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Urszenen der Sozialarbeit und der Sozialpädagogik
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- Erstellt am Mittwoch, 09. Januar 2013 19:59
Überlegungen zur Differenz von Sozialarbeit und Sozialpädagogik anlässlich der Konzeption eines Lehrgangs Sozialpädagogik.
In sozialpädagogisch fundierten Texten findet sich ein offensichtlicher – mehr oder weniger stillschweigender – Konsens. Dieser Konsens besagt, dass es um die Beeinflussung/Änderung psychischer Systeme ginge (Gaus/Drieschner sp1/2012). Wie auch immer durch neuere Ansätze abgefedert, kontextualisiert, uminterpretiert, soll diese Änderung durch Förderung des Lernens (bzw. durch die Gestaltung von Bildungsprozessen) erfolgen. Von außen betrachtet ist hier nicht ganz klar, inwiefern sich ein Unterschied zu anderen vorrangig das Psychische System adressierenden Herangehensweisen, z.B. der Psychotherapie, herausarbeiten ließe, abgesehen von der unterschiedlichen Herkunft der Ansätze.
Wie wir Sozialarbeit verstehen, ist sie eine Profession, die eben nur auch, aber nicht zentral, die Beeinflussung der als KlientInnen (Educandi) identifizierten Personen bzw. "psychischen Systeme" zum Thema hat.
Ich bin geneigt, eine sozialarbeiterische "Urszene" als Beispiel zu nehmen. In ihr kulminieren viele Charakteristika, Widersprüche. Let's see!
Sozialarbeiterinnen in den Spitälern hatten lange Zeit als "Hauptaufgabe", mit ihnen zugewiesenen PatientInnen den Antrag für einen Pflegeheimplatz auszufüllen. Am Ende sollte ein ausgefülltes Formular stehen, eine Unterschrift.
Näher betrachtet enthielt diese Aufgabe im Kern nahezu alle wesentlichen Elemente, die der Sozialarbeit als Leistung zugeschrieben werden (und die sie stets auch genommen hat). Alles andere, das sie noch tut, kann man als logische Erweiterung dieser Grundszene beschreiben.
Ich habe diesen Handlungsvollzug in den 1970er-Jahren anlässlich eines Praktikums in einem Wiener Spital kennengelernt. In den Jahrzehnten seither habe ich in Gesprächen und Ausbildungszusammenhängen mit SozialarbeiterInnen in Krankenanstalten mich immer wieder vergewissern können, dass es diesen Ablauf immer noch gibt. Vielleicht dominiert er nicht mehr so die Tätigkeit von SozialarbeiterInnen, wie es frustrierenderweise lange Zeit der Fall war. An der exemplarischen Funktion, die ich hier postuliere, ändert das aber nichts.
Die Zuweisung erfolgte in der Regel durch einen Arzt oder vermittelt durch den Pflegedienst. Das „Presenting Problem“ war, dass Frau XY nicht mehr im Krankenhaus behalten werden könne und ein Pflegeheimplatz für sie gefunden werden müsse. Man möge mit ihr den Antrag ausfüllen.
Der Antrag war ein umfangreiches Papier, eine Fülle von personenbezogenen Daten waren hier einzutragen: persönliche Grunddaten, Einkommen, Vermögensverhältnisse, die nahen Verwandten (wg. der Unterhaltspflichten), ob es eine Wohnung gibt, und schließlich war die Unterschrift der Patientin bzw. des Patienten erforderlich.
Analysiert man den in der Überweisung enthaltenen Auftrag, so wie er explizit erteilt wurde und welche impliziten Anteile er enthält, kann man folgende Elemente isolieren:
• Vordergründig wird die Erledigung einer administrativen Aufgabe (Formular ausfüllen, damit verbunden Datenerhebung) verlangt.
• Es wird auch ein Ziel angegeben. Die Patientin soll in ein Pflegeheim transferiert werden und möglichst dieser Transferierung auch zustimmen. Wir haben es also nicht nur mit einem präsentierten Problem, sondern auch mit einer „präsentierten Lösung“ (Pantucek 2012:xxxxx) zu tun, die bei einer fachgerechten Herangehensweise die Neuformulierung des Problems, dessen Kontextualisierung und schließlich die neuerliche Suche nach einer Lösung erfordert – wobei die ursprünglich angebotene Lösung Teil der so neu gefundenen und formulierten Lösung sein kann, aber nicht muss.
• Mehr oder weniger unausgesprochen wird erwartet, dass es der Sozialarbeiterin gelingen möge, einen erwarteten Widerstand der Patientin mit einigem Geschick zumindest so weit aufzuweichen, dass die Unterschrift unter den Antrag auf einen Pflegeheimplatz „errungen“ werden kann. Damit ergibt sich auch ein Rechtfertigungsbedarf für die Sozialarbeiterin für den Fall, dass das nicht gelingt.
Geht man davon aus, dass die Sozialarbeiterin sich der Aufgabe fachgerecht nähert, den Auftrag also in eine sozialarbeiterische Aufgabenstellung uminterpretiert (was ohne große Schwierigkeiten möglich ist), dann steht sie vor folgenden Aufgaben:
• Aufsuchen der Patientin, Kontakt- und Beziehungsaufnahme unter den Bedingungen einer Pflichtklientschaft
• Herstellen eines gedeihlichen Gesprächsklimas, i.d.R. durch Interesse an der Person und ihrem Wohlbefinden
• Konfrontation mit der Situation, insbesondere dem Wunsch des Spitals.
• kooperative Datenerhebung entlang der Vorgaben des Formulars, ggf. unter den Bedingungen einer krankheitsbedingten kognitiven Beeinträchtigung der Patientin oder einer emotionalen Ausnahmesituation.
• über die Vorgaben des Formulars hinausgehend kooperative Erhebung der Lebenslage der Patientin u.a. mit den Komponenten
• persönliches Netzwerk
• eigene Zukunftsvorstellungen
• besondere Bedürfnisse
• mögliche Alternativen
• Einschätzung, ob es Alternativen zur Pflegeheimunterbringung gibt, die den Bedürfnissen und Wünschen der Patientin besser entsprechen; ggf. Abklärung, was zu tun wäre, um diese Alternative realisieren zu können
• wenn Es keine Alternativen gibt, Abklärung, was zu tun wäre, um negative Nebenwirkungen gering zu halten
• Abklärung der organisatorischen Aufgaben (z.B. Wohnungsauflösung)
• Einschätzung, wie das Timing gestaltet werden kann, um Traumatisierungseffekte gering zu halten oder möglichst auszuschließen
• Suche nach Anschlüssen an die Eigendiagnose der Patientin, um ihr zu ermöglichen, die kommenden Schritte als selbstgewählt bzw. als eigene rationale Entscheidung wahrnehmen und sich selbst zurechnen zu können
Die scheinbar administrative Aufgabe, die der Sozialarbeiterin vom medizinischen Personal zugewiesen wurde, erweist sich bei genauerer Betrachtung als relativ komplexe fachliche Herausforderung. Die Komplexität entsteht dabei dadurch, dass die Sozialarbeiterin den Auftrag fachlich interpretiert, ihn de facto ausweitet und anhand professioneller Standards für sich ausbuchstabiert. Diese Auftragsausweitung kann von ausgebildetem Personal erwartet werden und ist i.d.R. Voraussetzung dafür, dass sie den engen – scheinbar auf der Ebene einfacher Administration angesiedelten – Ursprungsauftrag erfüllen kann: Einerseits wird durch fachgerechtes Vorgehen die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Patientin den Transfer akzeptiert oder ihn sich günstigenfalls sogar als eigene Entscheidung zurechnet; andererseits können allenfalls der präsentierten Lösung andere Optionen entgegengestellt werden, deren Realisierung/Durchsetzung dann auch einer fachlichen Begründung bedarf.
Im Anschluss an die Erledigung der Aufgabe entstehen möglicherweise Folgeaufgaben:
• die Kontaktierung von Angehörigen (wobei sich die Abfolge von Beziehungsaufbau, Konfrontation, Anschluss an deren „Diagnosen“ und Vorstellungen, Diskussion möglicher Szenarien, Verhandlung und Vereinbarungen wiederholt)
• Aufnahme von Kontakten zu VertreterInnen von Organisationen aus dem „Lebensführungssystem“ (Sommerfeld) der Patientin mit dem Ziel, nötige Regelungen vorzubereiten (z.B. Auflösung des Mietverhältnisses, Beantragung von Leistungen aus der Sozialversicherung etc.)
• Verhandlungen mit VertreterInnen der eigenen Organisation (z.B. Ärzten und anderen involvierten Berufsgruppen) zur Absicherung der geplanten Aktionen oder um sie von einer alternativen Option zu überzeugen – dabei spielt oft eine Rolle, einen Zeitgewinn für die erforderlichen Begleitmaßnahmen auszuhandeln, um die Mitwirkung der Patientin bzw. der Angehörigen an einer Lösung nicht zu gefährden
• Weiterführung der Kontakte zur Patientin: laufende Information, Gespräche über deren eigene Überlegungen und bezüglich der anstehenden Änderungen in ihrem Alltagssetting und ihrer Alltagsorganisation sowie ihren biographischen Perspektiven. Das alles mit dem Ziel, sie „auf dem Weg mitzunehmen“ und sie dabei zu unterstützen, ihre Autonomie und ein Gefühl der Selbstbestimmung zu bewahren – also Traumatisierungen und Resignation zu vermeiden.
Auf einer theoretischen Ebene kann dieser Prozess mehrfach gefasst werden:
• den PatientInnen droht, aus einem relativ selbstbestimmten Lebensfeld in ein durch nahezu umfassende Substitution gekennzeichnetes Alltagssetting transferiert zu werden. Das scheint gegenüber dem aktuellen Zustand keine wesentliche Änderung zu sein, schließlich ist auch ein Spital eine substitutierende Organisation mit möglicherweise sogar rigideren Einschränkungen der Möglichkeiten autonomer Lebensführung als die Pflegestation. Der Aufenthalt in einem Krankenhaus ist allerdings per definitionem temporär und enthält die Perspektive, wieder relativ gesund zu werden und in die eigene Welt entlassen zu werden (oder zu sterben, wo sich diese Frage des danach nicht mehr stellt). Die Pflegestation hingegen ist zumindest in den derzeit überwiegenden Ausformungen eine terminale Substitution von Lebenswelt. Sie ist nicht temporär angelegt und erfordert die Auflösung von nicht nur symbolischen Ankern in der „Normalwelt“, z.B. der eigenen Wohnung. Der biographische Bruch könnte subjektiv und objektiv größer kaum sein. Die Aufgabe der Sozialarbeiterin kann als Begleitung bei einer Statuspassage beschrieben werden, ergänzt durch den Versuch, deren Notwendigkeit zu überprüfen und deren zu erwartende ungünstige Wirkungen durch begleitende Maßnahmen abzufedern.
• Die Arbeit der Sozialarbeiterin ist eine Arbeit an der Inklusion der Patientin unter den Bedingungen eines starken Exklusionsdrucks: Sie überprüft, ob es gangbare Alternativen zur Exklusion gibt; sind solche nicht auffindbar, versucht sie die Exklusion dadurch abzufedern, dass sie Elemente von Inklusion fördert – z.B. durch die Stärkung der Beziehungen zu den Angehörigen oder dadurch, dass sie bei der Patientin Deutungsmuster fördert, die ihr auch unter den neuen Bedingungen eine Eigenwahrnehmung als autonome Person mit Handlungsmöglichkeiten erleichtert.
• Als orientierender Hintergrund für die SozialarbeiterInnen können Vorstellungen von Menschen- und Patientenrechten dienen, aber auch anthropologische Theorien von Bedürfnissen, vom Status von Individuen und „Subjekten“, oder das Berufsethos der Sozialarbeit.
• weitere theoretische Bezüge betreffen die Beziehungsgestaltung, die für ein Gelingen des Prozesses essenziell ist.
Charakteristisch für eine sozialarbeiterische und nicht sozialpädagogische Aufgabenstellung sind hier folgende Merkmale der professionellen Aufgabe:
• Ausgangspunkt ist ein „Presenting Problem“, hier durch Dritte formuliert.
• Das Presenting Problem dient als Ausgangspunkt, unterliegt jedoch im Zuge der Bearbeitung einer Kontextualisierung durch Einbeziehung weiterer Perspektiven und Informationen und in der Folge einer Umformulierung.
• Trotzdem bleibt der Prozess an eine Problemformulierung gebunden, er wird nicht entgrenzt. Die Beziehung zur Klientin erhält bei Gelingen ein relatives Eigenleben, ist aber nicht primär durch die gemeinsame Anwesenheit in einem Alltagssetting gerahmt.
• Es können im Zuge des Prozesses viele Lebensthemen der Patientin (hier: Klientin) angesprochen werden, jedoch ohne den Anspruch einer umfassenden Behandlung und stets unter der Prämisse des relativ raschen Rückbezugs auf die konkret anstehenden Fragen.
Sollte man eine "Urszene" für die Sozialpädagogik beschreiben, so könnte das die Beziehung eines Erziehers zu einem Heimzögling sein, oder der Kontext eines Jugendzentrums. In beiden Fällen gestaltet SP Alltag oder Alltagsausschnitte. Dafür werden u.a. Techniken benötigt, die nicht oder nur ausnahmsweise problembezogen sind. Die SP sind vorerst selbst Teilnehmerinnen am Alltag ihrer AdressatInnen, sie gestalten diesen als "professionelle Verwandte". Professionelle Verwandte insofern, als für Verwandte u.a. charakteristisch ist, dass sie im Alltagsleben erscheinen bzw. man selbst zeitlich begrenzt in ihrem Alltag erscheint, an ihm teilnimmt - zum Beispiel bei einem Besuch. Zuerst steht dabei die Gestaltung dieser Szenen im Vordergrund, nicht die Lösung eines Problems, die Beratung, der Diskurs darüber, wie die anwesenden Personen ihr Leben gestalten. All das kann zwar auch vorkommen, steht aber höchstens in Ausnahmesituationen im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Was heißt das für die Konzeptionierung eines SP-Studiengangs parallel zu einem SA-Studiengang?
• Zuerst wäre festzuhalten, dass ein Verständnis für abseitige und prekäre Sozialisationsverläufe erworben werden muss.
• Dies betrifft nicht nur Kinder/Jgdl, sondern auch Erwachsene und SeniorInnen.
• neben der starken Rolle als relativ unbestrittener Gestalter von Alltagssettings (ErzieherIn) wäre noch die Rolle als mit wenig Macht ausgestatteter MöchtegernberaterIn einzuüben (Streetwork, Parkbetreuung, Begleiter der um Vertrauen werben muss).
• Spannungsfeld von Parteilichkeit und nötiger Konfrontation: Die gemeinsame Anwesenheit in einem Alltagssetting erfordert andere und umfangreichere Strategien der professionellen Selbstinszenierung und der variablen und doch konsistenten Beziehungsgestaltung. Die Alltage, in denen Sozialpädagogik agiert, reichen von häuslichen Heimspielen der KlientInnen (z.B. bei der sozialpädagogischen Familienhilfe) bis zu Substitutalltagssettings, die von den SP bzw. den Organisationen geformt und dirigiert werden (z.B. im Heim, in Wohngemeinschaften, aber auch in Jugendzentren und bei halb- oder ganz offenen Settings wie der Parkbetreuung).
• Die Settings variieren nicht nur nach dem "Ownership" (wer ist "HerrIn" des Settings), sondern auch nach der Durchlässigkeit der Grenzen. Diese ist im Pflegeheim sehr gering, in der Parkbetreuung sehr groß. Je größer die Durchlässigkeit ist, umso mehr hängt der Erfolg von der Attraktivität des Angebots ab, und um so mehr sind die SP gefordert, die Flüchtigkeit der hier entstehenden Beziehungen ebenso wie ihre Unverbindlichkeit auszuhalten und sinnvoll zu interpretieren.
• Sozialpädagogik gehört zu den "performing arts". SP benötigen die Bereitschaft und die Fertigkeiten, um als GestalterInnen von Alltagsevents und Alltagsabläufen glaubhaft zu sein. Sie müssen für ihr jeweiliges Klientel attraktive und deren Fähigkeiten fördernde Abläufe bereitstellen können. Das schließt die Fähigkeit mit ein, längere Phasen ungestaltet zu lassen oder auf die je aktuellen Bedürfnisse und Wünsche des Klientels "nur" zu reagieren. Das Muster eines "normalen" Alltags ist dafür eine hilfreiche Folie.
• SP müssen lernen, dass ihre KlientInnen wie sie selbst sind, in einigen Aspekten aber aus gutem Grund auch NICHT wie sie selbst. Hilfswissenschaften, die das erklären können (Medizin, vor allem die Psychiatrie, (Entwicklungs-)Psychologie, Soziologie, Sozialanthropologie), sollten Teil des Curriculums sein.
• Die Sozialarbeit mit ihrem Spezialwissen über die besondere Logik von Unterstützungsprozessen sollte im Curriculum als Hilfswissenschaft deutlich vertreten sein.
• SP benötigen genaue Kenntnisse darüber, wie sich für ihre KlientInnen die Welt aufbaut, welche spezifischen Herausforderungen sich für die Lebensführung ergeben, welche realistischen Chancen und Handlungsmöglichkeiten sie haben. Im Studium können nicht alle möglichen KlientInnenwelten so ausbuchstabiert werden. Daher muss das exemplarisch geschehen, mit einem Fokus darauf, wie die nötigen spezialisierten Kenntnisse rasch angeeignet werden können.
• SP sollten gute und informierte StaatsbürgerInnen sein. Dafür benötigen sie Kenntnisse über das Funktionieren der Gesellschaft, über das Funktionieren des Rechtssystems, und darüber, wie man rechtliche Ansprüche realisieren kann.
• SP sind über ihre Rolle der Gestaltung von Alltagssettings hinaus immer wieder auch mit der Funktion der AlltagsberaterIn betraut. Als TeilnehmerInnen am Alltagssetting sind sie als BeraterInnen in der gleichen Position wie Laien. Gleichzeitig sind sie als Profis mit höheren Erwartungen konfrontiert. Es ist nicht das Ziel, die SP zu perfekten BeraterInnen auszubilden. Dafür sind SA besser geeignet und ausgebildet. Aber sie sollten gute Kenntnis über Beratungsprozesse haben, um das Niveau von alltagsweltlichen MentorInnen zu erreichen.