Texte

... sie befinden sich bei Leuten, die sie nicht eingeladen haben.

Gedanken zur Feldforschung im Studium der Sozialen Arbeit anhand eines Interviews mit Olivier Mongin

Peter Pantucek, im Jänner und August 2011

Referenz:
Breton, Stéphane / Mongin Olivier (2010): Orte, Blicke, Bilder. Die Kunst des Dokumentarfilms oder vom Umgang mit der Welt. Gespräch mit Olivier Mongin. In: Lettre International, Winter 2010. S. 72-77.

 

Olivier Mongin ist Ethnologe und zuletzt als Dokumentarfilmer bekannt geworden. Er gibt die DVD-Reihe „L´usage du monde“ heraus. Er grenzt seine Arbeit als Dokumentarfilmer von der als Ethnograph ab:

„… da ist nichts, was uns eine Stimme sagen könnte, die irgendwo anders hockt. Es geht also nicht darum, zu verstehen, sondern darum, zu spüren“ (72).

Mit einer Filmkamera zu reisen, sich an fremde Menschen heranzumachen, das ist vorerst ein sehr dramatisches Eindringen in die Welt von anderen. Als interessierte FeldforscherInnen (zum Beispiel als SozialarbeiterInnen, die fremde Lebenswelten kennenlernen wollen) sind wir weniger auffällig unterwegs und tragen keine weithin sichtbare Kamera mit uns herum. Wir fallen trotzdem auf. Unsere „Kamera“ ist unsere Unbekanntheit, unsere sichtbare Neugier. Wir sind nicht so auffällig bewaffnet wie der Dokumentarfilmer, stehen aber vor den gleichen Problemen und haben ein ähnliches Ziel:

„… kann dieses Eindringen nicht gelingen, wenn es nicht letztlich von denen erwidert wird, die es erleiden. (…) Man hört oft, ein Dokumentarfilm sei dann lebendig und gerecht, wenn die Kamera vergessen wird. Das ist völlig falsch. Zunächst wird die Kamera von denen, die sie filmt, niemals vergessen. Halten wir die Leute nicht für blöd. Die Kamera ist ein Anhängsel, das so lästig ist und vor Falschheit schreit wie ein toter Esel. Die ist sichtbar wie die Nase im Gesicht. Die Kamera soll nicht vergessen, sondern angenommen werden. Angenommen worden sein heißt, dass der Filmende seinen Platz gefunden hat, dass der Ethnograph seinen Platz gefunden hat, dass der Reisende seinen Platz gefunden hat. Seinen Platz finden heißt, in eine soziale Beziehung einzutreten, die eine Bedeutung hat; es heißt, da zu sein.“ (74)

Oder andersrum:

„Der Dokumentarfilmer und der Ethnograph haben etwas gemeinsam: die Erfahrung des Feldes. beide befinden sich bei Leuten, die sie nicht eingeladen haben, und bemühen sich zu begreifen, was da geschieht. Eine einzige Methode: akzeptiert werden, Augen und Ohren öffnen, lange am Ort bleiben, dann die Dinge in Szenen und Bilder umsetzen.“ (72)

Auf die Frage, welche Fallen man vermeiden müsse, weiß Mongin eine eindeutige Antwort:

„Für uns alle galt die Regel: Kein Interview! Das Interviouve, um es wie Raymond Queneau zu schreiben, versucht immer die Zeitlichkeit seiner eigenen Frage aufzudrängen, das Drängen seiner eigenen Unruhe. Das Interviouve spricht nur von dem, der filmt, nicht von dem, der gefilmt wird. Es ist eine Erfindung aus dem Studio, nicht aus dem Feld. Es ist ein Sprachspiel, entstanden aus einer im voraus fabrizierten Idee von dem, was man im Gespräch herausfinden möchte: Informationen – Punkt, das ist alles. Die Idee dazu ist einem bei sich zu Hause im Warmen gekommen und nicht, während man den Leuten zugehört oder mit ihnen gesprochen hat. Wenn man jemanden interviewt, dann achtet man nicht auf seine Antwort; man hofft bloß darauf, dass er die paar Schlüsselwörter ausspuckt, die man braucht, um den eigenen Diskurs zu untermauern. Es ist die Negation des Wortes.“ (72)

Hier ist es wohl angebracht, eine Kritik der derzeit gängigen soziologischen Methodik, z. B. des in seinen Auswirkungen schrecklichen „Kodierparadigmas“ oder ähnlicher Ansätze, anzudeuten, vor allem im Hinblick auf die künftige Heranführung von Bachelor-Studierenden an Forschung und Wissenschaft.

Zuerst: Waren früher Fragebogen die einzige Erhebungsform, die als „wissenschaftlich“ angenommen wurde, ist es in den letzten Jahren zusehends das „Interview“. Letzteres vor allem in seiner rigiden Form mit Transkriptionszwang und anschließender Zerstückelung in Aussagehäppchen. Die Attraktivität des einen wie des anderen scheint mir vor allem darin zu liegen, dass beide Formen einen riesigen Abstand zwischen der Forscherin und den Beforschten legen. Sie ersparen der Forscherin, eine Beziehung einzugehen bzw. auf das einzugehen, was von den Beforschten gesagt/geschrieben wird. Diese Distanz wird als Objektivität missverstanden.

Beim Interview bleibt aber ein Rest von Irritierbarkeit aufrecht. Anders als beim Fragebogen bleibt den Interviewten die Möglichkeit, ihre eigenen Erzählungen einzubringen und so die Fragen zu unterlaufen. Diese Irritationsmöglichkeit wird aber durch die pseudoobjektive Form der „Kodierung“ wieder beseitigt. Die Forscherin ist wieder Beherrscherin des Textes. Während bei der Sequenzanalyse der objektiven Hermeneutik wenigstens noch die Sequentialität des Textes, seine Bezogenheit auf das zuvor Gesagte, sichtbar bleibt, wird auch dieser Kontext zerstört, vom Kontext der Sprecherin ganz zu schweigen. Es handelt sich so betrachtet um eine Technik der Erkenntnisabwehr, nicht der Erkenntnisfindung.

Das wäre noch entschuldbar, wenn es sich nicht im Kontext der Sozialen Arbeit und ihrer Wissenschaft ereignen würde. Eine der wichtigsten Fertigkeiten, die man als SozialarbeiterIn benötigt, ist genau jene, die hier sorgfältig vermieden und implizit als scheinbar „unwissenschaftlich“ gebrandmarkt wird. Es ist dies die Fähigkeit, verstehend zuzuhören, einen gesprochenen Text auch als Beziehungstext zu „lesen“ und sich zu bemühen, ihn im Kontext der Welt, aus der heraus er gesprochen wird, zu erfassen. Dafür ist auch ein Blick auf diese Welt erforderlich.

Damit können wir wieder zu unserem Dokumentarfilmer Mongin zurückkehren:

„Es gibt nicht nur die Leute, sondern auch ihre Welt. Auch da sind wir nicht weit von Wittgenstein: Kein Satz ist ohne Grammatik möglich; und ich füge hinzu: kein ´Akteur´ ohne eine umfassendere Gesellschaft, die ihm die Norm seiner Handlungen und seine Sprache gibt. Denn wir müssen uns sehr wohl dessen bewusst sein, dass der Ausdruck unserer unhintergehbaren Singularität – nämlich die Worte, die aus unserem Mund kommen –, dass wir die nicht erfunden haben. Die Worte gehen uns voraus, sie existieren vor uns, und wir sind nur wir selbst, weil wir eine Sprache sprechen, die nicht von uns kommt. Diese Entfremdung ist die Regel unserer persönlichen Freiheit. Das ist meine Überzeugung als Anthropologe – eine Überzeugung, die ich von Durkheim und Mauss übernommen habe.“

Und hier wäre erläuternd zu ergänzen (damit das nicht naiv als „no na-Aussage“ gelesen wird): Es sind nicht nur die Worte, die uns vorausgesetzt sind, sondern auch die möglichen Sätze [1]. Ein Großteil der Sätze, die wir und unsere KlientInnen sprechen, sind Sätze, die wir von anderen übernommen haben und von denen wir wissen, dass sie sozial akzeptiert sind.[2]

Und noch ein wichtiger Hinweis kommt von Mongin, er stellt das „Verstehen“ in Frage, und das ist für die Soziale Arbeit essenziell. Ich versuche schon seit einiger Zeit klar zu machen (und will das demnächst in einem Text etwas ausführlicher begründen), dass das Nicht-Verstehen eine wichtigere Funktion hat, als das Verstehen. Mongin erklärt das anhand von Bildern:

„Es heißt, wir leben in einer Kultur des Bildes – aber nichts ist falscher. Denn die Bilder, die uns umgeben, sind keine Bilder, die man kennenlernen könnte, wenn man sie anschaute – es sind saturierte Bilder: schon bekannt, schon erklärt, schon mit Bedeutungen ausgestattet und auf diese beschränkt, so wie eine Postkarte mit dem Eiffelturm drauf. Ein Bild ist saturiert, wenn es augenblicklich wahrgenommen wird; wenn es verstanden wird, ohne genau betrachtet zu werden; wenn es zu dem, was es zeigt, koextensiv ist. Wenn man den Eiffelturm auf dem Bild gesehen hat, dann hat man verstanden, dass das Bild den Eiffelturm bezeichnet. Diese Evidenz lässt uns sofort zum nächsten übergehen.“ (74)

Ähnlich ist es mit dem „Verstehen“ von Äußerungen oder Handlungen der KlientInnen – nur, dass die nicht so banal sind wie eine Postkarte. Hier liegt die Crux also nicht im banalen oder „saturierten“ Bild, sondern im oberflächlichen Blick der BetrachterInnen. Der Fall scheint bereits bekannt zu sein, sobald man ihn einer Kategorie zuordnen konnte. Man meint, zu anderem übergehen zu können, zum Beispiel zur sogenannten Hilfeplanung. Auch eine solche Vorgangsweise wird fälschlicherweise oft als „wissenschaftlich“ oder „wissenschaftsgeleitet“ missverstanden, wodurch sie höhere Weihen erhält. Dem gegenüber wäre Nicht-Verstehen als Gewohnheit einzuüben. Begreifen erfordert hinhören, sich auf die Logik des Gesagten einlassen, auf Zwischentöne zu hören, den Kontext mitzudenken oder auf ihn neugierig zu sein. Nicht-Verstehen ist die Voraussetzung von Kommunikation und Bedingung der Möglichkeit des Begreifens.

Eine Frage, die Studierende oft bewegt, ist die, ob es erlaubt sei, Leute anzuschauen, ihnen neugierig zu begegnen und so in ihre Welt einzudringen. Dazu Mongin aus der Position des Dokumentarfilmers:

„Der Voyeurismus entsteht, wenn man kein Recht hat, hinzuschauen, und sich hinter einem Vorhang, einem Presseausweis oder einer Prise Einmischung versteckt. Nun haben die Menschen aber den Wunsch, sich auf der Straße anzugucken. Es ist der menschlichen Spezies im Gegensatz zu den Kellerasseln eigen, den Blick des anderen zu brauchen. Es hieß, der Mensch sei nach dem Bilde Gottes geschaffen. Übertragen wir das in unsere Zeit und machen wir uns nichts vor. Ein Kind wächst nicht, wenn man es nicht anschaut. Eine Frau oder ein Mann werden nicht geliebt, wenn man sie nicht anschaut. Der Blick ist die Nahrung der Seele. Ich grüße gerne Leute in ihrem Garten, ohne eine Einladung dazu erhalten zu haben, und ziehe mich dann auf Zehenspitzen zurück.“ (74)

Eine Prise Einmischung – das ist wohl der Vorhang, den die Soziale Arbeit bevorzugt.[3]

Und noch einmal deutlicher mit dem Hinweis, dass es sich um ein Beziehungsgeschäft handelt:

„Ich denke, der Ethnologe und der Filmer (und die Sozialarbeiterin! Anmerkung PP) haben nur dann das Recht, zu schauen – oder es gelingt ihnen überhaupt nur dann –, wenn sie akzeptieren, dass man sie ebenfalls anschaut.“ (76)

Wie der Dokumentarfilm im Sinne von Mongin ist die Soziale Arbeit ein Geschäft, das gut und angemessen nur funktioniert, wenn jene, die es betreiben, nicht nur in ihrer beruflichen Rolle, sondern als ganze Menschen in der Situation sind, wenn sie eine Beziehung eingehen. Mongin handelt diese Frage in der Unterscheidung zwischen Journalismus, fiktionalem Film und Dokumentarfilmer ab:

„Ein Journalist ist bereit, die Agonie eines Menschen zu filmen, weil er die ethische Verantwortung nicht kennt, die sich aus der Tatsache ergibt, dass er anwesend ist. Einem Dokumentarfilmer würde sich der Magen umdrehen; denn eine Agonie filmen heißt, einen Menschen ganz allein abkratzen zu lassen. Ein fiktionaler Film kann hingegen den Tod filmen, und niemand wird es ihm vorwerfen, denn der Tod ist vorgetäuscht.“ (75)

Die Perspektive des Dokumentarfilmers ermöglicht es, einen Aspekt der Sozialen Arbeit, nämlich ihr neugieriges Eindringen in fremde Welten, isoliert zu betrachten. Und das fast noch besser, als die Perspektive der EthnologInnen. Sind letztere WissenschafterInnen, ist der Dokumentarfilmer ein Handwerker. Er ist nicht gezwungen, am Ende Theorie zu produzieren. Das hat er mit SozialarbeiterInnen gemeinsam. Was hier nicht abgehandelt werden konnte, ist der Fakt, dass SozialarbeiterInnen auch intervenieren müssen. Dieser Aspekt wirft noch eine ganze Reihe von zusätzlichen – und durchaus schwererwiegenden – Fragen auf. Trotzdem: Die Frage der Annäherung an andere Menschen und soziale Welten ist essenziell und konstitutiv. Wenn die nicht gelingt, dann werden Interventionen nur Varianten von Herrschaftstechnik sein.

Feldstudien im Rahmen der Bachelor-Ausbildung sind so verstanden also eine Grundlage für alle weiterführenden methodischen Fertigkeiten. Eine Hoffnung bleibt: Auch wenn die Studierenden mit falschen Vorstellungen, mit falscher Selbstgewissheit, mit einem schichtspezifisch bornierten Blick in ihre Feldstudien gehen, wirken doch die Menschen im Feld oft als wirkmächtige Erzieherinnen und Erzieher. Vorausgesetzt, die Exkursion aus der eigenen Lebenswelt hinaus bleibt nicht eine einstündige Episode, sondern wird wiederholt und wiederholt und wiederholt.

Was mich zum Abschluss dazu bringt, wieder einmal für die Sozialreportage im Bachelor-Studium eine Lanze zu brechen (ev. auch als Bachelor-Arbeits-Format).


[1] ja, das wird vom inzwischen kaum mehr bekannten Deutungsmusteransatz thematisiert, aber auch vom netten Modell der „Meme“.

[2] Eine diesbezüglich interessante Übung mit Studis ist es, zu einem Thema unter Zeitdruck alle Meinungssätze zu sammeln, die einem einfallen (die man schon einmal gehört hat). Am besten zuerst alle Sätze (Argumente) pro, dann alle Sätze (Argumente) kontra. Beides mit Ernsthaftigkeit. Am besten eignen sich dafür Themen aus dem aktuellen Diskurs (z.B. Schulreform) und solche der Lebensführung.

[3] Man könnte die paradoxe Anweisung formulieren, dass die Bedingung einer erfolgreichen Einmischung der Verzicht auf Einmischung ist. Etwa so: Ich verzichte auf Einmischung, solange mir nicht von den (fremden) AkteurInnen eine Rolle zugeteilt wird, aus der heraus meine Beiträge als bedenkenswert angenommen werden können. Es könnte also eine Phase geben, in der mein einziges Ziel ist, in eine solche Rolle zu kommen. In dieser Phase bin ich demütiger Fremder, bin ich zuerst der/die Lernende.