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Bedrohte Professionalität?
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- Erstellt am Samstag, 17. Dezember 2016 12:42
Welche Professionalität? Über Gegenstand und Missverständnisse.
Pantuček-Eisenbacher, Peter (2015): Bedrohte Professionalität?. In: Becker-Lenz, Roland / Busse, Stefan / Ehlert, Gudrun / Müller-Hermann, Silke (Hg.): Bedrohte Professionalität. Einschränkungen und aktuelle Herausforderungen für die Soziale Arbeit. Wiesbaden. S. 29-42.
Peter Pantuček-Eisenbacher
Im Diskurs der Sozialen Arbeit spielt die Rede über Professionalität eine seltsam dominante Rolle – das allein mag schon als Zeichen der Bedrohung gelten. Zu reden ist schließlich vor allem über das, was nicht die selbstverständliche tägliche Grundlage des beruflichen Lebens ist. Das Wort Professionalität eignet sich zudem gut für Debatten aller Art: Es ist hinreichend unbestimmt und schillernd, sodass es nahezu nach Belieben mit Bedeutungen aufgefüllt werden kann. Szenarien der Bedrohung erleichtern es zudem, sich der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (hier jener der „Professionellen“) zu vergewissern. Sie sind Identitätskrücken. Im deutschen Sprachraum scheint der Diskurs der Sozialen Arbeit immer wieder um solche „großen“ und „schweren“ Begriffe zu kreisen. Man nehme z.B. die Themenhefte der „neuen praxis“. Da ging es im Sonderheft 10 um die Identität, im Kommenden wird die „Normativität“ das Thema sein. Und hier also die „bedrohte Professionalität“.
Die größte Chance, eine Debatte auf wissenschaftliches Stammtischniveau zu bringen, liegt darin, bei allgemein bekannten Begriffen so zu tun, als sei „eh klar“, was damit gemeint sei. So als läge ein wissenschaftlicher Terminus vor, dessen Bedeutungshorizont im Debattenkontext hinlänglich genau definiert und bekannt sei. Im Falle von „Professionalität“ kann man nicht von einer hinreichenden Klarheit ausgehen, trotz (oder wegen) der zahlreichen Bände, die schon darüber geschrieben wurden. Die Bedeutung changiert zwischen der ganz unprätentiösen „Beruflichkeit“ (also dem schlichten Fakt, dass es sich um eine Tätigkeit handelt, die als Beruf ausgeübt wird und eine Ausbildung erfordert) und Vergleichen mit den „klassischen“ Professionen, die sich auf die Professionstheorie nach Parsons beziehen., Schließlich kann „Professionalität“ als Chiffre für eine vorgestellte Qualität der Berufsausübung dienen, wobei diese Vorstellung in der Regel auch eine relative Unabhängigkeit der Fachkräfte gegenüber den sie beschäftigenden Organisationen einschließt. Für die Zwecke dieses Beitrags werde ich mich auf das letztgenannte Verständnis beziehen – ohne zu behaupten, dass damit eine klare Definition geliefert wäre.
Relative Unabhängigkeit ergibt sich aus der Sachlogik
Ausgebildete Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter machen in der Regel keine Fließbandarbeit. Ihre Tätigkeit, als bloße routinierte Regelanwendung vorgestellt, verlöre ihren Sinn. Wofür sie ausgebildet sind, ist die Bearbeitung jener „Fälle“, die eben nicht einfach routiniert zu erledigen sind. Ilse Arlt sprach von „schematischer Hilfe“ (Arlt 2010; Erstausgabe 1921), die eben nicht die Aufgabe der Fachkräfte sei. Das schon von ihr vorgeschlagene Prinzip der individualisierten Hilfe erfordert einen Freiraum in der Fallbearbeitung, die nicht völlig durch Regeln determiniert sein darf. Dadurch entsteht jedoch kein regelfreier Beziehungsraum. Neben all jenen Regeln der Gesetze und der sozialen Normen, die für alle Menschen gelten, sind es vor allem zwei Regeltypen, die für die sozialarbeiterische Praxis relevant sind: 1) die Regeln der Organisation, in die die Soziale Arbeit eingebettet ist; 2) die Regeln des Faches (der Profession, wenn man so will). Während die Organisation Mittel in der Hand hat, ihre Regeln durchzusetzen, gilt das für das Fach / die Profession nicht. Die Wirksamkeit der Professionsregeln hängt ab von der intrinsischen Verpflichtung der Akteure gegenüber dem beruflichen Ethos und Wissen, und wird im günstigen Fall gestützt durch Elemente professioneller Organisation (fachliche Leitung, Teams, formalisierte oder informelle Intervision, Phasen fachspezifischer Weiterbildung).
Zwischen dem Organisationsregulativ und dem Professionsregulativ kann es im günstigen Fall größere Überschneidungen geben, im ungünstigen Fall ergeben sich Konflikte oder ein Überwiegen organisationaler Regelungen und Konditionalprogramme[1], die die erforderliche fallbezogene Autonomie bis auf einen kleinen Rest eliminieren.
Damit ist auch schon klargestellt, dass eine professionelle Autonomie der Fachkräfte keine persönliche Autonomie, kein Freiraum des Subjektivismus ist und sein kann, sondern ein Freiraum der Fachlichkeit. Die Handlungen, die unter Inanspruchnahme dieses Freiraums gesetzt werden, sind ihrerseits begründungsbedürftig und bei Nachfrage begründungspflichtig. Das Referenzsystem für die Begründungen sind die Regeln und der Wissensstand der Profession.
Unterlaufen wird dieses Verständnis fachlicher „Subjektivität“ durch die Gegenstände, an denen sich Soziale Arbeit abzuarbeiten hat. Wie spätestens von der „lebensweltorientierten“ Schule verdeutlicht wurde, sind es Fragen des Alltags bzw. der Lebensführung, die im Zentrum der professionellen Aufmerksamkeit stehen. Für solche Fragen liegen den Beteiligten (Klientinnen und Klienten, den agierenden Profis und anderen Fallbeteiligten) immer schon Deutungen aus dem Arsenal des Alltagsverständnisses und Alltagswissens vor. Der „common sense“ ist kaum hintergehbar, und er vermeint gemeinhin zu wissen, wo es lang gehen muss.
Dieser Befund trifft zugegebenermaßen nicht nur auf die Soziale Arbeit, sondern auch auf benachbarte Berufsfelder wie die Psychotherapie zu. Es besteht jedoch ein gravierender Unterschied: Die Soziale Arbeit konnte bisher ihr Zuständigkeitsfeld nicht überzeugend abgrenzen. Sie verbleibt im Feld des Praktischen, des „Alltags“, der „Lebensführung“. Alle diese Begriffe zielen auf die reale Lebenspraxis der Menschen, sie können kein theoretisch und sprachlich fassbares Feld, eine „Wissensprovinz“ eingrenzen, in deren Rahmen sich eine sachlich begründete Distanzierung vom umfassenden Anspruch einer auf das ganze Leben zielenden „Ganzheitlichkeit“ kultivieren ließe. Wenn es denn um die Lebenspraxis in toto geht, dann dementiert diese Praxis mit jeder ihrer Äußerungen und Verläufe den Zuständigkeits-Anspruch der Expertinnen und Experten. Weil Lebenspraxis eben nicht delegierbar ist, weil sie umfassend ist, weil sie als Lebens-Praxis nur die Person als Maßstab und Akteurin haben kann. Soziale Arbeit, verstanden als Profession mit dem Fokus der Unterstützung bei der Lebensführung muss diese Begrenzung durch Nicht-Begrenzung, diese umfassende Nicht-Zuständigkeit, geboren aus umfassender Zuständigkeit, anerkennen, sonst wird alles nur noch schlimmer: Sie müsste eine wissenschaftlich begründete Theorie des guten und richtigen Lebens entwickeln – und würde damit endgültig autoritär (oder mangels Machtmitteln sektenhaft) werden – oder würde in der Philosophie aufgehen.
Diese Unklarheit über einen abgrenzbaren Gegenstand der Sozialen Arbeit ist meines Erachtens das unerwünschte Resultat eines berufs- und hochschulpolitischen Kompromisses zwischen der (deutschen) universitären Sozialpädagogik und dem (fachhochschulbasierten) Sozialarbeits-Traditionsstrang. Aus der österreichischen Perspektive, wo die beiden Linien wesentlich deutlicher voneinander abgegrenzt waren und sind, ist das vielleicht deutlicher zu erkennen. Hier gab und gibt es kaum organisatorische Verschränkungen und Überlappungen zwischen der (Sozial-)Pädagogik und der Sozialarbeit, wodurch die beiden Zugänge ein deutlicheres Eigenleben führen. Das ist erkennbar bis zu den Interessentinnen und Interessenten für Basisstudiengänge: Jene, die sich für ein Bachelorstudium Sozialarbeit (neuerdings: Soziale Arbeit) bewerben, haben als charakteristisches Bild ihrer künftigen Tätigkeit beratende Hilfe im Einzelfall vor Augen; jene, die sich für einen (Sozial-)Pädagogik-Bachelor oder ein sozialpädagogisches Kolleg anmelden, denken eher an klassische Erziehertätigkeit und Jugendarbeit. Die bevorzugten Universitätsstudien von jenen Kandidatinnen und Kandidaten, die bei den FH-Studiengängen Soziale Arbeit keinen Platz finden können, sind Soziologie und Psychologie, nur selten die Pädagogik.
Verregelung – Routinisierung
Seit dem Aufkommen managerialistischer Zugänge auch in den Feldern der öffentlichen Verwaltung und damit der staatlich finanzierten Praxisfelder der Sozialarbeit – erkennbar am Boom der Sozialmanagement-Ausbildungen, in Österreich beginnend Ende der 1980er-Jahre – wurden seitens der Verwaltungsspitzen kontinuierlich Versuche gesetzt, Sozialarbeit zu verregeln und ihr Arbeitsvollzüge vorzuschreiben. Das ist insofern ein bemerkenswerter Vorgang, als die wenigen ausgebildeten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter bis dahin (und wie zu zeigen sein wird auch weiterhin) dort eingesetzt wurden und werden, wo die standardisierten Programme der Sozialpolitik an Grenzen stoßen. Die Programmlogiken überschreitenden Merkmale der persönlichen Lebens- und Problemlagen eines Teils des Klientels entziehen sich der fraglosen Wirksamkeit standardisierter Problembearbeitung. Immer noch instruktiv und in der plakativen Darstellung überzeugend ist dazu die Argumentation von Ilse Arlt zu den „Notformen“ (Arlt 2010, Erstveröffentlichung 1921), mit der sie die Notwendigkeit der konsequenten Individualisierung begründet.
Die Programme zur Bearbeitung von Sozialen Problemen docken durchgehend an (politisch) vordefinierten Mängellagen an – das entspricht der Logik, wie Soziale Probleme identifiziert, thematisiert und schließlich in einem politischen Diskurs bearbeitet werden, der zu gesetzlichen Regelungen, Ausführungsverordnungen und Programmimplementierungen führt. Die juristische Logik erzwingt eine nicht auf Individuen, sondern auf „Bedürfnisse“ oder vordefinierte Probleme zugeschnittene Programmgestaltung. Individuen, die zwar das programmspezifische Problem auch, aber nicht nur haben, kann von den Programmen nur bedingt geholfen werden bzw. reproduziert sich durch die anderen, teilweise von der programmspezifischen Logik überhaupt nicht erfassten Aspekte ihrer Lebenslage das Problem trotz Hilfe von selbst – oder sie erlangen gar keinen Zugang zu den vorgesehenen Leistungen. Die mangelnde Passung zwischen der individuellen Lebenslage und den standardisierten Angeboten der Programme zu bearbeiten ist die professionelle Kernleistung der Sozialarbeit (nicht im selben Ausmaß der Sozialpädagogik).
Sozialarbeit hat daher als Ausgangsposition immer schon, dass sie zwar im Rahmen von Programmen zur Bearbeitung / Prozessierung politisch definierter „Sozialer Probleme“ eingesetzt wird und damit mit relativ genau vorgegebenen Aufträgen, Abläufen und Leistungen konfrontiert ist, dass sie ihrerseits aber die Grenzprobleme der Programme zu bearbeiten hat und sich der Abläufe / Leistungen zwar bedienen kann, ihre professionelle Kernleistung aber erst dort erbringt, wo sie diesen Rahmen verlässt und das Unvorhergesehene, nicht routinisierbare wahrnimmt und darauf auf ihre eigene Weise reagiert. Auf eine Weise, die manche mit „Ganzheitlichkeit“ beschreiben, mit „Subjektorientierung“, „Individualisierung“, „Lebensweltorientierung“, „Annehmen des Klienten“ – wie auch immer bezeichnet jedenfalls mit einem Blick auf die Lebenslage und Lebensführungsprobleme der Klientinnen und Klienten. Die Beschreibung der individuellen Lebenslage ist nie deckungsgleich mit der aus dieser Sicht unterkomplexen Definition des „Sozialen Problems“. Es werden zwar alle rechtlich und anspruchstechnisch relevanten Sachverhalte erhoben und thematisiert, aber eben nicht nur diese, sondern auch lebenslagenspezifische rechtlich irrelevante Faktoren und Ressourcen.
Für Sozialarbeit (nicht aber für Sozialpädagogik) ist dabei charakteristisch, dass sie stets eine Problemformulierung als Ausgangspunkt hat, im Zuge der Anamnese und Aushandlung die Problemformulierung laufend ändert (an den rasch wachsenden fallbezogenen Wissensstand anpasst und Ergebnisse der Aushandlung mit den Klientinnen und Klienten dabei berücksichtigt), aber nie völlig verliert. Der Modus der Sozialarbeit ist ein Modus der individualisierten Problembearbeitung, sei es in Einzelfallsettings oder in der Gruppen- oder Gemeinwesenarbeit.
Eine Bedrohung der Professionalität ergibt sich strukturell durch den Druck der Programmfinanzierung und Programmadministration, innerhalb der vorgegebenen Problemdefinitionen zu bleiben bzw. diese erkennbar vorrangig zu behandeln. Ein nachvollziehbarer Opportunismus der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter – schließlich will man seinen Job behalten und innerhalb der Organisation Anerkennung erleben – kann zu einer Unterschreitung fachlicher Mindeststandards führen, und tut dies auch allzu oft. Man kann formulieren, dass Sozialarbeit dann unprofessionell wird, wenn sie das tut, was man von ihr verlangt. Um das zu erreichen, was von ihr erwartet wird, muss sie anderes tun, als von ihr verlangt wird. Nur in wenigen Praxisfeldern wird das Verlassen des Vorgabenrahmens explizit als Erwartung an die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter formuliert.
Die erschreckendsten Mängel an sozialarbeiterischer Professionalität sind i.d.R. einem Programm- oder Organisationsopportunismus geschuldet. Dafür einige Beispiele:
In Weiterbildungszusammenhängen habe ich regelmäßig mit sozialarbeiterischen Fallberichten und Gutachten zu tun. Viele davon unterschreiten ein akzeptables Niveau an Fachlichkeit. Zwei Beispiele für zahlreiche weitere:
Gutachten in Jugendämtern fokussieren auf die vermeintliche Erziehungsfähigkeit (vor allem) der Mutter, sie enthalten keine Fakten über das Kind – nicht über den Entwicklungsstand, nicht über die Sicht des Kindes von seiner Lebenslage. Ebenso werden selbst Personen, die ein definiertes Rechtsverhältnis zum Kind haben, in den Fallbeschreibungen und Gutachten nicht einmal erwähnt (z.B. der leibliche Vater und die Großeltern), ganz zu schweigen von anderen relevanten Bezugspersonen wie Peers oder Personen aus der weiteren Verwandtschaft.
In Gefahreneinschätzungen nach Übergriffen von Männern gegen ihre Lebensgefährtinnen wird anhand der Aussagen der Frau ausschließlich auf den Täter fokussiert. Die Frau kommt nur als Opfer in den Blick, nicht mit ihrer eigenen Persönlichkeit, ihren Überlegungen, Plänen, Chancen und Ressourcen.
In beiden Fällen sowie in zahlreichen ähnlich gelagerten konzentrieren sich die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter auf die vordergründige und vorgegebene Fragestellung, ohne sie hinreichend mit einem fachlichen Blick zu kontextualisieren. Einfache professionelle Grundregeln, wie das Interesse für Situation und Sichtweise der Person, der hier ja geholfen werden soll, werden dabei fallen gelassen. Die Falldarstellungen erreichen dabei jeweils den Zweck der Legitimation der geplanten Vorgehensweise – die oft ja gar nicht so falsch, aber allzu kurz gedacht ist. Überhaupt ist zu bemerken, dass die Versuche von Organisationen, sich gegen Vorwürfe abzusichern, nicht selten zu Bürokratisierung, zur Einschränkung von Fachlichkeit führen – und zu einer höheren Wahrscheinlichkeit des faktischen Versagens bei gleichzeitiger rechtlicher Unangreifbarkeit der Organisation. Schließlich wurde ja jeweils „gemäß Vorschrift“ vorgegangen.
Der Beitrag der Organisationen, die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen beschäftigen, zur Professionalisierung bzw. zur Entwicklung und Aufrechterhaltung fachlicher Qualität muss also skeptisch beurteilt werden. Kontraproduktiv sind angstdominierte organisationale Kulturen, wie z.B. die der Jugendämter, sind professionelle Monokulturen, und sind managerialistisch durchgestylte Organisationen, die die Verregelung auf die Spitze treiben und die Räume für das Ungeplante und Überraschende eng machen. Das Überraschende und Ungeplante kommt natürlich trotzdem und es liegt nahe, es den Klientinnen und Klienten anzulasten.
Kulturen fachlicher Leitung, der Öffnung und Offenheit der Organisation, der interdisziplinären Zusammenarbeit und einer programmunspezifischen Achtsamkeit sind leider relativ selten, aber es gibt sie und sie könnten als Beispiele guter Praxis richtungweisend sein.
Identität und Gegenstand
Zurück zur sozialarbeitsspezifischen Angewiesenheit auf ein präsentiertes Problem als Ausgangspunkt, auf die fachlichen Schritte des Erfassens dieses Ausgangspunktes, die Kontextualisierung, die Einholung weiterer Perspektiven, die Aufmerksamkeit für die Eigendiagnose der Klientinnen und Klienten und der anderen fallbeteiligten Personen, die Reformulierung des Problems, die Aushandlung der Situationssicht, das Aushalten der Differenz zwischen der fachlichen Sicht und der Eigensicht der Klientinnen und Klienten , ohne diese Differenz den Klientinnen und Klienten als mangelnden Kooperationswillen anzulasten. Zurück zur vielgestaltigen Fachlichkeit einer Bearbeitung von Situationen und der begleitenden Gestaltung von Beziehungen, der Arbeit an der Lösung von (Teil-) Problemen.
In einem Forschungsprojekt, das derzeit. im Rahmen des Masterprogramms der FH St. Pölten durchgeführt wird, werden sozialarbeiterische Techniken gesammelt und katalogisiert. Eine wachsende Datenbank wird im Endausbau ohne Anspruch auf Vollständigkeit wohl deutlich mehr als 1000 Techniken enthalten. Viele dieser Techniken kann man als Alltagstechniken bezeichnen, ihnen widmet sich ein eigenes Forschungsteam. Die Alltagstechniken sind nicht der Sozialarbeit vorbehalten, sondern werden auch außerhalb eines professionellen Kontextes von Personen z.B. in der Kommunikation angewendet. Zu professionellen Techniken macht sie deren Verwendung in einem beruflichen Kontext im Rahmen eines Unterstützungsprozesses und ihre Einbettung in einen reflektierten bzw. fachlich reflektierbaren Prozess der Beratung und Fallbearbeitung. Ihre Anwendung kann jeweils aus dem Prozess heraus verstanden und begründet werden. Die oberflächliche Nähe vieler Arbeitsvollzüge zu dem, was andere Menschen eh auch und immer schon machen, stellt ebenfalls ein Problem der Abgrenzung professioneller von nicht-professionellen Vorgangsweisen dar.
So wird die Suche der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter nach einem Unterscheidungsmerkmal, nach einem Marker für die eigene Professionalität verständlich. Als solche Marker dienen dabei mitunter recht verwaschene Bezüge auf Werte oder die einfache Tatsache der absolvierten Ausbildung, ohne dass dabei immer klar würde, worin der entscheidende Vorteil der Ausbildung denn besteht – außer in der Fähigkeit der Reflexion und im Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer Berufskultur.
In den endlosen akademischen Diskussionen der 1990er-Jahre über den Gegenstand der Sozialarbeit wurde versucht, der empirisch beobachtbaren Praxis einen inhaltlichen Kern abzuringen. Mit mäßigem Erfolg, die angebotenen Lösungen halten m.E. einer näheren Betrachtung nicht stand. Es seien nur die wichtigsten genannt und kurz kommentiert.
„Soziale Probleme“
Der Sozialarbeit die Bearbeitung von Sozialen Problemen als Kernaufgabe zuzuweisen, schien naheliegend. Dass der Problembezug evident und für die Sozialarbeit (nicht die Sozialpädagogik) konstitutiv ist, wurde oben bereits ausgeführt. Dass es dabei immer auch irgendwie um das Soziale geht, scheint ebenfalls unmittelbar einzuleuchten. An einer Präzisierung ist dieser Ansatz jedoch gescheitert. Am meisten Energie hat noch Obrecht (2008) in den Versuch gesteckt, das wissenschaftlich auszubuchstabieren – und er landete dabei bei einer essenzialistischen Sicht von Sozialen Problemen, so als gebe es sie als beobachtbares und definierbares Faktum noch vor dem letztlich politischen Diskurs darüber, was die Gesellschaft denn nun in ihrer Selbstbeobachtung als problematisch an sich selbst definieren würde. Sein Lösungsversuch ist untergegangen – was nicht notwendigerweise gegen dessen Qualität spricht. In seinen Versuchen, die Sozialarbeit bzw. die Sozialarbeitswissenschaft ins Zentrum der Diskurse über die Conditio humana zu bringen, ist er inzwischen bei einer wiederum essenzialistischen und scheinbar letztgültigen Bedürfnistheorie gelandet.
Das Problem des Ansatzes liegt darin, dass die gesellschaftliche Bearbeitung Sozialer Probleme eben nicht in den Händen der Sozialarbeit liegt. Wie Schetsche (1996) dargestellt hat, ist der Prozess der Definition von Sozialen Problemen ein im Kern politischer Prozess, die Reaktionsweisen des politischen Systems auf eine einmal durchgesetzte Problemdefinition können juristisch, repressiv, finanziell etc. sein, häufig besteht sie jedoch in der Installierung eines Programms zur Bearbeitung (Prozedierung) des Problems. In den meisten Fällen spielt bei diesen Programmen die Sozialarbeit nur eine marginale Rolle – aus gutem Grund. Zum Beispiel benötigt man für die Bearbeitung des sozialen Problems Altersarmut ein Pensionsversicherungssystem und einen bürokratischen Apparat, der das Versicherungssystem administriert. Sozialarbeit braucht man dafür nur für jenen kleinen Teil des Klientels, der aufgrund besonderer individueller und biographischer Bedingungen von den Standardleistungen des Systems nicht profitieren kann. Die Fähigkeit, ein funktionierendes und finanzierbares Pensionsversicherungssystem zu konzipieren und zu realisieren, würde man durchaus zu Recht auch nicht bei den Expertinnen und Experten für Soziale Arbeit suchen.
Bedürfnisse
Eine längere Tradition hat der Bezug auf Bedürfnisse, schon Ilse Arlt versuchte sich an einer Bedürfnistheorie als Grundlage für sozialarbeiterische Fachlichkeit. Ihr Theorieentwurf war erkennbar aus der Anschauung realer Notlagen geboren und generierte eine Checkliste, in der Elemente einer adäquaten Existenzsicherung auf dem Niveau des 20. Jahrhunderts angeführt sind. Mit ihrem Konzept der „Grenznot“ versuchte sie daneben jedoch bereits den politischen Prozess in ihre Überlegungen einzubeziehen. Der Begriff bezeichnet das Ausmaß an Not, das von einer gegebenen Gesellschaft bzw. politischen Einheit (z.B. einer Stadt) als noch akzeptabel angesehen wird. Hilfe setzt erst ein, wenn diese Grenze überschritten wird.
Neuerdings ist es einerseits wiederum Obrecht, der sich an einer umfassenden anthropologisch fundierten Bedürfnistheorie versucht, andererseits schließt die Beschäftigung mit dem Capability Approach (vor allem in der Version von Nussbaum) an bedürfnistheoretische Fundierungsversuche der Sozialarbeit an.
Die Attraktivität dieser Annäherungen scheint darin zu liegen, dass sie der Sozialen Arbeit ein relativ unverfängliches politisches Programm als Orientierung geben. Ihre Nachteile liegen wieder einmal darin, dass Soziale Arbeit eben nicht die (erste oder gar einzige) Profession ist, die zur Befriedigung von Bedürfnissen aufgerufen ist. Bedürfnisse sind allgemeine Treiber menschlicher Aktivitäten. Dass Soziale Arbeit damit zu tun hat, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ist daher evident. Im Aufspüren und dem Finden einer adäquaten Antwort auf Bedürfnisse ist sie jedoch nicht mehr Expertin als viele andere Berufe. Darüber mag hinwegtäuschen, dass die den Beruf Ausübenden in ihrem professionellen Alltag viel häufiger als andere mit gravierenden und vielfältigen Mängellagen konfrontiert sind. Da mag eine wie auch immer fundierte Theorie über das Wünschenswerte tröstlich erscheinen. Der Sozialen Arbeit stehen aber zumeist nur wenige Mittel selbst zur Verfügung und sie reagiert auf Mängellagen i.d.R. nicht direkt, sondern indirekt – zum Beispiel über den Versuch, anderweitig Ressourcen zu mobilisieren. Dafür ist allemal der Bezug auf bereits etablierte gesellschaftliche Normen und Werthaltungen aussichtsreicher, als der Rekurs auf eine noch so gut ausgearbeitete, außerhalb der Sozialen Arbeit aber nicht allgemein anerkannte Theorie menschlicher Bedürfnisse.
Ein anderer Vorschlag: Inklusion/Exklusion (oder: Hilfe / Nichthilfe)
Erstmals von Dirk Baecker (1994) ausbuchstabiert wurde der Vorschlag, Sozialarbeit als eigenes Funktionssystem mit dem Code Hilfe / Nicht-Hilfe zu beschreiben. Die Aufgabe sei die Bearbeitung von „Daseinsnachsorge“ – im Gegensatz zur Daseinsvorsorge (Baecker 1994:98). Was Sozialarbeit bewerkstellige, sei „stellvertretende Inklusion“ die es bei Gelingen in Inklusion überführt, „die gerade nicht von ihm, sondern von den anderen Funktionssystemen der Gesellschaft gleistet werden muss“ (ebd.:103). Bei Uecker (o.J.) wird die Möglichkeit der Sozialarbeit, Inklusion zu befördern (also: Wirkungen außerhalb ihres Funktionssystems anzustoßen) mit Bezug auf die Adressentheorie[2] beschrieben. Die Baecker´sche Anwendung der Systemtheorie auf einen Theorieentwurf zur gesellschaftlichen Funktion der Sozialarbeit lässt Raum für eine nicht streng bloß auf Soziale Systeme ausgerichtete Beschreibung der Art, wie Sozialarbeit ihre praktische Tätigkeit organisiert, aber sie bietet einen Rahmen des Verständnisses von Hilfe als Hilfe zur Inklusion. Scherr (2002), in seinem Plädoyer zur Ergänzungsbedürftigkeit der Systemtheorie nach Luhmann, führt zwar den Baecker-Text im Literaturverzeichnis an, ohne allerdings im Text auf ihn zu referieren.
In der folgenden Grafik wird versucht, aufbauend auf dieses Verständnis das Setting der Sozialarbeit zu modellieren – wobei der Scherr´schen Kritik insofern Rechnung getragen wird, als Inklusion / Exklusion zwar als Modus des Zugangs zu den gesellschaftlichen Ressourcen (und als zentrales Thema der Sozialarbeit) gefasst wird, die individuellen Lebensbedingungen allerdings noch über die von der Systemtheorie nicht oder unzureichend gefasste Trias Existenzsicherung, Funktionsfähigkeit und Person-Person-Beziehungen (soziales Kapital) in den Blick genommen werden.
Abbildung 1: das Setting der Sozialarbeit (Grafik P. Pantuček)
Die Abbildung 1 skizziert den Ort der Sozialarbeit in einem Setting von Individuum und Gesellschaft. Die basalen Komponenten der Lebensführung von Personen in heutigen Gesellschaften sind ihre Funktionsfähigkeit (inwieweit machen sie ihre physischen und psychischen Bedingungen handlungsfähig), der Grad ihrer Existenzsicherung (sind sie mit all dem versorgt, was sie zu ihrer Lebensführung brauchen) und das Set ihrer Beziehungen zu anderen Personen (soziales Kapital im Sinne von Pierre Bourdieu). Für ihre Lebensführung müssen sie wegen der weit entwickelten gesellschaftlichen Arbeitsteilung auf die gesellschaftliche Infrastruktur zurückgreifen. Die Möglichkeit dieses Zugriffs kann man als Inklusion/Exklusion beschreiben. Im Normal- und Idealfall stehen Personen ausreichende Teilhabemöglichkeiten zur Verfügung und sie können z.B. über Erwerbsarbeit am Prozess des Austauschs und der Arbeitsteilung teilnehmen und so die für ihre Lebensführung nötigen Ressourcen akquirieren. Die zweite Schicht gesellschaftlicher Infrastruktur bietet Substitute, wenn über Teilhabe / Inklusion Lebenssicherung nicht gelingt – für dieses Feld kann man von „stellvertretender Inklusion“ sprechen (Baecker 1994:102f). Seine Funktion „erfüllt das System der Sozialhilfe aber nur dann, wenn es die stellvertretende Inklusion, die es bewerkstelligt, in Inklusion überführen kann, die gerade nicht von ihm, sondern von den anderen Funktionssystemen der Gesellschaft erfüllt werden kann“ (ebd.:103).
Man könnte die obige Grafik auch so zeichnen, dass verstärkende Wirkungen sichtbar werden. Wir hätten dann beim oberen Kreislauf selbstverstärkende Beziehungen: Inklusion fördert Existenzsicherung, Funktionsfähigkeit und soziales Kapital – und umgekehrt. Substitute gewährleisten Existenzsicherung auf einem niedrigen Niveau, darüber hinaus sind sie eher behindernd. Der Einfluss von Substituten auf Funktionsfähigkeit und das soziale Kapital ist ambivalent und hängt von der Konstruktion der Substitute ab.
Das Inklusions-Chart (IC3) (Pantuček 2012: 239ff) übersetzt dieses Modell in ein kompaktes System der Sozialen Diagnose bzw. der Klassifikation für die Sozialarbeit. Das IC3 ist ein Instrument, in dem auf 3 Achsen der Grad der Inklusion in die Kommunikation der wichtigsten Funktionssysteme, Status und Qualität der Existenzsicherung, und Aspekte der Funktionsfähigkeit abgebildet werden. Der soziale Status einer Person wird so erfasst und dient als Grundlage für Interventionsentscheidungen. Das von mir in den letzten Jahren entwickelte Instrument hat bereits eine gewisse Verbreitung in der Praxis gefunden. Der Baecker´schen Argumentation wird beim Aufbau des Inklusions-Charts insofern gefolgt, als ein primärer Rekurs auf die Differenz von Konformität und Abweichung – und damit ein Labeling der Klientinnen und Klienten – nicht mehr erforderlich ist (vgl. Baecker 1994: 93f). Individuelle Abweichung kommt dann sekundär in den Blick, wenn und insoweit sie Exklusion zur Folge hat – nie also bloß als Eigenschaft der Person, stets als Teil eines Verhältnisses von gesellschaftlichen Bedingungen und individuellen Möglichkeiten.
Sozialarbeiterische Professionalität wäre auf Basis dieses Verständnisses dann als die Fähigkeit zu fassen, vorliegende Fragen und Aufträge als Fälle von gefährdeter Inklusion zu behandeln.
Wenn wir nun wieder Bezug auf das erste Beispiel einer Unterschreitung professioneller Standards nehmen (das Jugendamts-Gutachten), so kann das jetzt auf einer theoretischen Ebene expliziert werden. Die Konzentration auf die vorgeschobene Frage der „Erziehungsfähigkeit der Mutter“ lässt die eigentlich sozialarbeiterischen Fragestellungen außen vor. Man konzentriert sich auf „Konformität oder Abweichung“, was hier in der Frage kulminiert, ob das Kind fremduntergebracht werden soll – das Maximum eines möglichen Substituts. Weder die Mutter (und die anderen Verwandten), noch das Kind selbst kommen über die Bestimmung der wesentlichen Faktoren ihrer Lebenslage ins Spiel, mögliche Ressourcen werden nicht erhoben, die Frage von Inklusion / Exklusion nicht einmal gestreift. Zugegebenermaßen stellen sich im Jugendamtssetting die Inklusionsfragen komplexer als anderswo. Kinder sind bei ihrer Existenzsicherung, der Entwicklung ihrer Funktionsfähigkeit und dem Aufbau sozialer Beziehungen in hohem Maße auf die Leistungen ihrer Betreuungspersonen angewiesen. Verbesserungen der Lebenssituation der Eltern haben nicht automatisch (aber doch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit) eine Verbesserung der Lebenssituation der Kinder zur Folge. Eine Reduktion des Blicks auf „Fähigkeiten“ der primären Bezugsperson ist aber zumindest eines: nicht sozialarbeiterisch und daher im Kontext dieser Profession nicht professionell. Analog könnte man das zweite oben angeführte Beispiel interpretieren.
Es sei auch noch angemerkt, dass die Verwendung eines grundsätzlich geeigneten sozialdiagnostischen Verfahrens noch nicht garantiert, dass die Fachkräfte ihre Aufgabe in den Blick bekommen. Es scheint die Drift, die durch die legitimatorischen Zwänge organisatorischen Handelns und durch den Konformitätsfokus des moralisierenden Alltagsverständnisses ausgelöst wird, so groß zu sein, dass fachliche Standards (etwa Interpretationsregeln diagnostischer Verfahren) unter die Räder kommen. Der Einsatz des Inklusions-Charts verhindert zum Beispiel nicht, dass in zusammenfassenden Gutachten dann ausschließlich auf Problembereiche und dabei wieder speziell auf Aspekte des Verhaltens von KlientInnen eingegangen wird[3]. Gerber und Backes (2012) untersuchten dies anhand der Entscheidungspraxis in Jugendämtern und konstatieren eine relative Unwirksamkeit von Bemühungen, dem Problem mit standardisierten Verfahren der Entscheidung zu begegnen. Zu Recht zitieren sie Weick und Sutcliffe „ … Organisationen, die sehr stark auf Pläne, standardisierte Betriebsverfahren, Protokolle, Rezepte und Routinen setzen, investieren häufig stärker in Unachtsamkeit als in Achtsamkeit“ (2007: 97):.
Hier zeigt sich m.E. auch, dass es einen Gegensatz zwischen dem Modus „Sozialpädagogik“ und jenem der „Sozialarbeit“ geben könnte. Wenn Sozialarbeit ein problembearbeitender professioneller Modus mit dem Fokus von Inklusionsförderung ist, das Charakteristikum von Sozialpädagogik allerdings ihre gestaltende Funktion von Alltagssettings – und die Sozialpädagoginnen bzw. Sozialpädagogen (nicht nur) in stationären Settings auch Rollen von Alltagsteilnehmerinnen bzw. –teilnehmern wahrzunehmen haben, dann sind letztere gezwungen, das ganze breite Spektrum von Alltagsinteraktionen zu verwenden und sich intensiver moralischer Kommunikation (Messmer 2012) und alltäglicher Beziehungsgestaltung zu bedienen. Sie greifen wie „professionelle Verwandte“ stärker in alltägliche Handlungsvollzüge ein und gestalten alltagsnahe Abläufe auch dort, wo es nicht um Problemlösung oder gleich um Fragen der Inklusion oder Existenzsicherung geht. Die beiden Modi sind nur bedingt kompatibel, und ein Switchen zwischen ihnen erfordert Meisterschaft der Profis und soziale Intelligenz der Klientinnen und Klienten – denn auch ihre komplementären Rollen unterscheiden sich in den beiden Modi. Beides kann nicht vorausgesetzt werden und stellt eher die Ausnahme als die Regel dar.
Die Ineins-Setzung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik, wie sie zuletzt die Regel wurde, erschwert es hiermit den Fachkräften, ihre jeweilige Rolle zu verstehen und sich professionell in dieser Rolle zu inszenieren.
Bedrohung?
Unter dem Aspekt einer Bedrohung von Professionalität könnte als massive interne Bedrohung die Unklarheit über die Aufgabe der Sozialarbeit bezeichnet werden. Sie tritt jeweils dort auf, wo statt Lebenslage (in Form der Trias Existenzsicherung, Funktionsfähigkeit und soziale Beziehungen) und Inklusion (als Sicherung der Grundlagen der Lebensführung) die Frage von Konformität oder Abweichung in den Vordergrund rückt – als „Lösung erscheinen dann stets nur Ertüchtigungsprogramme, wie sie der neoliberale Mainstream im Überfluss für die Exkludierten bereit hält, um beim erwartbaren Misserfolg wieder mit Ausschluss (dann sogar mit der teilweisen oder gänzlichen Verweigerung von substituierenden Leistungen) zu reagieren.
Es sei dahingestellt, ob es berechtigt ist, von einer „Bedrohung“ sozialarbeiterischer Professionalität zu sprechen. Mangelnde Formulierung sozialarbeiterischer Standards, ein schwaches Korrektiv gegenüber den organisationalen Programm-Zwängen und die Unterbestimmtheit des theoretischen und praktischen Kerns sozialarbeiterischer Fachlichkeit machen es jedenfalls nicht leicht, diese Professionalität zu fassen und ihre Entwicklung zu fördern. Mit Blick auf die verschiedenen Modi von Performance und Zielsetzung wäre es m.E. auch an der Zeit, noch einmal darüber nachzudenken, ob eine Unterscheidung zwischen Sozialpädagogik und Sozialarbeit – bei Anerkennung der engen Nachbarschaft – nicht doch ein Mehr an Aufgabenklarheit bringen könnte.
In einem weiteren Schritt wäre eine empirisch und theoretisch fundierte (jedoch nicht empirizistische) Handlungslehre zu diskutieren. Die Vorstellungen darüber, wie und wodurch Sozialarbeit wirksam ist, sind noch wenig ausgearbeitet. Ansätze wie Case Management tragen mitunter zur Illusion bei, beim Geschäft der Sozialen Arbeit könnte es eine eindeutige Abfolge von Situationsanalyse, Planung, Durchführung geben. Bei einer Profession, die in ihren Arbeitsvollzügen auf die Herstellung von Kooperation zahlreicher anderer Personen (nicht nur der Klientinnen und Klienten) angewiesen ist, führt ein solches Bild der eigenen Handlungslogik in die Irre und kann gegenüber den zu erwartenden Friktionen und Situationsänderungen im Prozess hilflos machen. Aber das auszubuchstabieren, bedürfte eines weiteren Beitrags.
So gesehen bedarf es fachinterner Verständigungen, um dem Desiderat einer ungefährdeten (oder nicht-bedrohten) sozialarbeiterischen Professionalität näher zu kommen.
Literatur
Arlt, Ilse (2010) Die Grundlagen der Fürsorge. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Maria Maiss. Werkausgabe Ilse Arlt Band I. Münster
Baecker, Dirk (1994) Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft. In: Zeitschrift für Soziologie. H. 2. Stuttgart, S. 93-110
Gerber, Christine/Backes, Jörg (2012) Risiko- und Fehlermanagement im Kinderschutz. In: unsere jugend. 64. Jahrgang, S. 290-301
Messmer, Heinz (2012) Moralstrukturen professionellen Handelns. In: Soziale Passagen. H. 1, S. 2-22
Pantuček, Peter (2012) Soziale Diagnostik. Verfahren für die Praxis Sozialer Arbeit. 3., aktualisierte Auflage. Wien/Köln/Weimar
Obrecht, Werner (2008): Die Struktur professionellen Wissens. Ein integrativer Beitrag zur Theorie der Professionalisierung, in: Becker-Lenz, R./ Busse, S./ Ehlert, G./ Müller, S. (Hrsg.): Professionalität und Professionalisierung in der Sozialen Arbeit. Standpunkte – Kontroversen – Perspektiven, Wiesbaden.
Schetsche, Michael (1996) Die Karriere sozialer Probleme – Soziologische Einführung. München
Scherr, Albert (2002) Eignet sich die soziologische Systemtheorie als umfassende Grundlage einer Theorie der Sozialen Arbeit? In: Das gepfefferte Ferkel, Online-Journal für systemisches Denken und Handeln. September 2002: http://www.ibs-networld.de/altesferkel/sept-scherr.shtml, abger. am 9.2.2009.
Uecker, Horst (o.J.) Adressentheorie und professionelle Soziale Arbeit in der modernen Gesellschaft – das Beispiel des taktvollen Handelns. In: http://www.sozialarbeit.ch/dokumente/sa_adressentheorie.pdf (zugegriffen am 3.3.2010).
Weick, Karl E./Sutcliff, Kathleen M. (2003) Das Unerwartete managen. Stuttgart.
[1] Konditionalprogramme sind Sets von Wenn/Dann-Regeln, die das Vorkommen eines Merkmals stets mit der gleichen Reaktion beantworten. Man kann von Routine sprechen.
[2] Organisationen nehmen nicht Personen, sondern ein Set personenbezogener Daten wahr (die „soziale Adresse“). Der Zustand dieser sozialen Adresse entscheidet über Inklusion oder Exklusion. Bei Uecker ist ein Kerngeschäft der Sozialarbeit die Reparatur defekter sozialer Adressen.
[3] Das zeigte sich z.B. bei Aufgaben, die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter im Rahmen von Weiterbildungslehrgängen zu erfüllen hatten. Zahlreiche der als Hausarbeit erstellten Gutachten hebeln den Gesamtblick auf Inklusionsermöglichung und Ressourcen aus, indem in der Ergebnisdarstellung von Netzwerkkarten und Inkusions-Chart nur mehr auf Abweichungen fokussiert wird.