions-Chart: Es werden nicht Selbst- und Fremdeinschätzung gegenübergestellt, sondern es wird auf die beobachtbaren Fakten Bezug genommen, die Einschätzung erfolgt letztlich durch die SozialarbeiterInnen.
Im begleitenden Gespräch kann deutlich werden, dass die Klientin ihren Ausschluss aus den Leistungen des einen oder anderen Funktionssystems als „nicht so schlimm“ sieht, nicht ändern will, oder für selbstgewählt hält. Der Fakt der Exklusion ist trotzdem Teil ihrer Lebenslage und festzuhalten. Um ein einfaches Beispiel zu wählen: Die 65-jährige, die nicht mit Computern umgehen kann und keinen Zugang zum Internet hat, mag das nicht als Mangel empfinden. Tatsächlich ist sie aber aus vielem ausgeschlossen, was inzwischen zum selbstverständlichen Arsenal der Informationsbeschaffung, der Kontaktpflege und der Erledigung von lebenspraktischen Aufgaben zählt.
Noch ein Element des Diagnostik-Verständnisses: Die Inklusion zu erreichen, so es denn möglich wäre, ist kein Zwang, sondern eine Möglichkeit. Ohne die Bereitschaft der Klientin, sich mit dem Computer auseinanderzusetzen, wird die Verordnung eines Kurses möglicherweise exkludierende Wirkung haben.
In der zweiten Achse interessiert die Existenzsicherung.
Wie Sie sehen, wird hier neben dem Niveau auch der Grad der Substitution verzeichnet. Substituiert wird, was jemand nicht aus eigener Leistung sich organisieren kann. Im zweiten Beispiel sorgt der Vater für die Wohnung seines fast 30-jährigen Sohnes.
Was unter adäquatem Wohnen zu verstehen ist, wird im Manual expliziert:
Unter sicherem und adäquatem Wohnen ist das Vorhandensein einer geeigneten Unterkunft zu verstehen: Ein heizbarer Raum mit Bett; mit Möglichkeiten, den Besitz sicher und ohne Zugriff durch andere aufbewahren zu können; Raum und Möblierung, um sich ungestört erholen zu können oder anderen Tätigkeiten nachzugehen, die gemeinhin mit „Wohnen“ assoziiert werden (Gestaltung des Raumes, Lesen, Fernsehen, Musik hören, Schreiben, Gäste empfangen und bewirten, Kochen, für die eigene Körperhygiene sorgen, ungestörte intime Kommunikation, Haustiere halten etc.).
Ähnliche Definitionen werden für die hier weit verstandenen Kategorien „Lebensmittel“ und „Sicherheit“ bereitgestellt.
Als dritte und letzte Achse wird die Funktionsfähigkeit eingeschätzt. Hier sind wir am nächsten bei den klassischen Domänen medizinischer Diagnostik, allerdings in verdichteter Form und vorrangig unter dem Aspekt von Lebensführung und Lebensqualität. Für eine realistische Einschätzung möglicher Chancen und Ziele kann darauf nicht verzichtet werden. Ganz nebenbei gesagt: niemand verzichtet wirklich darauf. Alle SozialarbeiterInnen schätzen sehr wohl ein, wie „fit“ ein Klient ist. Ich plädiere dafür, solche Einschätzungen nicht nur quasi heimlich zu treffen, sondern sie explizit zu machen. Was explizit ist, ist diskutierbar und kritisierbar, kann reflektiert werden. Ich kenne zahlreiche Fallbeschreibungen, in denen diese Komponente gar nicht vorkommt. Erst nach längeren Gesprächen wird deutlich, was die Kolleginnen den Klienten aufgrund ihrer Voraussetzungen und ihrer Ausgangsposition zutrauen oder nicht zutrauen.
Daher halte ich es für wichtig, auch hier zu einer Kultur der Offenheit zu kommen. Einer Offenheit sich selbst gegenüber, aber auch dem Klienten gegenüber.
Die 3. Achse im IC2 fokussiert auf die physische und psychische Gesundheit, auf den verfügbaren Bildungsstand, auf Sorgepflichten. Und sie schließt mit einer Skalierung der sozialen Funktionsfähigkeit, die dem DSM IV entnommen ist, der Global Assessment of Functioning Scale.
Um das Verständnis deutlich zu machen: Ich nehme hier gerne ein systemisches Verständnis zu Hilfe. Für die KlientInnen als entscheidungsfähige Personen, die versuchen, ihr Leben zu führen, sind ihre körperliche und psychische Verfasstheit eine Rahmenbedingung, sind Umwelt. Denken Sie an die letzte Krankheit, mit der Sie kämpfen mussten. Sie haben sich diese Krankheit nicht ausgesucht, sie ist gekommen. Sie hat gestört. Und Sie haben versucht, unter den Bedingungen dieser Erkrankung den Zusammenhang Ihres Lebens aufrecht zu erhalten. Sie war eine Umweltbedingung, allerdings eine, die Ihnen unangenehm nahe kam[i].
Man kann die IC2 als hochverdichtetes Klassifikationssystem verstehen. Sie enthält in ihren Achsen und Dimensionen systematisiert die wesentlichen Interventionsbereiche der Sozialen Arbeit – und zwar, was ungewöhnlich ist, auch jene, die mit materiellen Hilfen und dem Zugang zu gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten bzw. der Daseinsvorsorge zu tun haben.
Wie jedes Klassifikationssystem ermöglicht sie auch die statistische Auswertung. Dazu ein Beispiel: Die Unternehmensberatung Pro-spect hat in Zusammenarbeit mit mir die InklusionsChart für das Wiener Pilotprojekt zur Einführung der bedarfsorientierten Mindestsicherung in Österreich etwas vereinfacht und umgearbeitet. So wurden im Laufe eines Jahres Daten zu Aspekten der Lebenslage von sogenannten arbeitsfähigen SozialhilfebezieherInnen gesammelt. Gleichzeitig diente und dient das Instrument als Mittel der individualisierten Hilfeplanung.
Die KlientInnen kriegen jetzt auch ein Statuspapier in die Hand. Die digitale Erfassung ermöglicht die automatische Produktion dieses Papiers nach dem Statusinterview. Die Formulierungen auf diesem Statusbericht sind anders, man verzichtet dort auf Fachterminologie.
Die Erfahrungen machten deutlich, dass hier nicht explizit ausgeworfene Faktoren wie z.B. Migrationshintergrund oder schlechte Beherrschung der Landessprache sich in Exklusion und Problemen bei der Existenzsicherung abbilden. Ev. wäre zu überlegen, der IC2 bei den Grunddaten noch Elemente hinzuzufügen, die wesentliche Prädiktoren für Inklusions-Chancen sind: Familienstand, Aufenthaltsstatus, Sprachbeherrschung.
Wie wir wissen, bilden sich statistisch gesehen diese Rahmenbedingungen je nach der Verfasstheit der gegenwärtigen Gesellschaft im Grad der Inklusion und im Niveau der Existenzsicherung ab. Sozialarbeiterisch gesehen sind aber nie diese personellen Rahmenbedingungen das Problem. Die unhintergehbare Grundannahme der Sozialen Arbeit ist, dass unter allen Voraussetzungen Inklusion und Existenzsicherung möglich sein müssen. Wir suchen Wege dorthin. Und wenn wir die Lebenssituation von KlientInnen diagnostisch durchleuchten, dann begeben wir uns auf die Suche nach solchen Wegen, und seien sie noch so verwachsen, schwierig zu finden und noch schwieriger zu begehen.
Daher ist es auch eine unvermeidliche Begleiterscheinung von Sozialer Arbeit, dass sie sich über gesellschaftliche Zustände empört, die Inklusion und Existenzsicherung für bestimmte Personengruppen verunmöglichen. Die Empörung speist sich aus dem Gegenstand unserer Arbeit. Wir empören uns darüber, dass unsere Arbeit erschwert und manchmal gar verunmöglicht wird. Das ist eine sachliche und fachliche Empörung. Wenn wir uns auf unsere Arbeit konzentrieren, können wir gar nicht anders. Fehlt die Empörung, müssen wir uns fragen, ob wir überhaupt noch Sozialarbeit machen.
zum Schluss
Wie Sie an den hier vorgestellten Beispielen sehen: Soziale Diagnostik ist keine Diagnostik von Persönlichkeitsmerkmalen, auch keine Diagnostik von Krankheiten. Es ist eine Diagnostik von Lebenssituationen. Wir bezeichnen sie als relationale Diagnostik, weil sie immer von Relationen zwischen Mensch und Umwelt handelt. Die Tatsache der Sucht, der medizinisch diagnostizierten Schizophrenie etc. wird nicht entwertet, nicht ignoriert, aber in einen Rahmen der sozialen Lebensbewältigung gestellt.
Diese und die weiteren diagnostischen Verfahren, die wir vorschlagen, sind getragen von einem Konzept der Sozialen Arbeit. Einem Konzept, das die klassischen Kernbereiche der Tätigkeit nicht links liegen lässt, sondern ins Zentrum holt. Gesellschaftliche Leistungen zugänglich machen, Existenz sichern, an den sozialen Beziehungen arbeiten. Soziale Arbeit als Arbeit an Inklusion. Sie sind sinnvoll in diesem methodischen Kontext.
Ziel ist, nicht nur die individuellen Unterstützungsleistungen des Sozialwesens, sondern auch die sozialen Unterstützungskomponenten im Gesundheitswesen auf eine solide fachwissenschaftliche Basis zu stellen. Und wie es der Tradition der Sozialen Arbeit entspricht, soll das auf Basis von Beteiligung, Respekt und Individualisierung erfolgen – und im Wissen, dass institutionelle Hilfen zwar wichtig, aber keineswegs immer der Weisheit letzter Schluss sind, sondern nur eine Stärkung der Autonomie der Patientinnen / Klienten und ihres sozialen Umfelds die Lebensqualität nachhaltig verbessern kann.
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Hans-Georg Gadamer
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[i] Danke Peter Buttner für einen beachtenswerten Einwand: Person und Körper können nicht völlig voneinander getrennt werden, u.a. deswegen, weil die Person ohne ihre „Hardware-Basis“ überhaupt nicht denkbar ist. Insofern ist es nur logisch, dass Personen Merkmale ihres Körpers in ihre Identitätskonstruktion aufnehmen, sie nicht als „Umweltbedingung“, sondern als ihnen wesenseigen betrachten. Dem könnte man entgegenhalten, dass es eine Entscheidung der Person (des „autonomen Zentrums“) bleibt, welche der Körpermerkmale sie der eigenen Identität zurechnet und welche nicht. Aber unabhängig von der Identitätsfrage bleibt der Fakt bestehen, dass ich meine Tätigkeit unter der Bedingung meines physischen und psychischen Zustandes entfalten muss. Dieser ist ermöglichend und begrenzend, wie auch immer er ist. Mein Körper und meine psychische Verfassung sind eine unhintergehbare (aber nicht immer unbeeinflussbare) Ausgangsbedingung meines Handelns.