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Kontaminierte Beratung.

Anmerkungen zu Bernd Dewes Konzeptualisierung von Beratung.

kontaminierte

 

Pantuček-Eisenbacher, Peter (2015): Anmerkungen zu Bernd Dewes Konzeptualisierung von Beratung. In: neue praxis, 45. Jahrgang Heft 3.  S. 309-317.

 

Peter Pantuček-Eisenbacher

 

Bernd Dewe und Martin Schwarz (2013) haben den Versuch einer Theorie der Beratung mit Blick auf die Konstitutionslogik dieser Kommunikationsform und mit einem Interesse für Fragen der Professionalisierung und der pädagoischen Aspekte vorgelegt. Sie beschränken sich dabei nicht auf die eine oder andere Beratungsform, nicht auf den einen oder anderen Beruf, in dessen Zusammenhang Beratung eines der verwendeten Instrumente darstellt. Damit eröffnen sie einen breiten Rahmen für ihre theoretische Annäherung. Im vorliegenden Beitrag wird versucht, unter Verwendung der grundlegenden Überlegungen von Dewe und Schwarz einige Schritte zurück zu gehen und die Rolle von Beratung im Kontext beruflicher sozialarbeiterischer Tätigkeit zu untersuchen. Dabei wird deutlich werden, dass Sozialarbeit zwar Beratung enthält, sich aber nicht darin erschöpft. Die beratenden Elemente sozialarbeiterischer Praxis scheinen der Kern dessen zu sein, worin sich deren Professionalisierungsbedarf festmachen lässt. Das wird in diesem Beitrag bestritten.

„Beratung“ als Gesprächsmodus

Menschen zu „beraten“ ist ein Modus des Gesprächs, der auf der einen Seite die Existenz einer Entscheidungsunsicherheit zur Voraussetzung hat. Diese Entscheidungsunsicherheit kann zahlreiche verschiedene Gründe haben – das Bewusstsein über zu dürftiges Wissen über die möglichen Entscheidungsoptionen oder über die möglichen Auswirkungen anstehender Entscheidungen; Unkenntnis darüber, welche Optionen überhaupt zur Verfügung stehen; das Unbehagen darüber, scheinbar keine Optionen zu haben; Unbehagen über die Entscheidungsoptionen, die mir bekannt sind bzw. die mir von Menschen aus meinem sozialen Umfeld nahegelegt werden.

Der Modus der Beratung ist nicht auf professionelle Beziehungen beschränkt, sondern ein Element von Alltagskommunikation. Beratende Interventionen kommen in Gesprächen von Peers, zwischen Verwandten und Bekannten vor. Ohne diese lebensweltlich ubiquitäre Form von Beratung könnten Personen sich nicht als EntscheiderInnen erleben und könnten nicht lernen, individuelle Entscheidungen zwischen verschiedenen Handlungsoptionen zu treffen, zu begründen, auf das soziale Umfeld und auf die vorgeformten Handlungsmöglichkeiten abzustimmen. Ihr Handeln wird durch die beratenden (und die sanktionierenden, instruktiven, bewertenden) Interventionen der anderen als soziales Handeln gerahmt und sichtbar. Stillschweigend vorausgesetzt ist dem, dass Individuen überhaupt Entscheidungsoptionen haben, dass ihr Handeln nicht vorbestimmt ist bzw. dass es mehr als nur einen Weg gibt, der ihnen ein gelingendes Leben ermöglicht. Wäre das nicht der Fall, dann wäre die Instruktion die einzig mögliche Form der Beratung: Die Verdeutlichung des „richtigen“ Weges. Zumal aber Personen die Möglichkeit haben, sich auch für Handlungen zu entscheiden, die für sie negative Folgen haben, hat auch das, was rhetorisch als „Instruktion“ daherkommen mag, den Charakter von „Beratung“, dem nach Dewe/Schwarz immanent ist, dass sich die beratene Person immer auch gegen den Ratschlag entscheiden kann. Das gilt selbst dann, manchmal sogar speziell dann, wenn die Beraterin / der Berater viel Emphase mit dem Ratschlag verbindet. Die Entscheidungsfreiheit der Ankerperson kann durch die BeraterInnen nicht aufgehoben werden, sondern ist anthropologisch vorgegeben. Die Anerkennung dieser unhintergehbaren Autonomie der Person ist nicht die Voraussetzung für sie (sh. dazu z.B. Pantuček 2006). So gesehen sind die Beratungskonzepte mit ihren Forderungen an die Settings und die Haltung der BeraterInnen taktische Empfehlungen, um Enttäuschungen der Profis vorzubeugen.

Das größte Risiko der Entscheidung trägt in aller Regel der Klient / die Klientin – insoweit seine Handlungen jedoch andere tangieren, ist es kein ungeteiltes Risiko. Besonders deutlich wird das dort, wo andere Personen direkt vom Handeln betroffen bzw in ihrem Gedeihen von diesen Handlungen abhängig sind – wie Kinder vom Alltagshandeln ihrer Eltern.

Das Handeln von Personen wird laufend von der Umwelt beobachtet, verbal und nonverbal gedeutet und kommentiert. Die Beobachtung der Aktionen und Reaktionen der Umwelt fließt in die eigenen Überlegungen und Handlungsbegründungen ein.

Der Horizont der wechselseitigen Abhängigkeit von Personen in ihrem Handeln, in ihrer Alltagsgestaltung und Alltagsbewältigung führt dazu, dass im weiteren Sinne moralische Fragen omnipräsent sind. Die lebensweltliche Beratung, die nicht durch Profis, sondern durch die Personen im quasi-natürlichen sozialen Umfeld erfolgt, wird aufgrund der mehr oder weniger unmittelbaren Betroffenheit der BeraterInnen von den Handlungsentscheidungen der Ankerperson einen besonders hohen Anteil an Interessiertheit und an moralischer / moralisierender Kontaminierung aufweisen. Daraus zu schließen, dass die lebensweltliche Beratung gegenüber professionellen und neutraleren Formen der Beratung defizitär wäre, wäre allerdings ein Fehlschluss. In dem Sinne, in dem sie damit gleichzeitig die soziale Realität repräsentiert, in der die Ankerperson ihren Alltag zu gestalten und ihr Leben zu führen hat, ist sie eine wirkmächtige Beratung. Sie völlig zu ignorieren, würde die Ankerperson von ihren sozialen Bezügen abschneiden. Die „Ratschläge“ aus dem nahen sozialen Umfeld geben Hinweise auf Erfolgs- und Misserfolgsbedingungen für das Handeln und können nicht ohne Schaden für die eigene soziale Einbindung (und damit für ein wesentliches Kriterium gelingenden Lebens) missachtet werden. Gleichwohl kann die Enge und die moralisierende Bestimmtheit, mit der die lebensweltlichen Beratungen aus dem näheren sozialen Umfeld möglicherweise einhergehen, zu jener subjektiv empfundenen Ausweglosigkeit führen, die gerade die Konsultation professioneller BeraterInnen nahelegt. Dass Verwandte und FreundInnen (tw. angeleitet durch die Definition von Verwandtschafts-, Freundschafts- oder Nachbarschaftsrollen) auch einen Modus der Sorge bzw. der verwandtschaftlichen oder allgemein mitmenschlichen Verantwortung einbringen können und sich daraus Handlungsbereitschaften, die über die distanzierte Form des „Beratens“ hinausgehen können, ergeben, wird in Methoden wie der Family Group Conference (oder: Social Group Conference, Familienrat, Sozialgruppenkonferenz etc.) genutzt.

Das verweist auf die im „real life“ enge Verbindung des beratenden Modus der Kommunikation mit den benachbarten Formen der Verhandlung, des planenden Gesprächs bzw. auch des Konfliktgesprächs. Die beratenden Personen erscheinen selten ausschließlich in der Rolle der Beraterin, sondern ihr Rollenprofil ist vermischt mit dem der Sorgenden, der Mitlebenden, der RepräsentantInnen von wirkmächtigen AkteurInnen im Lebensfeld, der Gatekeeperin und so fort. Das trifft sowohl auf die BeraterInnen aus dem lebensweltlichen Umfeld zu, als auch auf die Mehrzahl der sozialarbeiterisch/sozialpädagogischen Profis[1], die eben nur unter anderem beratend tätig sind, deren Beratungsätigkeit also „kontaminiert“ ist durch eine andere Agenda.

Man könnte feststellen, dass über die Forderung nach Kompatibiliät des individuellen Handelns mit den Normen der (näheren) sozialen Umwelt hinaus in den letzten Jahrzehnten noch die ebenfalls moralische Forderung nach Selbstkontrolle und reflexiver Selbststeuerung überragende Bedeutung erlangt hat. In diesem Sinne wird von individuen nicht mehr bloße Anpassung gefordert, sondern eine aktive Identifikation mit dem Ideal einer für sich selbst sorgenden Person, z.B. durch gesundheitsbewusstes Verhalten. Delegitimiert wurden und werden implizite (und, wenn man so will, „opportunistische“ bzw. realistische Lebensentwürfe, die jene Nischen zu nutzen versuchen, die in der Architektur der Gesellschaft für nicht voll im Sinne der gesellschaftlichen Arbeitsteilung leistungsfähige Personen zur Verfügung stehen[2].

Die Veränderung der Ausgangsbedingungen von Beratung durch Globalisierung und Medien

Mario Erdheim (1993) hat darauf hingewiesen, dass unter den Bedingungen der Globalisierung, vor allem der Medien, wir nach der Unterscheidung von Claude Lévi-Strauss in einer „heißen“ Gesellschaft leben, in der die Lebenskonzepte, die Probleme und die Lösungen der Großeltern, aber auch nicht mehr der Eltern, nicht mehr als die selbstverständlichen Folien für die je eigene Lebensbewältigung gelten können. Zuerst waren es Film und Fernsehen, die alternative Lebensentwürfe und Szenarien in die Haushalte brachten und einen mitunter zerstörerischen Kommentar zu den lebensweltlich naheliegenden Wertvorstellungen und Lebenswegen lieferten. Waren diese Medien noch Einwegmedien und unterlagen redaktioneller Wahl und Bearbeitung, hat die ubiquitäre Verfügbarkeit des Internets spätestens seit Web 2.0 für die Mehrheit der Personen die Möglichkeit geschaffen, in Kommunikation mit Menschen zu treten, die nicht dem eigenen näheren Umfeld angehören. Die Möglichkeiten des Suchens und Findens durch Google und andere Suchmaschinen garantieren außerdem, dass man für jede individuelle Vorliebe, für jede Krankheit, jede Lebenssituation Foren und Websites finden kann, in denen „Erfahrene“ von ihrem eigenen Umgang damit berichten bzw. Deutungen anbieten. Eine besonders hohe Glaubwürdigkeit haben dabei jene Foren, aus denen Profis der Beratung ausgeschlossen sind. Nichtsdestotrotz ist auch dort die Praxis des beratenden Helfens mit Statusfragen, Erfordernissen der „richtigen“ Inszenierung der eigenen Rolle, und dem Aufbau eines Handlungsdrucks auf die Hilfesuchenden verbunden (sh. dazu Brandstetter/Neidl/Stricker 2011).

Im Unterschied zur Zeit vor der durch das Internet vorangetriebenen Vervielfachung der Möglichkeiten der Person-Person-Kommunikation bzw. des Findens von KommunikationspartnerInnen ist nun also für viele die Möglichkeit gegeben, die eigenen Deutungsmuster im Abgleich mit vermeintlichen oder möglichen Gleichgesinnten oder gleichermaßen Betroffenen zu entwickeln. Man ist zur Überschreitung lebensweltlicher Deutungen, zur Legitimierung von nicht-konformen Deutungen und eigenen Entscheidungen nicht mehr auf Profis oder auf sich in räumlicher Nähe befindliche Subkulturen angewiesen.

Eine absehbare Innovation wird der Einsatz von Datenverarbeitungstechnologien und hier speziell von selbstlernenden Softwarearchitekturen bringen. Integrierte lernende Software, die auf der Oberfläche wie eine Suchmaschine arbeitet, Anfragen und deren „Schicksal“ verfolgt und sich selbst über die Verarbeitung dieser Anfragenschicksale optimiert. Dadurch entsteht ein System, das, wenn man sich auf die Terminologie von Dewe / Schwarz einlässt, nicht mehr bloß Expertenwissen zur Verfügung stellt, sondern anhand systematisch dokumentierter Erfahrung immer besser darin wird, Anfragen „richtig“ zu beantworten. Damit erbringt das System eine Leistung, die Professionellen zugeschrieben wird, nämlich die hermeneutische Würdigung des Einzelfalls. Voraussetzung für das Lernen des Systems ist allerdings, dass „echte“ Menschen die Fälle bearbeiten. Das System kann dann die Spuren beobachten: Weiterverweise, welche Dokumente rufen die BeraterInnen auf, wie lange dauert die Fallbearbeitung etc. – damit zeichnet sich ab, dass über die automatisierte Auswertung von zumindest teilweise digital erfassten Beratungsprozessen mehrere Effekte erzielt werden: Ein passgenaueres Tracking von Erstanfragen, die Möglichkeit der Vermeidung von „Irrwegen“ bei Beratungsprozessen und Weiterverweisen, sowie die Bereitstellung einer verhältnismäßig elaborierten automatisierten Erstauskunft über FAQs.

Das führt zu einer weiteren Entwicklung, die die Voraussetzungen von Face-to-face-Beratung verändern wird, einer Entwicklung, die bereits die Arbeitsbedingungen von Ärzten wesentlich modifiziert hat. Bei medizinischen Fragen stehen bereits mannigfach Möglichkeiten zur Verfügung, sich über Krankheiten, deren Symptome, die Wirksamkeit von Therapien etc. online zu informieren. Beklagt wird dabei die Qualität mancher der Informationen, aber auch die mangelnde Fähigkeit der UserInnen, die Qualität der Informationen richtig einzuschätzen. Die Nachfrage nach persönlicher ärztlicher Beratung ist dadurch offensichtlich nicht zurückgegangen, jedoch ist die Autorität der ärztlichen Auskunft nicht mehr unhinterfragt gegeben.

Offen bleibt, inwiefern es auch im Feld der sozialen Beratung ähnliche Entwicklungen geben wird. Sehr wohl ist allerdings zu erwarten, dass es zusehends einfacher für potenzielle BeratungsklienInnen wird, sich Informationen bzw. die Legitimation für lebensweltlich prekäre Entscheidungen unabhängig vom Aufsuchen professioneller Beratung zu besorgen. Damit ist ein weiterer Schritt in einer Entwicklung absehbar. Medien eröffnen Freiheitsräume und können suchenden Individuen alternative Entscheidungsoptionen offerieren. Der größte Vorteil, den sie bringen, ist dass sie eine Forderung geradezu idealtypisch zu erfüllen scheinen, die sonst für professionelle Beratung erhoben wird (sh. Z.B. bei Dewe/Schwarz 2013): Die Ratsuchenden bleiben in ihrer Entscheidung frei von einem in Beziehungsarbeit eingebetteten Handlungsdruck, wie er potenziell stets dann entsteht, wenn sie in ihrer Erkundung mit Personen kommunizieren müssen.

Die Konstruktion der „reinen“ Beratung

Verfolgt man die Versuche einer theoretischen Konzeptualisierung von Beratung, so fällt die Vorliebe der meisten Autoren für „reine“ Beratungsbeziehungen auf. Man findet das sowohl bei Dewe/Schwarz, als auch z.B. bei Oevermann, auf den sie sich wiederholt beziehen. Engel und Sickendiek (2005) verweisen darauf, dass in der englischen Diskussion „Counselling“ stärker als in Deutschland/Österreich/Schweiz als eigenes Theorie- und Praxisfeld behandelt wird. In der pädagogischen deutschen Diskussion wird als Hintergrundfolie jeweils das Bild einer „Profession“ verwendet. Was diesem idealtypischen Bild nicht entspricht, erscheint defizitär oder als Deformation. Eine so konzipierte Beratung als professionelle Leistung habe einige Voraussetzungen zu erfüllen (Dewe/Schwarz 2013:74-78):

  • Problemlösungsorientierung
  • Freiwilligkeit inklusive Abbruchfreiheit
  • Nutzerorientierung
  • Niederschwelligkeit
  • Unabhängigkeit und Neutralität
  • Fallbezogenheit

Es wird hier ein normatives Modell sichtbar, das sich in erster Linie an die bereitstellenden Organisationen bzw. an die beratenden Profis richten mag. Der Unterschied zu den einleitend von den Autoren geschmähten zahlreichen How-to-do-Publikationen, die zumeist ähnliche Postulate aufstellen, mag hier nicht sofort einzuleuchten – wobei die Nützlichkeit dieser Normen nicht bestritten werden soll. Wird ein Gespräch oder ein Gesprächsteil im Modus der Beratung geführt, so erhöht die Beachtung der genannten Orientierungen sehr wahrscheinlich die Nutzbarkeit für den Klienten bzw. die Klientin. Tatsächlich zielen zahlreiche Beratungskonzepte mit ihren methodischen Anweisungen gerade darauf, die Beratenden zu instruieren, wie sie denn in ihrer Gesprächstaktik oder in der allgemeinen Inszenierung des Settings den genannten Forderungen entsprechen können. So verweist zum Beispiel das Konzept der systemischen Beratung auf die unhintergehbare Autonomie der KlientInnen bei ihrer Entscheidungsfindung (vgl. Z.B. Willke 1994 als klassischer Text) und stellt Sätze und Floskeln zur Verfügung, die zu einem Perspektivenwechsel anregen. Die durchaus umstrittene sogenannte motivierende Gesprächsführung (Miller/Rollnick 2002) als Beratungskonzept, das aus der Suchtarbeit kommt, tut ähnliches und verwendet viele Detailanweisungen darauf, ein Drängen der Beraterin oder des Beraters auf eine vermeintlich einzig sinnvolle Entscheidung des Klienten zu vermeiden.

Es bleibt zu fragen, weshalb sie das tun, und weshalb das anscheinend Offensichtliche, das zur Grundstruktur einer Beratungssituation gehört, solcher Anweisungen überhaupt bedarf. Dazu hier einige Vermutungen:

  • Die meisten Berater sind nicht nur Berater, sondern treten den Klienten auch in anderen Rollen gegenüber. Die Sozialarbeiterin in einer Suchtberatungseinrichtung ist eben in einer Suchtberatungseinrichtung beschäftigt und von ihrem organisatorischen Kontext bereits auf „Suchtbehandlung“ orientiert. Eine freie Würdigung, ob tatsächlich „Sucht“ das zu bearbeitende Problem sei, ist zum einen subjektiv für die Sozialarbeiterin schwierig zu realisieren, zum anderen wird ihr nicht ganz zu unrecht von den Klienten unterstellt werden, dass sie letztlich eine Beeinflussung in Richtung Abstinenz im Sinne habe.
  • Rechtliche Rahmenbedingungen versehen Beratung mit Zielvorgaben, die die thematische Offenheit ebenso wie die Freiwilligkeit einschränken können (vgl. dazu z.B. Suschek 2006)
  • Viele Beraterinnen und Berater haben relativ klare Vorstellungen darüber, wie ihrer Meinung nach das präsentierte oder von ihnen identifizierte Problem zu „lösen“ sei. Das entspricht dem Modus des Alltagsdenkens, und es ist nicht leicht, sich das rasche Besserwissen abzutrainieren.

Paradox mag erscheinen, dass die oben genannten Grundsätze wohl am besten dort gewährleistet scheinen, wo nicht mehr eine Person, sondern eine nutzerorientiert gestaltete Datenbank die Beraterposition übernimmt.  Das macht deutlich, dass das hier präferierte Beratungsideal in hohem Maße von allem „Sozialem“ abstrahiert und eine Berater-Persönlichkeit (bzw. einen Beraterstatus) stillschweigend voraussetzt, die der sozialen Ordnung weitgehend enthoben ist, keine über die Beraterfunktion hinausgehende Statusmerkmale, Verpflichtungen oder Verantwortungen aufweist, also eigentlich eine Nicht-Person ist. Das trifft in der Reinform eben nur auf Nicht-Personen zu.

Ein guter Teil der How-to-do-Literatur zielt darauf, die nötige Offenheit im Gesprächsverlauf durch Anweisungen an die BeraterInnen bzw. durch die Bereitstellung von Standardsätzen zu gewährleisten. Insofern liefern sie Techniken, die den oben genannten Gründen für einen Bias entgegenwirken können. In diesem Maße machen sie aber auch Beratung zu einer technischen Angelegenheit, wirken an der Depersonalisierung des Beraters mit. Sie müssen daher in aller Regel auch Anweisungen enthalten, die scheinbar den Personstatus des Beraters wieder herstellen bzw. so etwas wie den Anschein von „Beziehung“ erwecken können. Dazu gehören die Bezugnahmen auf Affekte, sowie Elemente des Lobs und der Ermutigung. Diese generieren in erster Linie bei den KlientInnen die Vorstellung einer emotional unterfütterten Beziehung, was auch hinreichend erscheint.

Es sei hier an das historische Beispiel des frühen Computerprogramms „Eliza“ erinnert (Weizenbaum 1966), das auf Eingaben von Versuchspersonen mit Floskeln aus dem nondirektiven Gesprächsführungskonzept von Carl Rogers (1993, Erstveröffentlichung 1951) reagiert. Zur großen Überraschung – und auch zum Entsetzen – von Weizenbaum empfanden Nutzer die Pseudokommunikation mit dem Programm als hilfreich, ja sie fühlten sich sogar verstanden, selbst wenn sie wussten, dass sie nicht mit einer Person, sondern mit einer Maschine kommunizierten. Die Entpersonalisierung des Beraters (hier: auch die Abwesenheit irgendeines „Wissens“ außer dem Wissen über erzählgenerierende Floskeln) führt zu einem Maximum an „Klientenzentriertheit“. Das Programm wie auch die reale Beratungsstrategie von Rogers strukturieren ein Selbstgespräch.

Wird den Floskeln noch themenspezifisches Wissen hinzugefügt, zum Beispiel über die aktuelle Gesetzeslage, über Standardverläufe von Entscheidungsprozessen, über charakteristische Optionen in bestimmten Lebenslagen etc., was auf dem heutigen Stand der Softwaretechnik kein grundlegendes Problem darstellen dürfte, so wird ein automatisiertes Beratungsmodell vorstellbar, das in hohem Grade jene Forderungen erfüllt, die an professionalisierte Beratung gestellt werden. Dieses Gedankenexperiment könnte Anlass dafür sein, noch einmal über die Bücher der Beratungstheorie zu gehen.

Kontaminierte Beratung

Der Kommunikationsmodus „Beratung“ findet nicht, wie insgeheim von einer „reinen“ Beratungslehre unterstellt, vorrangig im Rahmen von Settings statt, die bloße Beratungssettings sind und nicht in erster Linie durch Personen, deren ausschließliche Rolle die des Beraters ist. Weit verbreitet ist Beratung, die in eingreifende Handlungs- und Unterstützungsformen eingebettet ist, wobei die Profis phasenweise beratend, dann aber im selben Prozess auch als eingreifend Gestaltende agieren. Als erstes Beispiel – und um nicht den Eindruck zu erwecken, das sei ein Spezifikum verwaltungsförmiger Sozialarbeit – seien hier Ärzte genannt, die sowohl beratend als auch (invasiv) untersuchend, verordnend und therapierend agieren. Charakteristisch ist diese Kombination für die Sozialarbeit, die im Lebensfeld der KlientInnen sichtbar und aktiv wird, dort anwaltschaftlich agiert und dies in Beratungssequenzen an die Zustimmung und Autonomie der Klienten rückzubinden versucht. Aus der Sicht einer „reinen“ Beratungslehre scheint das die geforderten Standards vor allem dann zu unterschreiten, wenn Pflichtklientschaft vorliegt.

Im Lichte der vorhin ausgeführten Kritik an einer Lehre der „reinen“ Beratung, die ohne es selbst zu wollen in die Nähe eines technokratischen Beratungsverständnisses gerät, könnte man von „kontaminierter Beratung“ als Normalfall sprechen, wenn BeraterInnen involviert sind, die als wirkliche Personen den KlientInnen entgegentreten. Wirkliche Personen in dem Sinne, als sie auch andere als nur die Beraterrolle haben, dass sie über ihre Körperlichkeit, über ihren Habitus, über ihre Organisationszugehörigkeit, über ihre Handlungsmacht sichtlich in einem sozialen Verhältnis zu ihren KlientInnen stehen, von dem nicht ohne Schaden abgesehen werden kann und das die Kommunikation wesentlich rahmt. Insofern sind sie wie lebensweltliche BeraterInnen Teil der relevanten sozialen Umwelt ihrer KlientInnen, interessierte Mitglieder der Fallkonstruktion. Ihr Status ist unabhängig von ihrem Willen wirksam. Er wird ihnen zugeschrieben. Und in dem Maße, in dem sie auch außerhalb der Kommunikationsinseln, in denen sie beratend agieren, aktiv sind, beeinflussen sie die Lebensrealität der KlientInnen direkt.

Luthe (2006) weist darauf hin, dass ein Großteil der Hilfen außerhalb der direkten Interaktion mit den KlientInnen erbracht wird – und dass man das inklusive der dialogischen Anteile des Prozesses durchaus mit dem praktischen Gewinn einer Desillusionierung als Sozialtechnologie beschreiben kann.

Bei Dewe und Schwarz (2013:80-83) sind die Modi der Problemlösung Perspektivenwechsel, Wissensvermittlung, Empowerment/Kompetenzförderung sowie anwaltschaftliche Unterstützung. Vor allem der letzte Modus, jener der anwaltschaftlichen Unterstützung, so bescheiden er in dieser Konzeptualisierung daherkommt, überschreitet die Beraterrolle, macht die BeraterInnen in der Lebenswelt ihrer KlientInnen sichtbar. Die Nicht-nur-BeraterInnen werden nach ihren Handlungen beurteilt. Für sozialpädagogische Interventionen in Familien hat Klaus Wolf (2012) beispielhaft ausbuchstabiert, wie beratende und andere Formen der Kommunikation und der Hilfe empirisch beschrieben, daraus normative Handreichungen abgeleitet werden können.

Der Versuch einer konstitutionstheoretischen Begründung von Beratung ist eine der größeren Leistungen, die Bernd Dewe in seiner vielfältigen Forschungs- und Lehrtätigkeit vollbracht hat, immer in Bezug auf Fragen der Professionalisierung pädagogischer Tätigkeiten. Er legt dabei stets einen Rahmen zahlreicher Bezüge und Referenzen vor, dem man im Versuch, an seine Analysen anzuschließen bzw. sie kritisierend weiter zu entwickeln kaum gerecht werden kann. Trotzdem sei die Inspiration hier für eine bescheidene Kritik genützt, für die Formulierung eines Desiderats:

Eine bescheidene Theorie der Beratung wäre ein unbescheidenes Projekt. Sie könnte sich nicht auf den Kommunikationsmodus der Beratung allein konzentrieren, sondern müsste die Kontaminierungen mitreflektieren, in die Beratung zumeist eingebettet ist, und durch die sie als bloß ein Element eines größeren, seinerseits kontaminierten Feldes von professioneller „Hilfe“ erscheint. Besonders für die Professionalisierung der Sozialen Arbeit wäre das ein lohnendes Unterfangen. Analytisch wäre dann nicht das Desiderat einer Beratungsprofession Ausgangspunkt der Überlegungen, sondern die real vor allem in der Sozialarbeit vorfindlichen kombinierten Praxen aus Beratung, Entscheidung, Agieren im Feld. Beruflich soziale Praxen von identifizierbaren Personen, die einmal versuchen, BeraterInnen zu sein, dann wieder ManagerInnen, berufliche Teilzeitverwandte, AnwältInnen ihrer KlientInnen oder AgentInnen der sie beschäftigenden Organisation; die dabei manchmal scheitern und denen immer wieder auch Hilfe bei Wegen zur Inklusion gelingt; die dabei von ihren unheilbar autonomen KlientInnen und von den Personen in deren Umfeld beobachtet werden, die ihrerseits ihre Entscheidungen treffen, manchmal sogar so, dass etwas weitergeht in den unübersichtlichen sozialen Situationen, die für die Profis als „Fall“ erscheinen.

 

Literatur

Dewe, Bernd / Schwarz, Martin P. (2013): Beratung als professionelle Handlung und pädagogisches Phänomen. 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Hamburg.

Engel, Frank / Sickendiek, Ursula (2005): Beratung – ein eigenständiges Handlungsfeld mit neuen Herausforderungen. In: Pflege & Gesellschaft, 10. Jahrgang, Heft 4.  S. 163-171.

Erdheim, Mario (1993): Therapie und Kultur – Zur gesellschaftlichen produktion von Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen. In: Ethnopsychoanalyse 3. Frankfurt am Main.

Gildemeister, Regine (1991): „Inszenierung von Gemeinschaft“ – Sozialtherapeutische Arbeit im Spannungsfeld von Individualisierung und sozialer Integration. In: Porsch, Rita (Hg.): Schriften zur Sozialen Therapie – Band IV, Aktuelle Beiträge II. Kassel. S. 37-61.

Gröning, Katharina (2010): Entwicklungslinien pädagogischer Beratungsarbeit: Anfänge, Konflikte, Diskurse. Wiesbaden.

Luthe, Ernst-Wilhelm (2006): Warum Sozialtechnologie?. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (NDV) März: http://www.systemagazin.de/bibliothek/texte/luthe_warum_sozialtechnologie.pdf.  S. 1-5.

Miller, William R. / Rollnick, Stephan (2002): Motivational Interviewing. Preparing people for change (2nd edition). New York: Guilford.

Pantuček, Peter (2006): Welches Subjekt? Welches Verschwinden? Keine Antworten auf eine Frage von Fritz-Rüdiger Volz. Referat, gehalten auf dem Festkolloquium “Verschwindet das Subjekt aus der Sozialen Arbeit?” zum 60. Geburtstag von Fritz-Rüdiger Volz in der Evangelischen Stadtakademie Bochum, 20.5.2006. In: http://pantucek.com/texte/200605_volz.html.

Rogers, Carl (1993): Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie. Frankfurt/Main. (amerikanische Erstveröffentlichung 1951)

Suschek, Margarete (2006): Recht und Beratung. In: Schnoor, Heike (Hg.): Psychosoziale Beratung in Sozial- und Rehabilitationspädagogik. Stuttgart. S. 34-47.

Weizenbaum, Joseph (1966): ELIZA – A Computer Program For the Study of Natural Language Communication Between Man And Machine. In: Communications of the ACM 1. Auflage. New York.

Willke, Helmut (1994): Systemtheorie II: Interventionstheorie. Stuttgart.

Wolf, Klaus (2012): Sozialpädagogische Interventionen in Familien. Weinheim und Basel.



[1] Und by the way trifft das auch auf jene Formen der Beratung zu, die im kommerziellen Bereich angesiedelt sind. Die BeraterInnen sind zumeist auch Verkäuferinnen und haben damit eine Agenda, die über die Beratung hinausgeht.

[2] Regine Gildemeister (1991) hat am Beispiel von Gesprächsprotokollen einer Wohneinrichtung gezeigt, wie die Thematisierung der eigentlich realistischen Lebensperspektive außerhalb des ersten Arbeitsmarkts sorgsam vermieden wid.