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Was ist Ganzheitlichkeit in der Sozialen Arbeit?
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- Erstellt am Freitag, 24. Juni 2011 21:05
Der Terminus „Ganzheitlichkeit“ wird v.a. im Gesundheitswesen positiv besetzt und polemisch verwendet (als Gegenentwurf zu den Fachmedizinen, die sich inzwischen auf molekularer Betrachtungsebene mit der Entwicklung und Bekämpfung von Krankheiten beschäftigen).
Das Fehlen einer solchen Spezialisierung v.a. der Forschung und Entwicklung ist m.E. Kennzeichen für ein Technologiedefizit der Sozialen Arbeit, die, betrachtet man v.a. die deutschsprachige veröffentlichte Diskussion, noch eine der wenigen in den funktional differenzierten Gesellschaften verbliebenen Ressorts zu sein scheint, die von einem ideologischen Diskurs dominiert werden. Die deutsche universitäre Sozialpädagogik hat einen großen Anteil daran, allerdings auch die Institutionsabhängigkeit der Sozialen Arbeit und die Politikabhängigkeit der Institutionen (vergleichbare inhaltliche Eingriffe der Politik in die Medizin sind zum Beispiel undenkbar).
Nun macht die mangelnde Spezialisierung den Terminus der „Ganzheitlichkeit“ als Gegenentwurf zum Vorfindlichen in der Sozialarbeit relativ schwach, ja in seiner Konkretisierung als Wahrnehmung des Menschen als „biopsychosoziale“ Einheit verfehlt er sogar den Gegenstand der Sozialarbeit, verschiebt den Fokus allein auf den inneren Raum, nicht auf die Verbindung des Menschen zu seinem Lebensraum (Lebensfeld, „Gesellschaft“). Die Spezialisierungen der Sozialarbeit laufen nicht entlang einer inneren funktionalen Differenzierung des Wesens Mensch (oder des menschlichen Körpers als komplexen Systems wie in der Medizin), sondern entlang der Logik der Institutionalisierung von Problembearbeitungsprogrammen in der Gesellschaft. Sozialarbeiterische Spezialisierung ist also nicht der Logik der Sozialarbeit als Wissenschaft geschuldet, sondern der Logik der Politik (der diskursiven Definition sozialer Probleme, der Bearbeitung und Verarbeitung sozialer Probleme im politischen System, der Beantwortung durch die Schaffung von Programmen und Institutionen).
Dementsprechend ist entgegen dem ersten Anschein „Ganzheitlichkeit“ in der Sozialarbeit ein partikularistisches Konzept, soweit es den Begriff unreflektiert aus der Diskussion zum Gesundheitswesen in den Bereich der Sozialarbeit transferiert. Während der Begriff in der Medizin auf die sinnvolle und nötige Auseinandersetzung mit der Person als leidender und mit dem mit dem Leiden kämpfenden, personalen und in sich komplexen Gegner der Krankheit und damit als potenziellem Verbündetem der MedizinerInnen verweist, bleibt er in der Sozialarbeit leer. Alle sozialarbeiterischen SpezialistInnen versuchen, weil es eben ihr Geschäft ist, die Personen in ihrer Lebenssituation zu erfassen, aber die anderen am Fall tätigen SozialarbeiterInnen tun das auch, und so entsteht ein Overkill an personenbezogener Ganzheitlichkeit. An diesem Problem versucht sich das Case-Management-Konzept abzuarbeiten, konzeptuell mit großem, in der praktischen Umsetzung mit geringerem Erfolg[1].
Eine vergleichbare Engführung wie sie sich in der Medizin durch die Spezialisierung ergibt, ist in der Sozialarbeit durch den psychologistischen Reduktionismus gegeben, durch die institutions- und programmbezogene[2] Einschränkung des Wahrnehmungs- und Aktionsradius.
Wenn auch die Beschäftigung mit der Problematik des Ganzheitlichkeits-Begriffes für die Sozialarbeit nicht so dringend erscheint (er spielt dzt. nur eine randständige Rolle im professionellen Diskurs), deutet doch die oben skizzierte Überlegung einige zentrale Bedingungskonstellationen für Orientierungen wie „Lebenswelt“, „Sozialraum“ u.ä. an.
Ergänzung aus aktuellem Anlass: So gesehen verweist der Terminus „Ganzheitlichkeit“ in erster Linie auf ein Defizit, nämlich auf den Verlust des Blicks auf die Komplexität des Gegenstands durch Spezialisierung. Es wäre also zuerst zu definieren, welcher Gegenstand denn nun verloren gegangen ist, und wie er denn wiederzufinden wäre. Ohne diesen Bezug wird der Begriff der „Ganzheitlichkeit“ zu bloßem Gewäsch, das bevorzugt dort zur Anwendung kommt, wo es nicht wirklich einen Begriff vom Gegenstand gibt. Er ist oft ein esoterischer Begriff, ein Ausweis gedanklicher Verwahrlosung. Damit ist er gut aufgehoben in einer Mainstream-Psychologie, die sich einerseits physiologisch beschränkt, andererseits alles einzugemeinden versucht, was „irgendwie“ mit dem Psychischen zu tun hat.
Kürzlich habe ich – nicht ganz zu unrecht – vom geringen wissenschaftlichen Ansehen der Pädagogik gelesen. Dieser Einschätzung kann ich zustimmen. Zugegebenermaßen hat da auch die Soziale Arbeit ein Problem, und die Psychologie ebenso. Die berufspolitischen Übergriffe der PsychologInnen sollten wir wahrscheinlich einerseits gelassen beobachten (unsere AbsolventInnen müssen halt einfach besser sein, und derzeit sind ihre Chancen auf einen Job auch besser als die der PsychologInnen), andererseits jeweils im Einzelfall unaufgeregt zurückweisen. Und Ganzheitlichkeitsgewäsch der Konkurrentinnen kann uns da nur nützen.
Löcherbach, Peter (2003): Einsatz der Methode Case Management in Deutschland: Übersicht zur Praxis im Sozial- und Gesundheitswesen. In: Vortrag auf dem Augsburger Nachsorgesymposium am 24.5.2003.
Pantucek, Peter (2007): Falleinschätzung im Case Management. In: Soziale Arbeit Nr. 11-12. Berlin. S. 432-440.
[1] Das Konzept mit dem Anspruch, alle Hilfen zentral mithilfe eines den KlientInnen nahen Case Managers zu steuern, kann aufgrund politisch generierter verwaltungstechnischer Zuständigkeitsregeln stets nur partikularistisch umgesetzt werden und so seinen umfassenden Anspruch in der Praxis kaum einlösen (vgl. dazu z.B. Löcherbach 2003, Pantucek 2007).
[2] Im deutschsprachigen Sozialarbeitsdiskurs ist seltsamerweise nie von „Programmen“ die Rede, während das in den USA aus guten Gründen durchaus üblich ist. „Programme“ sind die Maßnahmenpakete, die Finanziers (also in aller Regel der Staat mit seinen Untergliederungen) zur Beantwortung von einmal im politischen Diskurs als „soziale Probleme“ formulierten gesellschaftlichen Irritationen beschließt und initiiert. Der Programmbegriff ermöglicht das Aufschlüsseln der politischen Interessen, die in einem solchen Paket aufgehoben sind, dient also einer nicht-politik-blinden Analyse der Tätigkeit von Organisationen des Sozialwesens und einer genaueren Untersuchung des Auftrags von Sozialarbeit in diesem Rahmen. Programme haben Stakeholder, deren Einfluss sich i.d.R. auch im Programmdesign erkennen lässt. Die Analyse von Programmen wäre ein interdisziplinäres Projekt von Politikwissenschaft, Sozialarbeitswissenschaft und anderen programmrelevanten Disziplinen.