Der 2020 Krisenblog

Neunundfünfzigster Tag

Ich habe mich wie viele andere, die die Möglichkeit dazu hatten, zurückgezogen in den letzten Wochen. Der Aktionsradius betrug physisch nur mehr ca. zwei Kilometer. Die Räume, in denen ich mich aufhielt, waren die sogenannten eigenen vier Wände und noch diverse Zoom-Räume. Dazu kamen noch der Garten und meine täglichen kleinen Rundwanderungen.
War ich abgeschnitten vom Rest der Welt? Nein. Ich scherzte, führte Smalltalk, Verhandlungen, Besprechungen, beriet Studierende und informierte mich über Print- und Onlinemedien so weit möglich über die Vorgänge in der Welt, verfolgte aufgeregte und nüchtern-sachliche Diskussionen. Nur meine Netzkarten für Wien und Österreich, die verwendete ich gar nicht, und das Auto kaum.
Was wäre das für eine diffuse Angst gewesen, wenn es diesen ständigen Strom von (wenn auch zum Teil widersprüchlichen) Informationen und Kontakten nicht gegeben hätte. Es kam auch nie ein Gefühl der Ohnmacht, nicht einmal das einer relativen Ohnmacht, auf. Ich habe eine Arbeit, bei der meine physische Anwesenheit nicht unbedingt erforderlich ist. Und ich lebe in einer Welt, die andere Wege der Kommunikation als das direkte Gespräch längst möglich gemacht hat. Schnelle Wege inzwischen, obwohl – der Anfang dessen war die Erfindung der Schrift. Seit es die Schrift gibt, gibt es diese Fernwirkung von Menschen, die Präsenz ihrer Texte ohne die physische Anwesenheit der Person.
Aber halt – der Anfang war noch früher: Bei der Herstellung von Werkzeugen, beim Zeichnen. Also noch deutlich vor der Erfindung der Schrift. Zu den Zeiten, als die Menschen eine eigene Welt der Dinge und Zeichen zu schaffen begannen.
Inzwischen, nach diesen Wochen, erkenne ich die physische Präsenz – gemeinsam mit anderen Menschen, an anderen Orten – als etwas Besonderes, Zusätzliches. Ich bin geneigt, es in Zukunft vorsichtig und achtsam einzusetzen. Und dann zu genießen. Wie einen besonders guten Tee.
Wir haben das Schwanenpaar beim Nestbauen beobachtet, dann beim Brüten. Jetzt sind sie da: acht Jungschwäne, hier bei einem kleinen Familienausflug.
 
2025-11-23 um 21.08.05

Sechzigster Tag

Ich lasse heute Lea Putz-Erath zu Wort kommen. Sie hat mir folgenden Text geschickt:
Objekte_Maschinen_Menschen
„Es scheint so, als ob die Corona-Krise arbeitsrechtliche Missstände aufzeige.“ so sagt die Deutschlandkorrespondentin des ORF am 11.05.2020 in einem Bericht über die starke Ausbreitung von Covid-19 in Quartieren für Schlachthofmitarbeiter:innen in Deutschland.
In einem am gleichen Tag ausgestrahlten Mittagsjournal-Bericht über den Sonderreisezug für Rumänische Pflegekräfte ist von „Betreuerinnen die ausgetauscht werden“ die Rede. Wie weit sind wir schon gekommen? Menschen, die ausgetauscht werden? Von wem werden die Betreuerinnen hier zum Objekt gemacht? Menschen, die seit Jahren das Betreuungssystem für Ältere, Pflegebedürftige in Österreich und anderen Ländern aufrecht erhalten?
Gestehen wir ihnen nicht das Mensch-Sein zu? Sind sie eher eine Ware, ein Produktionsmittel?
Ein anderes Beispiel aus der aktuellen Berichterstattung: Landwirte lassen in Corona-Zeiten Erntehelfer:innen einfliegen. Sinngemäß berichtet der Sprecher der Landwirte, dass die österreichischen Interessierten, die gerne helfen möchten, nicht so einsatzfähig, eingespielt und vielleicht auch leidensfähig sind. Die Teams aus Bulgarien seien sehr eingespielt, haben total viel Übung und können die Ernte (im konkreten Fall der Erdbeeren) super professionell und schnell einbringen. Oder wie ein Bauer in den VN zitiert wird: „Sie kennen die Arbeit, sind robust und bringen Ernteleistungen von zwölf bis 15 kg pro Stunde.“ Wie kann ich mir das dann vorstellen: Gruppen von Erntehelfer:innen, hierarchisch gegliedert, die maschinengleich und ohne Rücksicht auf den individuellen Körper in Rekordtempo unsere Erdbeeren pflücken. Auch hier: kein Subjekt, der einzelne Mensch tritt in den Hintergrund, mir fielen sogar Vergleiche mit Nutztieren ein.
Über die Umstände, unter denen sich in den Quartieren der Fleischindustrie-Arbeiter:innen das Virus so stark ausbreiten konnte, möchte ich mir lieber gar nicht so viele Gedanken machen.
Und bitte, damit ich hier nicht falsch verstanden werde: ich bin in einem kleingewerblich-bäuerlichen Milieu aufgewachsen. Es liegt mir wirklich fern, hier einzelne Menschen, Betriebe oder Branchen zu verurteilen. Es liegt mir auch fern mit dem gehobenen Zeigefinger daherzukommen.
Aber: Wir müssen reden, alle miteinander. Menschen sind Menschen und ich wünsche mir, dass sie, egal in welchem Beruf sie tätig sind, als solche wahrgenommen werden!
Wie wollen wir, dass Menschen leben und arbeiten?
Wie wollen wir, dass Menschen über Menschen sprechen?
Ich erinnere mich an mein Studium zur Sozialarbeiterin als wir lernten, dass z.B. Verwahrloste, Obdachlose nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden, wenn Passant:innen an ihnen vorbeigehen und sie als Objekt im öffentlichen Raum sehen. Es ist Teil meiner beruflichen Identität darauf aufmerksam zu machen, wenn so etwas passiert."
So weit Lea. Im Zuge der Arbeit an meinem nunmehr als Fragment veröffentlichten Roman „Wieder Au“ hatte ich mich ja in das Gedankenexperiment vertieft, dass der vermeintliche Wunschtraum der Rechten, dass die „Ausländer“ aus Wien verschwinden mögen, wahr wird. Je mehr ich mich damit beschäftigte, umso klarer wurde mir, dass das gar nicht deren Utopie ist, sondern es im Gegenteil um die Entrechtung jener geht, die nicht zu den „unseren“ gehören. Sie werden gebraucht, als Arbeitskräfte, aber sie sollen nicht den Status von mit Rechten ausgestatteten Bürger*innen erhalten, sollen zur disponiblen Masse werden, die je nach Bedarf eingesperrt, verschoben werden und die als ein willkommenes permanentes Feindbild dienen kann. Jenes Sprechen über Menschen, die hier arbeiten wollen, das Lea beschreibt, ist noch nicht Ausdruck dieser Ideologie, aber es ist ein Denken, an das sie anknüpfen kann. Die Sprecher*innen meinen das wohl nicht so, sie sprechen ganz einfach aus der Perspektive ihrer Position und Verantwortung, und so ist es nachvollziehbar, wenn es auch bei aufmerksamen Hörer*innen beträchtliches Unbehagen hervorruft. Bedenklich ist die Unsichtbarkeit der anderen Perspektive. Kaum jemand ergänzt oder widerspricht. Die „Ausgetauschten“ hört man nicht, es spricht nicht einmal jemand laut genug für sie. Da geht etwas ab.
Einen schön ambivalenten Satz habe ich heute in einem Sportkommentar gelesen: „zurück zur neuen Normalität“ (Filip Vukoja auf 12termann.at). Tja. Zurück in die Zukunft – oder vorwärts in die Vergangenheit?
Das Foto stammt aus meinem Archiv. Passend?
 
 2025-11-25 um 16.09.26

Einundsechzigster und zweiundsechzigster Tag

Das dramatischste Ereignis meines heutigen Tages war ein Konflikt, den ich beobachten konnte. Ich war selbst in einer parkähnlichen Landschaft zu Fuß unterwegs, als hinter mir eine Nebelkrähe laut und aufgeregt krächzte. Ich blieb stehen, drehte mich um: Sie beschimpfte offensichtlich eine junge, in schwarz gekleidete Frau, neben der ein bulliger Hund trottete. Die Krähe flog sehr schnell von hinten auf die beiden zu, um sich dann im Sturzflug laut schreiend ihnen anzunähern. Aus der Entfernung schien es, als streifte sie beinahe Frau und Hund im Vorbeiflug mit ihren Flügelspitzen. Vergeblich versuchte die Hundeführerin, den Vogel durch heftige Armbewegungen zu verscheuchen, während der Hund unbeeindruckt schien. Die Angriffe wurden wiederholt, immer wieder steiler Anflug unter „Gebrüll“, und es hätte dazu gepasst, wenn die Krähe im Vorbeiflug mit ihrem Schnabel auf den Kopf der Frau oder des Hundes gehackt hätte. Das tat sie dann aber doch nicht. Erst als die beiden unter ständigen Attacken etwa 60 Meter zurückgelegt hatten, drehte die Krähe ab.
Ich nehme an, dass der Vogel einen guten Grund für diese Attacken hatte, trotzdem kamen Assoziationen zu Hitchcocks Klassiker „Die Vögel“ auf.
Das Bild der hageren jungen Frau in schwarz, die leicht nach hinten gebeugt mit ihren Armen wedelte, und der unbeeindruckt angreifenden Krähe prägte sich mir jedenfalls ein.
Wie es so ist mit starken Bildern, können sie allzu leicht als Metaphern missdeutet werden, zum Beispiel in diesem Fall als die Natur, die sich gegen das Eindringen der Menschen wehrt. So einfach ist es aber nicht. Die Natur steht den Menschen nicht gegenüber, sondern die Menschen sind selbst Bestandteil der sogenannten Natur. Wir sind Tiere, und das ist jetzt gar nicht abwertend zu verstehen. Und viele der anderen Arten haben ihre Lebensweisen, ihren Alltag, mit unserer Lebensweise, unseren Produkten und Abfällen verbunden. Wir leben zusammen, wobei es auch auf individueller Ebene zu Konflikten kommen kann – wie in diesem Fall.
Den Vorfall konnte ich nicht fotografieren oder filmen. Ihm sei etwas friedlicheres gegenübergestellt. Heckenrosen.
 
2025-11-25 um 16.19.40 

Dreiundsechzigster Tag

Facebook drängt dazu, sich eher kurz zu fassen, noch mehr, eine Meinung abzusondern, sich irgendwie zu positionieren. Am besten so, dass es für möglichst viele anschlussfähig ist. Bei allen Vorzügen, die Social Media haben, ist das doch auch eine Verführung, der sich zu entziehen nicht leicht ist.
Meinungen sind vor allem etwas für den Gefühlshaushalt, für die schnelle Erleichterung. Für das Verstehen der Welt sind sie nur mäßig nützlich. Einige halte ich mir, denn auch ich muss meine spontanen Gefühle bei der Wahrnehmung von Nachrichten kanalisieren. Das konsequente Einhalten einer großen Distanz zu den Meldungen gelingt oft, aber nicht immer.
Schwieriger ist, eine Haltung zu erarbeiten, die handlungsfähig macht, ohne den Zwang zu erzeugen, sich ständig äußern und positionieren zu müssen. Dazu braucht es einmal eine gewisse Demut. Das Bewusstsein, in diese Welt eingebettet zu sein, ohne sie jemals ganz verstehen zu können. Neugierig zu sein, ohne aus allem Neuen, das man erfährt, gleich kurzschlüssig eine Nutzanwendung ziehen zu wollen. Weiter recherchieren, obwohl alles klar zu sein scheint. Das ist kontraintuitiv, erfordert also Anstrengung und Übung. Und es erfordert eine sorgfältige Auswahl, womit zu beschäftigen sich lohnen könnte.
Manchmal gelingt´s, manchmal misslingt´s. Von wem stammt dieser weise Spruch, man sollte nicht alles glauben, was man so denkt? Ich habe nachgeschaut, es soll der kluge Komiker Heinz Erhardt gewesen sein. Freunde meiner Eltern kutschierten uns mit ihrem Merzedes in den 1960er-Jahren im Sommer durch halb Europa. Dabei liefen unter anderem Heinz Erhardt, die Münchner Lach- und Schießgesellschaft und anderes Kabarett bzw. Comedians aus einer höheren als der untersten Schublade. Ging mir zwar auf die Nerven, war aber immer noch besser, als die Alten hätten sich ständig miteinander unterhalten oder gar sich bemüßigt gefühlt, mir die Landschaft zu erklären.
Apropos Landschaft: Eine meiner Lieblings-Minilandschaften ist unser leicht verwilderter Vorgarten.
 
2025-11-25 um 16.24.31

Vierundsechzigster Tag

Es wird empfohlen, beim Saunabesuch auf das Wacheln zu verzichten. Die erste der Einschränkungen, die bei mir ernsthaft Kopfschütteln auslöst und die mir als wesentliche Einschränkung meiner Lebensqualität erscheint. In der Homesauna zumindest werde ich mich nicht daran halten.
Was die wahren Änderungen sein werden, die die „heiße Phase“ der Pandemie überdauern bzw. wie sich die Welt und der Alltag nachher umgruppieren werden, ist weiterhin unklar. Die großen Veränderungen werden hintenherum kommen, und (fast) niemand wird sie so vorausgesagt haben. Das hat etwas mit der Komplexität der Welt zu tun, klar. Und damit, dass Voraussagen seriös immer nur sehr begrenzt gemacht werden können. Und dass wir die eigentlich großen Änderungen zumeist erst dann in ihrer Bedeutung erkennen, wenn sie schon geschehen sind. Retrospektiv also. In einigen Jahren werden wir es also wissen, was die Gesellschaft 2020 bewegt haben wird. Auch beruhigend.
Heute hatten wir an der Bertha von Suttner Privatuniversität den Akkreditierungsdialog mit den Gutachter*innen zum Bachelor Soziale Arbeit und zum Master Transformatives Inklusionsmanagement. Ein Frage-Antwort-Spiel mit klugen und interessierten Gesprächspartner*innen. Trotzdem: Es ist eine Prüfungssituation, und solchen gelassen zu begegnen, werde ich in diesem Leben wohl nicht mehr lernen.
Fotografiert habe ich heute nichts, also muss eine Mohnblume aus dem Archiv herhalten. Ist aber eh erst einige Tage alt.
 
2025-11-25 um 16.30.43